Should I stay or should I go: Kreuzberg oder Karibik?
Ein eiskalter Drink, Liegestuhl, Sandstrand – das ist doch ein Traum. Doch Vorsicht: Reiselust reimt sich auf Urlaubsfrust. Unser Autor ist hin- und hergerissen.
ZEHN GUTE GRÜNDE, DAHEIM ZU BLEIBEN
1. Hierbleiben heißt ja nicht hierbleiben, auf diesem Stuhl, in diesem Büro. Hierbleiben heißt, zum Beispiel: Ausflüge machen. Es gibt das Schöne, der Erholsame und das Interessante auch in der näheren Umgebung, vor allem in Berlin. Sogar das Exotische. Das Dong-Xuan-Center ist ja zum Glück nur teilweise abgebrannt.
2. Wie viel Stress das Hierbleiben doch erspart. Keine ewig langen Autofahrten oder engen Flugzeugsitze, keine verratzten Hotelzimmer, die völlig anders aussehen als das Foto im Internet, keine kaputten Klimaanlagen, keine Fehlkäufe auf fragwürdigen Märkten, keine Ehekrisen auf schattenfreien Wanderwegen bei 38 Grad. Vor allem wer kleine Kinder hat, kann ein bewegendes Lied vom Stress des Reisens singen. Kleine Kinder brauchen das Wegfahren sowieso nicht.
3. Null Risiko. Totale Freiheit. Wenn du an den nahen See fährst, und er ist toll, dann fährst du übermorgen halt wieder hin. Andernfalls nie wieder. Wenn es dir am fernen Urlaubsort nicht gefällt, bist du aufgeschmissen. Das Wetter ist unerfreulich? Macht nichts, es gibt so viele Museen und Ausstellungen. Jeden Morgen darfst du dich entscheiden, wer du sein willst, ein Faulenzer, ein Mensch mit Bildungshunger, ein Flaneur, ein Bastler, ein Picknicker, was auch immer.
4. Die Stadt ist leerer als sonst, bevölkert fast nur von Touristen, ein anderer Rhythmus wird gespielt. Das ist nicht die Stadt, die du kennst, es ist eine andere, die Sommerstadt, leichter, weicher. Und du denkst: All diese Leute kommen hierher, reisen tausende Kilometer, um diese Stadt zu sehen, ich aber lebe hier. Ein gutes Gefühl.
5. Geld ist schon ein Argument. Sogar wenn du dir das Wegfahren mühelos leisten könntest. Kein normaler Mensch kann sich alles leisten. Andere Ausgaben können wichtiger sein, oder sogar schöner. Das neue Fahrrad wäre zum Beispiel auch ein Gewinn an Lebensqualität, ganzjährig.
6. Das Hierbleiben ist eine Herausforderung. Ein psychologischer Abenteuerurlaub. Schaffst du es, ein Leben ohne Pflichten zu führen? Hier und jetzt? Schaffst du es, ohne den Veränderungsdruck des Reisens, ein anderes Leben zu führen, den Takt zu verlangsamen oder zu ändern? Weißt du noch, wer du bist und sein willst, ohne dass die Pflichten an deiner Stelle diese Frage beantworten?
7. Du kannst dich natürlich auch um Dinge kümmern, die liegen geblieben sind. So manches wolltest du schon so lange regeln, es war nie Zeit dazu. Wohnung verschönern, einen Schrebergarten suchen, Bücher sortieren, alte Freunde wiedersehen. Ah, die Patientenverfügung, die liegt schon ewig unausgefüllt herum. Jetzt geht es. Und am Ende des Urlaubs fühlst du dich irgendwie frei, das schlechte Gewissen ist weg, die Freizeit fühlt sich freier an, weil verschiedene Dinge jetzt endlich geregelt sind.
8. Und wenn du einfach das Hierbleiben unterbrichst? Last Minute, drei Tage Paris oder Ibiza oder so was? Oder mal mit dem neuen Rad an die Ostsee? Ganz nach Laune und Gelegenheit? Ohne große Vorplanung? Klingt das etwa nicht gut?
9. Einfach nur schlafen. Einfach nur nichts tun. Warum sollte man dazu wegfahren?
10. Du willst oder musst noch eine ganze Weile in Berlin leben? Der Winter ist hart. Im Sommer verliebst du dich wieder in diese Stadt, die dann ihr Leben auf die Straßen und Plätze verlagert. Berlin kann im Sommer so entspannt und so südlich wirken wie Italien. Überall Wasser, Grün und Dolce Vita. Dieses gute Berlin-Gefühl wird dich durch den Winter tragen. Wenn du den größten Teil des Sommers nicht in Berlin verbracht hast, wenn du die gute Seite der Stadt nicht in vollen Zügen genossen hast, wird der Winter doppelt so hart. Im Sommer hierbleiben, im Winter wegfahren, das wäre ideal.
... und die zehn Gründe, weit wegzufahren
ZEHN GUTE GRÜNDE, WEIT WEGZUFAHREN
1. Das Wegsein hat für sich betrachtet schon einen Wert. Sogar dann, wenn du deinen Urlaub in einem löchrigen Zelt auf einer nordenglischen Müllhalde verbringst, wo es ständig regnet. Du bist immerhin raus aus deinem Alltagstrott. Du verbringst deine Tage anders als üblich, das ist garantiert gut für die Synapsen im Gehirn. Du kriegst eine Ahnung davon, wie es wäre, ein anderer zu sein.
2. Sich einmal im Jahr fragen: Was will ich? Wo will ich sein? Was für ein Typ bin ich? Was würde ich tun, wenn ich frei wäre?
3. Das Wetter. Du kannst es dir einfach aussuchen. Sonderwünsche sind erlaubt. Falls du im Juli Schnee haben willst – so was geht auch. Es gibt Gletscher, die Anden!
4. Das Ankucken von sonderbaren, angeblich sehenswerten Bauwerken, das Schnuppern von andersriechender Luft, das Essen von anderem Essen (der Italiener in Italien ist nicht zu vergleichen mit dem deutschen Italiener), all dies versetzt in einen milden Rauschzustand. Manche werden durch diese Droge lethargisch, andere drehen auf, beides okay.
5. Schwierig wird es nur, wenn ein reisendes Paar auf die Droge völlig verschieden reagiert. Das erste gemeinsame Wegfahren liefert überhaupt wertvolle Hinweise für die Paartauglichkeit des jeweiligen Paares und ersetzt in seinem Erkenntnisgewinn monatelanges Herumscharwenzeln zu Hause. Ein altes, eingespieltes Paar dagegen kann sich in einer ungewohnten Umgebung von ein paar Routinen lösen, vielleicht sogar zur Romantik zurückfinden, doch, solche Fälle gibt es.
6. Es ist einfach toll, in warmem Wasser zu schwimmen, ohne gleich an den Beckenrand eines Thermalbads zu stoßen. Oder zu wandern, ohne dass alle paar Kilometer eine Ansiedlung kommt. Oder mit Haien zu schwimmen, falls man drauf steht. Du kannst Sachen machen, die du machen willst, aber zu Hause nicht machen kannst.
7. Du machst Sachen, die du auch zu Hause machen könntest, aber zu Hause nie machen wirst. Zum Beispiel möchtest du endlich mal wieder ein paar Bücher lesen. Oder viel mehr Sport treiben als sonst. Zu Hause schaffst du das nicht, vergiss die Illusionen, sei realistisch. Zu Hause schüttelst du den Alltag nicht einfach so ab.
8. Reisen. Unterwegs sein. Jeden Tag woanders. Neues sehen. Neues lernen. Menschen treffen, die du nur genau dort treffen kannst. Was für ein Mensch wärst du heute, wenn du nie gereist wärst?
9. Die Urlaubsromanze. Die Urlaubsromanze ist zeitlich begrenzt, in der Regel leidenschaftlich und findet außerhalb des Urlaubsortes nur in den seltensten Fällen eine für beide Beteiligten zufriedenstellende Fortsetzung. Zu Hause würde Frau Dr. von Wattenscheid, Ehrenmitglied des großen Rates der Wattenscheider Wollindustrie, ganz gewiss nichts mit einem 23-jährigen Surflehrer anfangen, auch wenn er hübsch ist, um Himmels willen. Aber es könnte doch in vielerlei Hinsicht interessant sein, dies einmal für 14 Tage am Gardasee auszuprobieren. Achtung: Familienurlaube sind für solche Experimente gänzlich ungeeignet, davon ist abzuraten.
10. Die Erinnerungen. Fast jeder sammelt sie, es sind unzählige Fotos auf Rechnern oder Handys, Mitbringsel, Eintrittskarten, doch man schaut sich das alles nur selten an. Die verschiedenen Jahre bleiben oft durch die Reisen in Erinnerung, die Reisen haben in der Rückschau dem Leben eine Struktur gegeben wie sonst nur die Geburtstage der Kinder oder die Umzüge in andere Städte. Mallorca 1986, Südtirol 1991 – niemand erinnert sich, was in diesen gleichförmigen Jahren außer dem Quallenbiss und dem Gewitter an der Steilwand sonst noch geschah. Der Drang, Erinnerungen zu bewahren, ist der Beweis dafür, wie wertvoll das Wegfahren ist.
Lesen Sie hier Martensteins 11 Top-Tipps für den Sommer in Berlin
1. Strandbad Wannsee: Achtung, Zugereiste! Den Berliner und die Berlinerin in vollentspanntem Zustand lernt Ihr nirgendwo besser kennen als hier. Außerdem hat es was von Urlaub am Meer. Aber an welchem Meer gäbe es Bademeister, die über Lautsprecher rufen: „Komm sofort zurück in den Nichtschwimmerbereich, sonst brech ich dir die Beine“?
2. Radtour: Die Tour um den Wannsee, durch Gatow und Kladow, vielleicht mit einem Abstecher nach Sacrow, gehört zum Sommer wie die Badehose und die Baustelle. Von Kladow nimmt man die BVG-Fähre und kommt so zur S-Bahn-Station Wannsee.
3. Zoo Eberswalde: Es tut mir leid für Berlin, aber dieser Zoo im Umland ist schöner, kompakter und kindgerechter als die großen Berliner Zoos. Der perfekte Familienausflug. Ich sage nur: freilaufende Erdmännchen!
4. Piccolo Mondo: Abends isst man draußen, da gibt es unzählige gute Adressen. Dieser Italiener im Westend, mit Terrasse, gehört zu meinen Lieblingen, altes West-Berlin in stilistischer Vollendung, beste Küche, perfekter Service, nicht überkandidelt und nicht überteuert (Charlottenburg, Reichsstraße 9). Und erst die Gäste! Mal kommt Frank Zander, mal hat ein Gast seinen Papagei mitgebracht, mal feiern Berliner Russen äußerst intensiv das Abitur ihrer Tochter, natürlich mit dem Berliner Standard-Notenschnitt 1,0.
5. Freiluftkino Hasenheide: Ein Sommer ohne Kinonacht im Freien wäre auch irgendwie blöd. Dieses Kino gehört, zusammen mit dem im Volkspark Friedrichshain, zu den schönsten. Und den Park gibt’s gratis dazu, der bietet vor dem Film schönstes Kreuzköllner Lokalkolorit. Zur Einstimmung empfehle ich den lustigen, liebenswerten Film „Hasenheide“ von Nana Rebhan.
6. Waldbühne oder Open Air Classic: Ein Open-Air-Konzert gehört auch dazu.
7. Eisdielen: Die Leistungsdichte und die Zahl der Berliner Eishersteller sind inzwischen geradezu überwältigend. Ich kenne natürlich nur einen Bruchteil der Branche. In der Kreuzberger Graefestraße befinden sich zwei Topadressen, das „Anna Durkes“ und die „Eismanufaktur“. Vorher könnte man, am Sonnabend, den Kunsthandwerker-Markt am Maybachufer besuchen. Das Wort „Kunsthandwerk“ klingt bieder, ich weiß, aber der Markt ist gar nicht so.
8. Bootstour: Da gibt es auch ein Riesenangebot, mit Essen an Bord oder ohne, kurz oder lang. Muss man gemacht haben. Noch besser wäre es allerdings, den Bootsführerschein zu machen, das ist relativ einfach, nicht teuer und lässt sich an zwei, drei Wochenenden realisieren. Danach mietet man sich ein Boot mit Kajüte und springt in der Mitte des Müggelsees ins Wasser.
9. Biergärten: Der „Prater“ in der Kastanienallee ist die beste Adresse in Mitte, angeblich der älteste Biergarten der Stadt und ein guter Einstieg in das rege Nachtleben dieser Gegend. Serviert werden Berliner Spezialitäten, etwa Eier in Senfsoße. Sehr nett ist auch das „Café am Neuen See“, trotz des Namens gehört es eher zu den Biergärten. Es liegt im Tiergarten und nahe am Zoo, es gibt einen Ruderbootverleih. Der „Zollpackhof“ liegt besonders spektakulär direkt gegenüber dem Kanzleramt, ganz sicher eine Lieblingsadresse für viele Geheimagenten.
10. Tempelhofer Feld: Extrem beliebte Erholungszone für alle, die Weite suchen oder auf Skaten stehen. Wenig Schatten, also nichts für die ultraheißen Tage. Hier findet man den skurrilsten Minigolfplatz der Stadt, errichtet von Künstlern. Geöffnet ist er von 13 bis 20.30 Uhr.
11. Sommerroman: Ein perfekter Sommerroman sollte nicht von der Hitze handeln, sondern eine kühlende Wirkung entfalten. Er darf nicht zu schwierig zu lesen sein, aber ein bisschen Niveau ist erlaubt, oder? Und in Berlin als Berliner lese ich im Sommer schon mal keinen Berlin-Roman, das sollen die Touristen machen. Mein Tipp: „Zone One“ von Colson Whitehead. Spielt meist in New York, der Stadt, die früher so ähnlich war wie Berlin heute.
Harald Martenstein