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Exklusive deutsche Inhalte, damit wollen die TV-Sender den Streaming-Konkurrenten Paroli bieten.
© RTL/TV Now

Späte Aufholjagd: Deutsche TV-Sender nehmen Netflix & Co. ins Visier

TV Now und Joyn: Wie RTL und ProSiebenSat1 den Kampf mit den Streaming-Giganten aufnehmen.

Besser spät als nie, so könnte der Elan gewertet werden, mit dem die beiden großen deutschen Privatsenderfamilien RTL und ProSiebenSat1 gerade versuchen, im weiter wachsenden Markt der Streamingdienste den Anschluss zu finden. Gut fünf Jahre nach dem Start von Netflix und dem Video-Angebot von Amazon Prime in Deutschland könnte aber genauso gut gesagt werden: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Haben die deutschen Sender aus Angst vor Kannibalisierung der TV-Aktivitäten möglicherweise zu lange zugesehen, wie die US-Dienste insbesondere in den jungen Zielgruppen die Marktanteile immer weiter ausgebaut haben, bevor RTL und ProSiebenSat1 nun TV Now beziehungsweise Joyn zur Toppriorität für dieses Jahr, wenn nicht für die nächsten Jahre erkoren haben? Sicher ist, dass vor allem die Zuschauer unter 30 inzwischen mehr streamen als fernsehen. Und auch die Älteren geben immer mehr Geld dafür aus, sich zeit- und ortsunabhängig unterhalten zu lassen. Für sie ist es nicht mehr die Frage, ob sie ein Streaming-Abo abschließen, sondern eher: wie viele?

Fest steht aber auch, dass die Zeit des Abwartens für die Privatsender endgültig vorbei ist. Die RTL-Gruppe hat im vergangenen Dezember ihre Streamingaktivitäten unter TV Now zusammengefasst. Neben einem werbefinanzierten Angebot gibt es seither einen kostenpflichtigen Teil, in dem es wie bei der Streamingkonkurrenz exklusive Inhalte gibt. Zudem können dort Sendungen aus der RTL-Familie zum Teil vor der Ausstrahlung abgerufen werden. Mit 4,99 Euro im Monat ist das RTL-Angebot dabei deutlich günstiger als Netflix & Co., zudem will TV Now besonders mit deutschen Inhalten punkten. Die Neuinterpretation von „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“ gehört bislang zu den sehenswerten Höhepunkten, aber auch exklusive internationale Lizenzeinkäufe wie „Agatha Christie: Die Morde des Herrn ABC“ mit John Malkovich und Rupert Grint sowie die Romanverfilmung von „Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert“ können potenzielle Abonnenten locken. Im Juli startet als nächstes Serienangebot „Feud – Die Feindschaft zwischen Bette und Joan“ mit Susan Sarandon und Jessica Lange. TV-Now-Abonnenten können zudem die Pay-Sender RTL Crime, RTL Passion, RTL Living und GEO Television streamen.

Das Ziel: Local Hero werden

Das Ziel steht fest: „Wir möchten mit massenattraktiven Inhalten mittelfristig den Local Hero unter den Streaming- Diensten in Deutschland aufbauen“, lautet die Ansage aus Köln. Im März kam TV Now laut Agof-Fernsehforschung auf 5,3 Millionen Unique User. Die Zahl der zahlenden Kunden belief sich im ersten Quartal in Deutschland und Holland auf 1,15 Millionen, wie RTL dem Tagesspiegel sagte. Die Aufholjagd lässt sich die Sendergruppe einiges kosten. Pro Jahr fließt über eine Milliarde Euro in Inhalte. „Darüber hinaus hat unser Gesellschafter RTL Group angekündigt, allein für die Streaming-Angebote insgesamt 350 Millionen Euro in den kommenden Jahren zusätzlich zu investieren.“

Joyn will zum Start auf die dritte Staffel von „Jerks“ mit Christian Ulmen (rechtes Bild, rechts) und Fahri Yardim setzen.
Joyn will zum Start auf die dritte Staffel von „Jerks“ mit Christian Ulmen (rechtes Bild, rechts) und Fahri Yardim setzen.
© ProSiebenSat1/Joyn

Während sich die deutschen Nutzer von TV Now bereits ein Bild von dem Streamingangebot machen können, befindet sich ProSiebenSat1-Konkurrent Joyn, an dem Discovery als Partner beteiligt ist, seit Kurzem in der Beta-Phase. Gestartet werden soll im Juli. Joyn setzt auf ein Freemium-Modell. Zum einen wird es kostenfreie Inhalte wie das Live-TV-Programm und Abrufangebote mit Werbung geben. Hinzu kommt exklusive Preview-Ware, die Joyn-Nutzer kostenfrei bereits vor der TV-Ausstrahlung sehen können. „Im Bereich des Live-Streamings gibt es ein solch umfassendes Angebot mit privaten und öffentlich-rechtlichen Sendern bisher nicht“, verspricht ProSiebenSat1. „Joyn macht das Leben der Nutzer einfacher, indem die Plattform als einziger Anbieter in Deutschland und bereits zum Launch mehr als 50 Free-TV-Sender unter seinem Dach vereint“, ist die Sendergruppe überzeugt. Ein hohes Maß an Bedienerfreundlichkeit ist das eine, das andere sind Partnerschaften – auch über die Grenzen des dualen Systems hinweg. Eine Kooperation mit dem ZDF existiert bereits, mit der ARD befindet sich Joyn in Verhandlungen, offenbar in weit fortgeschrittenem Stadium: „Wir sind in sehr guten Gesprächen mit der ARD und sind sehr zuversichtlich, dass wir die Sender der ARD zum Launch im Sommer auf der Plattform haben werden“, sagte ein Sprecher dem Tagesspiegel. Der Joyn-Vorläufer 7TV erreicht derzeit dabei 3,3 Millionen User, seit 2017 ist er damit um rund ein Drittel gewachsen.

Es wird aber auch einen kostenpflichtigen Premium-Bereich geben – zu dem dann auch die Bezahlinhalte von Maxdome und Eurosport gehören sollen. Der Start des Premiumangebots ist für den Winter vorgesehen, wie Joyn auf Anfrage mitteilte. Es soll sich um ein Monatsabo zu einem „äußerst attraktiven Preis“ handeln. Wie viel ProSiebenSat1 in Joyn investieren will, wollen die Münchener indes nicht verraten.

Mit "Jerks" zum Joyn-Start

Und welche Inhalte stehen konkret auf dem Programm von Joyn? Bislang bekannt sind die dritte Staffel der Erfolgsserie „Jerks“ mit Christian Ulmen und Fahri Yardim sowie als exklusive Preview die neue Serie „Die Läusemutter“. Das Content-Portfolio soll kontinuierlich ausgebaut werden, man werde mit bekannten lokalen Gesichtern zusammenarbeiten, heißt es. Ende 2019 werden auch Originals wie „Check Check“ mit Klaas Heufer-Umlauf und „Frau Jordan stellt gleich“ mit Katrin Bauerfeind exklusiv bei Joyn folgen.

Ein „Germany’s Gold“ – also die Kooperation von allen vier großen TV-Anbietern in Deutschland einschließlich RTL, wie sie vor Jahren schon angedacht wurde – scheint hingegen unwahrscheinlich. Dagegen spricht auch die eigenständige Digitalstrategie von RTL. Das gilt somit entsprechend für eine Beteiligung an der vom ARD-Vorsitzenden Ulrich Wilhelm beworbenen EU-Supermediathek. Nur in einem sind sich alle einig: Noch länger sollte niemand warten, der es mit den großen US-Diensten aufnehmen will – vor allem weil mit Apple, Disney und Warner die nächsten Konkurrenten in den Startlöchern stehen.

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