Arte-Film übers Frauenwahlrecht: "Die Hälfte der Welt gehört uns"
Als Frauen vor hundert Jahren das Wahlrecht erkämpften: Arte-Film porträtiert Streiterinnen für die Gleichberechtigung
Vor hundert Jahren errangen Frauen in Europa das Wahlrecht. Für diese Gleichstellung mussten Vorkämpferinnen zahlreiche Barrieren überwinden, die man sich heute kaum noch vorstellen kann. Ein Arte-Dokudrama erinnert an die unterschiedlichen Strategien von vier namhaften Feministinnen aus England, Frankreich und Deutschland.
„Die Hälfte der Welt gehört uns“ würdigt die Pioniertaten von Emmeline Pankhurst, Marguerite Durand, Anita Augspurg und Marie Juchacz. Deren wechselvollen Kämpfe wurden schon in Dokumentationen und Spielfilmen erzählt. Dabei wurden die Suffragetten aber nur als Einzelkämpferinnen porträtiert. Annette Baumeister hat einen neuen Zugang zu dieser Thematik gefunden. Die Fernsehautorin, bekannt durch ihre Dokumentation „Stasi auf dem Schulhof“, spiegelt die Biografien der Vorreiterinnen geschickt ineinander. Feminismus wird so als internationales Phänomen fassbar. Greifbar wird vor allem die vertrackte Lage von Frauenrechtlerinnen, der um die Jahrhundertwende zwischen allen Stühlen saßen. Pfarrer hielten sie für sündhaft, Parteibonzen für hysterisch, Professoren für dumm. Und in den Augen der Arbeiter galten sie als unliebsame Konkurrenz.
Ausgangspunkt des Films ist ein Interview, das die Fotografin, Schauspielerin und Juristin Anita Augspurg im Jahr 1919 einem fiktiven Journalisten gibt. Der Reporter ist nicht prinzipiell gegen das Frauenwahlrecht. Als Mann aus sozial niederen Verhältnissen hat er jedoch Vorbehalte gegenüber der wohlhabenden Aktivistin. Zwischen den beiden entbrennt ein hitziger Disput. Es geht um Klassengegensätze und den ersten Weltkrieg, der den Feminismus radikal ausbremste: Haben Männer nicht im Schützengraben den Kopf hingehalten, derweil Frauen zu Hause saßen? Mit Engelszungen setzt Anita Augspurg ihrem verbitterten Gesprächspartner auseinander, warum beispielsweise das geltende Eherecht eine Frau nach der Heirat faktisch enteignet. Und warum Frauen, die ohne männliche Begleitung in der Öffentlichkeit angetroffen werden, als Prostituierte gelten. Aus heutiger Sicht ist das alles sonnenklar. Doch für den Journalisten des Jahres 1919 ist es, als hörte er einem Alien zu. Er versteht zwar die Worte, aber die Zusammenhänge bleiben ihm fremd.
Frauen an vielen Fronten
Im Zuge ihrer nuancierten Argumentation verweist Augspurg immer wieder auf die Projekte ihrer Mitstreiterinnen. In Rückblenden erzählt werden so die Geschichten von Emmeline Pankhurst, die in England Bomben warf, von Marguerite Durand, die in Paris die feministische Zeitung „La Fronde“ gründete, und von der SPD-Abgeordneten Marie Juchacz, die am 19. Februar 1919 als erste Parlamentarierin eine Rede vor der Weimarer Nationalversammlung hielt. Mit diesem vielstimmigen Diskurs macht der Film nachvollziehbar, an wie vielen Fronten Frauen kämpfen mussten.
Nicht ganz zu überhören sind die didaktischen Untertöne des Streitgesprächs, in dem die namhafte Kino- und Fernsehdarstellerin Johanna Gastdorf als Anita Augspurg auftritt. Auch mit der reißerisch anmutenden Darstellung des Hungerstreiks, bei dem Esther Schweins in die Rolle der britischen Radikalfeministin Pankhurst schlüpft, gerät das Dokudrama an seine Grenzen. Trotz gewöhnungsbedürftiger Spielszenen vermag „Die Hälfte der Welt gehört uns“ jedoch zu überzeugen. Der Film ist differenziert recherchiert und führt lebhaft vor Augen, dass der Kampf um das Wahlrecht nur der Kulminationspunkt einer systematischen Benachteiligung von Frauen in allen Lebensbereichen ist.
"Die Hälfte der Welt gehört uns", Arte, Dienstag, 20 Uhr 15; die ARD zeigt eine 90-minütige Version am 26. November
Manfred Riepe
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