SPD-Kanzlerkandidat: Martin Schulz, der Kämpfer
Von den Umfragen für die Bundestagswahl abgeschrieben, sucht der SPD-Kandidat seine Chance auf Deutschlands Marktplätzen. Ein Besuch in Bochum.
Erst ist es nur ein kleiner Fleck, kaum mehr als ein dunkler Punkt auf seinem blauen Hemd, rechts von der Krawatte. Aber der Fleck wächst. Man kann in der nächsten Stunde dabei zusehen, wie er immer größer wird. Zum Schluss klebt das ganze Hemd am Mann.
Sonnabend 15 Uhr, Auftritt Martin Schulz am Rand des Bochumer Kneipenviertels. Drückende Hitze liegt über dem Platz, die großen Scheinwerfer auf der Bühne heizen die Luft noch weiter auf. Die Rede von der „heißen Wahlkampfphase“, an diesem Nachmittag im Pott muss man sie wörtlich nehmen.
Der SPD-Kanzlerkandidat schont sich nicht. Martin Schulz (61) ackert und schwitzt. Er muss ja nicht nur tropischen Temperaturen trotzen in diesen letzten Wahlkampfwochen. Für den Merkel-Herausforderer geht es in den nächsten 28 Tagen vor allem darum, den Eindruck zu widerlegen, die Sache sei längst entschieden. In den Umfragen ist die SPD weit abgeschlagen, liegt rund 15 Prozentpunkte hinter Merkels Union. In seiner eigenen Partei spielen manche schon die Niederlage durch. Oder spekulieren offen darüber, sich noch einmal in die große Koalition zu retten.
Dass er sich davon nicht unterkriegen lässt – das muss Schulz nun mit jedem seiner Auftritte zeigen. Ich kann es, ich will es, und deshalb werde ich es auch – das ist die Botschaft, die er in den kommenden vier Wochen nicht nur verkünden, sondern auch verkörpern will. Schulz – der Kämpfer.
Der Kandidat redet nicht in abstrakten Phrasen
In Bochum, vor 2000 Menschen, gelingt das schon ziemlich gut. Der Kandidat redet nicht in abstrakten Phrasen über das SPD-Wahlprogramm. Er lässt Menschen auftreten, die Nöte und Wünsche haben, erzählt von seinen Begegnungen. So macht er Forderungen anschaulich. Es zählt zu seinen Stärken, dass Schulz eine Sprache spricht, die auch Bochumer Stahlwerker gut verstehen. Die Frage ist nur, ob sie ihm allein deshalb schon die Kanzlerschaft zutrauen.
Am Rednerpult kommt Schulz jetzt immer mehr in Fahrt, greift Merkel immer wieder scharf an. Die CDU-Chefin sage einer ganzen Generation den Kampf an, wenn sie sich weigere, die Zukunft der Rente vor der Wahl zu klären. Rente, Bildung, Investitionen, das sind die Themen, bei denen er die Kanzlerin stellen will. Die Angriffe gipfeln in dem Vorwurf, Merkel habe die Aufrüstungspläne von Donald Trump „abgenickt“, ohne deutsche Bürger zu fragen. „Aufrüstung a la Trump oder Zukunftsinvestitionen mit der SPD“ – darum gehe es am Wahltag.
Das kommt an. Immer wieder klatscht die Menge. Sogar der Jubel der Jungsozialisten, die hinter dem Kandidaten Plakate schwenken („Jetzt ist Schulz“) wirkt an diesem Nachmittag in Bochum nicht aufgesetzt. Kann der Herausforderer doch noch etwas reißen? In der SPD spüren sie, dass etwas passiert ist mit dem Kandidaten. Noch vor wenigen Wochen schien Schulz schwer verunsichert. Die Kritik an seiner Person, die sinkenden Umfragen, die halblaut geäußerten Zweifel mancher Funktionäre machten ihm zu schaffen. Das habe sich spätestens mit dem Beginn der heißen Wahlkampfphase grundlegend geändert. Schulz habe sein Selbstbewusstsein zurückgewonnen, heißt es jetzt im Willy- Brandt-Haus.
Martin Schulz wirkt in diesen Tagen wie ausgewechselt
Tatsächlich wirkt Schulz in diesen Tagen wie ausgewechselt. Mag sein, dass viele den Herausforderer schon abgeschrieben haben nach dem Motto: Strampel’ nur, das wird eh nichts mehr – er stemmt sich dagegen.
Rausgehen und die Unentschlossenen überzeugen, darauf setzt der frühere Europapolitiker und darauf setzt die SPD. 40 Schulz-Auftritte in 25 deutschen Städten, manchmal zwei pro Tag, sollen am 24. September die Wende bringen. „Die Wahlkampftour unseres Kanzlerkandidaten ist darauf angelegt, dass er seine Stärken ausspielen kann, nämlich seine Authentizität und seine Leidenschaft“, sagt Parteivize Ralf Stegner. Das seien genau die Eigenschaften, über die Amtsinhaberin Merkel nicht verfüge. „Das macht uns zuversichtlich, dass wir in den letzten Wochen noch zulegen können.“
Es wäre nicht das erste Mal. In der SPD denken sie jetzt gerne an die Aufholjagd bei der Wahl 2005 zurück. Damals kämpfte sich ein weit abgeschlagener Gerhard Schröder über die Marktplätze der Republik bis auf einen Prozentpunkt an Merkels Union heran, die lange als sicherer Siegerin galt. So soll es nun auch im Jahr 2017 laufen.
Der 61-Jährige sucht die Nähe zu den Bürgern
In Bochum zieht Schulz nach 40 Minuten sein Jackett aus. Er macht das nicht nur, weil es so heiß ist. Die Leute können ruhig sehen, dass der SPD-Kanzlerkandidat schwitzt, dass er sich für sie ins Zeug legt. Da gibt einer alles und ist sich für nichts zu fein: Die Zuschauer sollen mit dem Gefühl nach Hause gehen, dass der Mann aus Würselen einer von ihnen ist.
Nach einer Stunde kommt Schulz zum Schluss. Er ruft: „Für unsere Überzeugungen will ich Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland werden.“ Auf dem Platz zerstreut sich die Menge, aber der Kandidat ist noch lange nicht fertig. Er gibt Autogramme, lächelt breit für jeden, der ein Selfie mit ihm machen will.
Manchen Politikern wäre so viel Nähe lästig. Schulz aber sucht sie. Vielleicht braucht er den Zuspruch, zieht daraus Kraft. Das Interesse ist ihm Beweis genug dafür, dass die Demoskopen falsch liegen müssen. Wenn man ihn fragt, ob er in diesem Wahlkampf zwei Realitäten gebe, eine der Meinungsforscher und eine der Marktplätze, sagt der Kandidat: „Es gibt keine doppelte Realität. Sie sehen ja, was hier los ist. Die Veranstaltungen sind voll, da kommen Tausende.“ Soll heißen: Für ihn, den früheren Fußballer, liegt die Wahrheit nur auf dem Platz, dem Marktplatz.
In einer früheren Version des Artikels hieß es, Schulz werde noch 25 Großauftritte absolvieren. Die SPD hat mitgeteilt, dass es 40 sind. Auf der Anmeldeseite der SPD für Journalisten waren am Sonntag nur 25 Veranstaltungen aufgelistet.
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