Legendärer dänischer Architekt im Porträt: Jan Gehl: Ein Architekt kämpft für menschenfreundliche Städte
Melbourne, Sao Paulo, New York oder Moskau – Jan Gehl wird gefeiert wie ein Popstar. Dabei hält der Architekt nichts von spektakulärem Bauen. Er betrachtet und plant Städte aus der Sicht eines Fußgängers.
So also sieht ein Zirkuspferd aus: 79 Jahre alt, eher schmächtig, ganz in Schwarz. Architektenkluft. Jan Gehl weiß, wie er sein Publikum packen kann. Mit trockenem Humor, dänischem Englisch, anschaulichem Bildmaterial und einfachen Erkenntnissen. Er spricht so, dass alle ihn verstehen. Schließlich will er seine Zuhörer anstecken, etwas zu verändern.
Als Lobbyist für die menschenfreundliche, und das heißt: abwechslungsreiche, gemischte, kleinteilige, sichere Stadt, tingelt Jan Gehl durch die Welt. Gestern London, morgen Australien, heute Berlin. Beim 20. Berliner Gespräch des Bundes Deutscher Architekten – „Das urbane Gewissen. Wege aus der Ökonomisierung der Stadt“ –, ist er der Star des Tages. Das gute Gewissen der Stadtplanung hat New York, Sao Paulo, Istanbul, Mexico City, Sydney, Singapur und, sein besonderer Liebling, Melbourne beraten.
Beim Mittagessen stehen die Fans Schlange
Dort würde er glatt hinziehen. Wenn er nicht schon in Kopenhagen zu Hause wäre. Dass seine Heimat regelmäßig an der Spitze der lebenswertesten Städte der Welt steht und zum Mekka der Radfahrer und Fußgänger wurde, daran hat der Architekt wesentlichen Anteil. Nicht durch aufsehenerregende Bauten, von spektakulärer Star-Architektur hält er nichts, sondern durch seine Forschung über das, was dazwischen passiert, und die die Stadt in die Praxis umsetzte. Als die dänische Kulturministerin sich mit ihrem Lieblingsbuch fotografieren lassen sollte, hielt sie sich Gehls „Städte für Menschen“ vor die Brust. In 21 Sprachen wurde das Buch übersetzt, jetzt endlich auch auf Deutsch, beim Jovis Verlag.
Zum Essen kommt Gehl in der Mittagspause nicht. Zu viele Fans. Die Leute stehen Schlange. Im Café nebenan schwärmen sich zwei Teilnehmerinnen der Veranstaltung, junge Frauen, gegenseitig von Jan Gehl vor. Als sie erfahren, dass man ihn gleich interviewt, kreischen sie los, als wäre von einem Rockstar die Rede. Für sie ist er das auch. Ein Guru, der Schluss machte mit der autogerechten Stadt.
Als Ersatz für den verpassten Lunch bestellt der Guru sich jetzt einen „Opfelstrudel“ zum Kaffee, nimmt erst mal den Anruf seines Enkels entgegen und lobt sich dann selbst. Ja, das Zirkuspferd ist eitel. Mehr stolz als empört erzählt er, dass seine Auftraggeber im Osten, in Moskau oder Kasachstan, immer ihn haben wollen, „den großen alten Elefanten“, und die jüngeren Mitarbeiterinnen seines Büros, die er ihnen empfiehlt, ablehnen.
Dass Gehl nicht aussieht wie ein großer alter Elefant, hat damit zu tun, dass er praktiziert, was er von den Städten fordert: Macht Platz für Fahrradfahrer und Fußgänger, und zwar schönen und sicheren Platz, dann bewegen sie sich auch. Laufen und Radfahren, so sein unschlagbares Argument, sind gut für die Umwelt, die eigene Gesundheit und die der Gesellschaft. Weil die Menschen einander tatsächlich begegnen. Und das vor allem ist für Gehl der Sinn der Städte, heute mehr denn je, da die Leute viel verstreuter leben, vereinzelter – in manchen Orten beträgt der Anteil der Einpersonenhaushalte 50 Prozent –, und digitaler. Kommunikation und Interaktion zu fördern, muss seiner Meinung nach das Ziel guter Planung sein. Zum Beispiel durch sanfte Übergänge zwischen privatem und öffentlichem Raum wie Vorgärten, die zum Schwatz animieren. Oder, das kann er nicht oft genug sagen, durch die Belebung der Erdgeschosse. Abweisende, öde, geschlossene Fassaden, blinde Fenster treiben Passanten in die Flucht. Und Leere, so Gehl, lädt nicht ein, sie zu füllen, sondern schreckt ab.
Schnurgerade Straße ermüden, bevor man losgelaufen ist
Bei Vorträgen und in Büchern arbeitet er viel mit Fotos; die Kamera hat er immer dabei. Wenn man sieht, auf welch schmale Bürgersteige Fußgänger gequetscht werden, wie viele Stromkästen und andere Hindernisse ihnen in den Weg gestellt werden, muss er nicht mehr viel erklären.
Radler haben inzwischen eine lautstarke Lobby. Nur Fußgänger scheinen noch immer unbeachtete, unbekannte Wesen zu sein. Dabei sind sie die wichtigsten Verkehrsteilnehmer. In Berlins Innenstadt haben sie mit 35,5 Prozent den größten Anteil an zurückgelegten Wegen insgesamt. Laufen ist schließlich die natürliche Fortbewegungsart des Menschen, kostet nichts, kommt ohne technische Hilfsmittel aus, ist gesund. Warum macht man es dem Fußgänger dann nicht schön, etwa mit gewundenen statt schnurgerader Straßen, die ermüden, bevor man überhaupt losgelaufen ist?
Er fordert Bänke, Poller, Stufen und Stühle
Es ist zudem die flexibelste Fortbewegungsart. Der Fußgänger kann jederzeit stehenbleiben, wann und wo es ihm gefällt, ohne erst einen Parkplatz suchen zu müssen, kann sich niederlassen.
Vorausgesetzt, dass es was zum Niederlassen gibt. Also, so Gehl, müssen Sitz- und Stützgelegenheiten her. Bänke, auf die man sich setzen kann, die nicht nur schick sind, sondern auch bequem, und wo man was zu gucken hat. Am besten Menschen. Denn nichts, glaubt Gehl, ist für den Menschen interessanter. Da kommen selbst Vögel und Bäume nicht mit. Auch das Schaffen beiläufiger Gelegenheiten ist für ihn Zeichen guter Stadtplanung: Poller, auf denen man sich abstützen, Stufen, auf die man sich setzen kann. Manchmal, sagt Gehl, sind Stühle, wie man sie aus Pariser Parks kennt, sogar noch besser als Bänke, kann man sie doch nach Bedarf zu kleinen Gesprächsgruppen zusammenstellen, sich Sonne und Schatten suchen. Ein guter Platz funktioniert nach dem Schneeballsystem. Wo Kinder spielen, Erwachsene sich amüsieren, gesellen sich andere hinzu.
„The Human Scale“ heißt eine Dokumentation, in dessen Mittelpunkt Gehls Ansatz steht. Der menschliche Maßstab bedeutet vielerlei. In punkto Tempo: fünf Stundenkilometer. Das, so hat er mit seinen Studenten gemessen, ist die Durchschnittsgeschwindigkeit des Homo Sapiens. Dieser kann mal schneller sein – im Winter zum Beispiel oder in New York –, mal langsamer – im Sommer etwa oder in Mexiko. Der langsamste Mensch, den sie je gemessen haben, war ein Polizist auf Streife, der schnellste ein Geschäftsmann, der zu einem Meeting rannte. Doch die biologische Geschwindigkeit ist 5 km/h. Sehen, riechen, hören – „all unsere Sinne sind darauf geeicht, bei dieser Geschwindigkeit wahrzunehmen, was interessant ist.“
Was seiner Ansicht nach gar nicht geht: den Menschen einfach aus dem Weg zu schaffen. Ihn auf Brücken hoch zu jagen oder in finstere, stinkende Unterführungen zu verbannen, bloß damit der Autoverkehr ungestört mit hoher Geschwindigkeit fließen kann. Gehl plädiert für mehr Zebrastreifen auf ebener Erde, für fußgängerfreundliche Ampelschaltungen. „Das Tempo des Verkehrs zu reduzieren, macht die Atmosphäre einer Stadt freundlicher, weniger stressig.“ Die Zahl der Alten und Kinder auf Straßen und Plätzen ist für ihn der beste Indikator für die Menschenfreundlichkeit eines Ortes.
Er kritisiert die "Bird-shit-Architektur"
Mensch und Stadt sollten sich Gehls Meinung nach auf Augenhöhe begegnen. Daher ist der Däne entschiedener Gegner von Hochhäusern, die noch dazu heftige Windströme und Schatten in die Straßen bringen. Ab dem 5. Stock gehöre man nicht mehr zur Stadt, sondern zum Luftraum. Kommunikation mit den Erdwesen: unmöglich. „Hochhäuser sind des faulen Architekten Antwort auf die Frage nach Dichte,“ hat Gehl in einem Interview erklärt. Paris, Barcelona oder Venedig zitiert er als Beispiele für extrem dicht bevölkerte, aber lebenswerte Städte. „Warum? Weil ihre Architekten Dichte auf intelligentere Weise geschaffen haben als durch schlichtes Übereinanderstapeln von Etagen.“ Etwa durch kompakte Bauweise im Wechsel mit schönen Plätzen.
„Anstelle von Plätzen“, sagt er jetzt im Gespräch, „haben wir heute Rasen und überdimensionierte Leerräume“. Schuld sind seiner Meinung nach „die Modernisten“, auf die er immer wieder eindrischt. Sie hätten die großen Städte aus der Vogelperspektive geplant statt aus der des Erdmenschen. „Bird-shit-Architektur“ nennt er das Ergebnis. Früher, so Gehl, wurden erst Straßen und Plätze angelegt, dann die Häuser drumherum gesetzt. Die Modernisten hätten erst Hochhäuser als Solitäre hingesetzt und dann – Gehl manövriert mit Salz- und Pfefferstreuer, um seine Thesen zu illustrieren – „haben sie aus dem, was übrig blieb, irgendwas gemacht“.
Gehl redet im Fußgängertempo
Die Grundlage traditioneller Stadtplanung war das menschliche Maß. Historische Plätze sind so groß, wie das Auge reicht: 100 Meter. „Der soziale Horizont.“ Auf die Entfernung kann das Auge noch was erkennen. Auf die Distanz von 25 Metern kann man andere Menschen tatsächlich hören und richtig sehen, wird emotional angesprochen.
Gehl redet im Fußgängertempo. Er lässt sich Zeit und nicht unterbrechen. Spricht unaufgeregt, selbst wenn er polemisiert. Die meisten Architekten erklärt er zu „einem Haufen verantwortungsloser Künstler, die was bauen, ein Foto davon machen und weiter ziehen. Sie warten nicht, um herauszufinden, ob es funktioniert.“
Dass er einen anderen Weg einschlug, liegt an zwei Frauen. Die eine war seine eigene. Als Psychologin stellte sie ihm eine einfache Frage: Warum kümmert Ihr Architekten euch eigentlich immer so stark um die Gebäude und so wenig um die Menschen? Was, wollte sie wissen, macht die Architektur mit ihnen?
Menschen stehen gern mit dem Rücken zur Wand
Die andere prägende Figur hieß Jane Jacobs, „die Großmutter humanistischen Planens“, so Gehl. 1961, er hatte gerade sein Architekturstudium abgeschlossen, veröffentlichte die New Yorkerin ihren Klassiker „Tod und Leben großer amerikanischer Städte“. Jacobs kämpfte gegen die Kahlschlagsanierung gewachsener Viertel und die Planer, die dem Auto zuliebe alles platt machten, was im Wege stand. Sie plädierte für die gemischte, kleinteilige Stadt, wie sie es aus dem damals bedrohten Greenwich Village kannte. Sie beobachtete ihre Nachbarschaft, wie die Leute den Raum nutzten, was funktionierte, was nicht. „Sie war die Erste, die aus dem Fenster guckte“, erzählt Gehl, erstaunt und voller Bewunderung.
Genau das hat er dann auch gemacht: Aus dem Fenster geguckt. Beobachtet. Zum Beispiel, dass Menschen gern mit dem Rücken zur Wand stehen, um sich, geschützt, beim Warten oder Telefonieren mit Interesse dem Geschehen zuzuwenden. Oder wie sie die vorgegebenen Wege ignorieren und sich selber den kürzesten Weg bahnen. Trampelpfade sollten die Basis der Verkehrsplanung bilden. „Die Stadt sollte sich den Bedürfnissen und Gewohnheiten der Menschen anpassen, nicht umgekehrt.“ Seit einem halben Jahrhundert betreibt er mit Studenten und Mitarbeitern empirsche Forschung.
„Der Fußgängerpapst“, wie die „Süddeutsche“ ihn titulierte, ist Pragmatiker. Wenn Verkehrsplaner meinen, das Problem der Vererstopfung damit lösen zu können, dass sie noch mehr Straßen anlegen, dann, weist er ihnen nach, irren sie sich. Im Gegenteil: Je mehr Straßen und Parkplätze, desto mehr Autos. „Verkehr verhält sich wie Wasser,“ hat er mal erklärt. „Er geht dahin, wo es Platz gibt. Und wenn es keinen Platz gibt, versiegt er.“
Verschmitzt berichtet er von dem pfiffigen Kopenhagener Verkehrsplaner, der einfach stillschweigend Parkplätze wegnahm („Wenn man nicht parken kann, kann man nicht fahren.“). Drei Prozent im Jahr. „Wenn man das ganz langsam macht und nicht darüber redet, merken die Leute das nicht.“ Ein weiteres seiner Geheimrezepte: Bloß nicht Autos verteufeln, alle Maßnahmen nicht als feindlichen, sondern positiven Akt darstellen. So macht es auch Gehl, der Optimist.
Die Einstellungen der Menschen müssen sich ändern, sagt er
Berlin will er keine Ratschläge erteilen, dazu kenne er die Stadt viel zu wenig. Aber auf der rasanten Taxifahrt zum Flughafen Tegel („der Typ ist ein Schießgewehr“) ist er ziemlich entsetzt von den Fahrradwegen. In Kopenhagen, wo inzwischen 50 Prozent zur Arbeit radeln, sind nicht nur die Radwege breiter und stärker farblich abgesetzt: Sie sind auch mit kleinen Bordsteinkanten, von Bürgersteigen und Parkstreifen getrennt. Und werden im Winter als Erstes vom Schnee befreit.
Zwei Australier schreiben gerade eine Biographie über Gehl. Der Titel: „Changing mindsets – changing cities.“ Das ist es, was Gehl, neben der genauen Beobachtung des Alltags, empfiehlt: daran zu arbeiten, die Einstellungen zu ändern. „Dann werden die Einstellungen die Städte verändern.“
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