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Das Logo des Nachrichtenmagazins "Spiegel" an der Zentrale in Hamburg
© AFP/Johannes Eisele
Update

Fall Claas Relotius: Reporter täuschte Leser offenbar mit Spendenaufruf

Der "Spiegel" will gegen seinen Ex-Reporter Claas Relotius Strafanzeige erstatten. Der neue Chefredakteur kündigt Aufklärung und Konsequenzen an.

Das Nachrichtenmagazin "Spiegel" hat am Samstag weitere Vorwürfe gegen seinen früheren Reporter Claas Relotius publik gemacht. Demnach hat Relotius nicht nur große Teile seiner Texte erfunden, sondern womöglich auch Spendengelder veruntreut. Leser hätten dem "Spiegel" mitgeteilt, Relotius habe von seinem privaten E-Mailkonto Lesern Spendenaufrufe geschickt, um Waisenkindern in der Türkei zu helfen. Das Geld sollte auf sein Privatkonto überwiesen werden.

Derzeit sei noch unklar, wie viele Spender sich auf diesen Aufruf meldeten und wieviel Geld schließlich zusammenkam. Der Redaktion sei die Spendenaktion nicht bekannt gewesen. Auch sonst gebe es bislang keine Hinweise, dass sich Leser deswegen an den "Spiegel" gewendet hätten. Der "Spiegel" kündigte an, alle gesammelten Informationen der Staatsanwaltschaft im Rahmen einer Strafanzeige zur Verfügung zu stellen.

Anlass des Spendenaufrufs war ein Text von Relotius über ein syrisches Geschwisterpaar. Bruder und Schwester lebten angeblich als Waisenkinder in der Türkei auf der Straße. Inzwischen stehe die Richtigkeit des Textes in Zweifel. Der "Spiegel" stützte sich auf Aussagen des türkischen Magnum-Fotografen Emin Özmen, der Relotius bei der Recherche zu diesem Text zeitweise begleitete und eines der Kinder, den Jungen, fotografierte.

Dem Fotografen zufolge hat Relotius die Biografie des Jungen gefälscht und stark dramatisiert. Die von Relotius beschriebene Schwester des Jungen kennt Özmen nicht, der Junge habe keine Schwester, auf die die Beschreibung zutreffe. Der "Spiegel" prüft, ob die Person der Schwester womöglich komplett erfunden sei.

Den Ausgang seiner Spendenaktion habe Relotius selbst in einem kürzlich erschienenen Reporter-Sammelband namens "Wellen schlagen" fortgeschrieben. Darin berichtet er, dass er in mühevoller, monatelanger Arbeit die Kinder zu einer Ärztefamilie nach Niedersachsen habe bringen können, die die beiden adoptiert habe. "Dabei handelt es sich offenbar ebenfalls um eine Fiktion", schreibt der "Spiegel". Relotius sei derzeit für aktuelle Stellungnahmen nicht erreichbar.

"Haben uns von Relotius zu sehr einseifen lassen"

Der designierte "Spiegel"-Chefredakteur Steffen Klusmann kündigte derweil Konsequenzen aus dem Fall Relotius an. "Relotius ist es gelungen, sämtliche im Haus üblichen Sicherungsmechanismen zu umgehen und außer Kraft zu setzen", schrieb Klusmann in einer Mitteilung. "Wir als Macher des 'Spiegel' müssen einräumen, dass wir in einem erheblichen Ausmaß versagt haben."

"Wir haben uns von Claas Relotius zu sehr einseifen lassen. Im Umgang mit dem Kollegen waren wir intern so blauäugig wie wir das bei Recherchen nie akzeptieren würden", schrieb Klusmann. Und weiter: "Relotius haben wir so ziemlich alles geglaubt."

"Selbst wenn Teile seiner Geschichten zutreffen, sind sie gespickt mit Erdachtem", so Klusmann. "Die Geschichten sind als journalistisches Produkt wertlos."

Klusmann bat um Entschuldigung und kündigte eine konsequente Aufklärung und Schritte zu einer Neuaufstellung an. "Einer Marke mit der Autorität des 'Spiegel' darf ein solches Versagen nicht passieren, das ist hochnotpeinlich und dafür können wir uns nur schämen - egal wie genialisch Relotius das alles eingefädelt haben mag", schrieb der neue Chefredakteur. Im Januar werde Auflärungskommission ihre Arbeit aufnehmen. Die Aufarbeitung werde Zeit brauchen, das gehe nicht in ein paar Tagen oder Wochen.

"Wer Verantwortung zu tragen hat, wird sie tragen", schrieb Klusmann. "Der Vorteil am Fall Relotius ist: Der Vorgang ist so irre, so dreist und so absurd, dass einem die Verfehlungen im Nachhinein geradezu ins Gesicht springen. Das sollte die Auflärung erleichtern." (Tsp)

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