TV-Talk "Anne Will": Der Kampf um den Begriff Gerechtigkeit
Wie gerecht geht es zu in Deutschland? Anne Wills Gäste debattierten das Kernthema der SPD im Wahlkampf.
Neben bekannten Dauergästen sollen in Talkshows immer mal unbekannte Leute aus der Bevölkerung eben diese Bevölkerung repräsentierten. So kam Ende Januar, als Martin Schulz zu Gast war, die Kassiererin und Betriebsrätin Maurike Maaßen zu „Anne Will“. Am Sonntagabend war sie dort erneut eingeladen, zur Frage nach dem Wahlkampfthema soziale Gerechtigkeit: „Malt Rot-Rot hier schwarz?“ wollte Will wissen. Gut einen Monat vor der Bundestagswahl am 24. September scheint Gerechtigkeit kaum gefragt. Oder?
Im Januar hatte die SPD Martin Schulz gerade einstimmig zum Kanzlerkandidaten nominiert, unter frischer Brise segelte die Partei aus dem Hafen der Hoffnungslosigkeit. Dass eine schwere Seereise bevorstand legte Maurike Maaßen damals dar. Die 54jährige aus Essen-Altendorf ist aktiv in der Gewerkschaft Verdi und kämpft in ihrer Branche vor allem für Tarifverträge. An den Kassen beschäftigt der Einzelhandel ausschließlich Teilzeitkräfte, bundesweit rund drei Millionen, meist weibliche. Die Arbeitszeiten sind zu unregelmäßig, um Zweitjobs zu erlauben, die Rente am Ende bedeutet Armut. Bei 24 Wochenstunden verdient Maurike Maaßen 1100 Euro netto im Monat. „Zu wenig!“ hatte Martin Schulz gesagt. Ende April diskutierte er im Essener Gewerkschaftshaus mit Maaßen und fünfzig ihrer Kollegen über deren Lage. Erschüttert versprach er Einsatz für bessere Bedingungen.
Hartz IV als Prüfstein
Seither ist viel geschehen. Vor allem: Das SPD-Schiff dümpelt. Nach dem fulminanten Aufbruch Anfang des Jahres sanken die Chancen auf das Beenden der Ära Merkel. Trotz evidenter Erfolge wie dem Mindestlohn, der SPD-Slogan für soziale Gerechtigkeit scheint nicht in gleicher Weise zu verfangen wie das beruhigende CDU-Versprechen auf ein „Weiter-so“. Geht es, provozierte Anne Wills Frage, dem Land schlicht besser als SPD und Linke behaupten?
Dieses Mal war Maurike Maaßen neben Sahra Wagenknecht, Armin Laschet und Olaf Scholz zur Runde geladen. Anne Will eröffnete mit den zwei ungleichen Tableaux, die die großen Parteien malen: Ein rotes Bild vom armen, ein schwarzes Bild vom reichen Deutschland. Nur acht Prozent der Deutschen seien laut einer arbeitgebernahen Studie „unzufrieden mit ihrer wirtschaftlichen Lage“. Alles gut?
Sarah Wagenknecht hielt dagegen: Noch nie gab es so viele Milliardäre in Deutschland, 70 Prozent der Bürger wünschten sich mehr Gerechtigkeit, die Hälfte aller habe Abstieg bereits erfahren und müsse heute „mehr rechnen“. Wechselstimmung bleibe aus, da die SPD keine echten Änderungen anstrebe, vor allem bei Hartz IV. Armin Laschet, stellvertretenden Vorsitzender der CDU und neuer Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, pries den Erfolg von Gerhard Schröders Agenda 2010; davor habe es massenhafte Arbeitslosigkeit gegeben.
Essentiell für den Aufschwung, erklärte Olaf Scholz, sei auch die Einführung des Mindestlohns, der Wohlbefinden und Kaufkraft von vier Millionen Arbeitnehmern vergrößert hat. Doch litten in sämtlichen Industrieländern bis zu vierzig Prozent der Arbeitnehmer unter finanziellen Einbußen. Mehr müsse sich tun, etwa was Löhne, Mieten, Kitagebühren betrifft. Aber, aber, warf Laschet ein, trotz allem ist Deutschland aus der Finanzkrise von 2008, 2009 besser hervorgegangen als andere Staaten.
Mag ja alles sein, sprach Sahra Wagenknechts Miene, und erst recht ihre Stimme. Gerecht, beharrte sie, sei die Gesellschaft deshalb noch lange nicht, denn: „Der Anteil derer, die trotz Arbeit arm sind ist in keinem anderen Land so groß wie in Deutschland.“ Deregulierende Gesetzgebung ermögliche mehr Lohndrücker, mehr Leiharbeit, mehr befristete Verträge, geringere Renten, untertariflich bezahlte Jobs: „Das ist kein Erfolgsmodell!“ Und das sei so gewollt. Höflich aber deutlich konterte Olaf Scholz, dass dies „gewollt“ wäre, sei pure „Verschwörungstheorie“.
Mehr Gerechtigkeit wollen alle
Hier nun kam Maurike Maaßen wieder ins Spiel. Nach ihrem Treffen mit Martin Schulz im April hatte Maaßen erklärt, sie empfinde ihn als glaubwürdig, und wer unentschieden sei zwischen SPD oder CDU, der solle Schulz seine Stimme geben. Sie selber werde allerdings Die Linke wählen, deren Mitglied sie inzwischen ist. Am Sonntag bei Anne Will zeigte sie sich enttäuscht darüber, dass „immer nur geredet“ werde, „aber nicht von Hartz IV, nicht von der Agenda“, nicht von der „grausamen Realität“ vieler in Armut Lebender.
Tarifverträge für den Einzelhandel, bekräftigte Olaf Scholz, müsse es geben. Und wer sein Leben lang gearbeitet hat, der solle von seiner Rente leben können. Jedoch warnte er davor, die Erfolge der Agenda-Strategie auszublenden, die Millionen zurück in Lohnarbeit gebracht hat. Hier sieht Sahra Wagenknecht das Haupthindernis für Rot-Rot-Grüne Koalition auf Bundesebene: Die SPD, beklagt sie, wolle nicht zurück zur echten Sozialdemokratie. Die Linke stünde zur Verfügung, sobald es „eine Möglichkeit gibt, den Sozialstaat wiederherzustellen.“ Im Ton hanseatisch zurückhaltend, in der Sache klar und scharf verwahrte sich Olaf Scholz gegen das Diffamieren seiner Partei als „nicht sozialdemokratisch“. So komme man nicht zueinander. Hartz, das wurde auch hier mehrfach deutlich, so heißt der rot-rote Prüfstein.
Genug Gerechtigkeit gibt es schon? Nein, zu der Ansicht ließ sich keiner der Gäste hinreißen. Alle wollen mehr Gerechtigkeit, auch Armin Laschets CDU. Doch wie die Wege aus der wachsenden Asymmetrie der Vermögen und Chancen aussehen sollen, bei der Frage scheiden sich die Geister, nicht allein beim mangelnden Besteuern von Riesenvermögen und Millionenerbschaften.
Erfolglose Wohnungssuche in Köpenick
Illustriert wurde das gegen Ende der Sendung am Problem steigender Mieten in den großen Städten. Hierfür stieß Katja Lorenz als Kurzgast dazu, alleinerziehend mit drei Kindern ist sie auf Wohnungssuche in Berlin-Köpenick und repräsentierte den Mittelstand unter dem Druck und Eindruck aktueller Gentrifizierung. Für 100 Quadratmeter im Berliner Stadtteil Köpenick zahlt die Mieterin im Moment 930 Euro, warm. Bei 2500 Euro Einkommen und hohen Fixkosten bleiben für jeden in ihrem Haushalt 250 Euro im Monat übrig - für Schuhe, Kleider, Essen, Schulsachen, Ausflüge. Es reicht nur so eben gerade. Jetzt soll die Miete erhöht werden, die Berlinerin sucht eine neue Wohnung und findet keine bezahlbare. Ins Umland kann sie nicht ziehen, der Vater der Kinder hat Aufenthaltsbestimmungsrecht, er will die Sprösslinge in seiner Nähe behalten. Zwei Jobs hält die Mutter bereits, einen dritten kann sie zeitlich kaum annehmen.
Was sagen Sie zu Frau Lorenz? Anne Wills Frage überraschte Armin Laschet, der sekundenlang nach Worten kramte und auswich ins Allgemeine, es müsse etwa generell mehr getan werden für den Erwerb von Wohneigentum. Die Will-Redaktion ließ Passagen aus Nordrhein-Westfalens Koalitionsvertrag zwischen CDU und FDP einblenden, der eher Vermieter anspricht. Die Mietpreisbremse greife nicht, man werde „die Kappungsgrenzenverordnung und die Mietpreisbegrenzungsverordnung aufheben“ heißt es dort. Geltender Mieterschutz reiche aus, zusätzlicher Regelungen bedürfe es nicht. Eingeblendet wurde auch der Kommentar der NRW-SPD, es handle sich um eine „marktradikale Entfesselung“ des Wohnungssektors. So durfte Laschet das nicht stehenlassen und pries ein Mischkonzept aus sozialem Wohnungsbau und privater Förderung.
Gelassen wies Olaf Scholz dagegen auf seine Erfolge. Bei aller Bescheidenheit, Hamburg habe mit über 60.000 Sozialwohnungen mehr von ihnen gebaut als jedes andere Bundesland.
Freilich konnte keiner der Politiker eine Wohnung für die Familie Lorenz aus dem Ärmel zaubern. Diesen Versuch unternahm Anne Will selber am Schluss mit dem Aufruf ans Publikum, wer der sympathischen Frau eine Wohnung in Köpenick anbieten könne, der möge sich beim Sender melden. (Im Ansatz zeigte sich vielleicht ein neues Fernsehformat: „Mieter sucht Wohnraum“.)
Eins wurde klar, und teils schön konkret: Die Frage der Gerechtigkeit ist keineswegs vom Tisch. Deutschlands im weltweiten Vergleich gigantischer Wohlstand wartet darauf, klüger, besser, sozialer verteilt zu werden.