Als Flaneur in Berlin unterwegs: Aus der Totalen
Wie Berlin aussieht, ist Einstellungssache. Eine Betrachtung über Vergangenes und Gegenwärtiges im gebauten Raum der Hauptstadt.
Heutzutage wird Berlin von Touristen geradezu überflutet. Dafür gibt es viele Gründe.
Dass diese Stadt wunderschön sei, kann man allerdings nicht sagen. Berlin ist seit Jahrzehnten kein Trümmerhaufen mehr, aber immer noch eine von der Geschichte verletzte Stadt. Jeder Ausländer, der sich nicht für die Folgen des Zweiten Weltkriegs interessiert, wird sich irgendwann fragen, was er zwischen Brandenburger Tor und Alexanderplatz eigentlich zu suchen hat und zu finden gedenkt.
Mehr als fünfundzwanzig Jahre nach der deutschen Einheit ist der einstige Prachtboulevard Unter den Linden immer noch – oder wieder – eine Baustelle. Und das neue Regierungsviertel kommt zwar groß und mächtig daher, ist aber nicht wirklich aufregend. Wer vor dem Reichstag steht, kann sich nicht mehr vorstellen, warum der mal angezündet wurde – und dass auf diesen Akt einmal Böses folgte.
Im ehemaligen West-Berlin sieht es nicht viel anders aus. Der Kurfürstendamm: auf den ersten Blick eine langweilige Einkaufsstraße. Allerdings eine besonders lange. Immer denkt man, dass da noch etwas kommt.
Als die Stadt noch geteilt war, wusste man: Irgendwann kommt dann die hässliche Mauer. Man stellte sich vor, dass es in der historischen Stadtmitte – im Ostteil – besser aussehen müsste. Was nicht der Fall war. Und die Karl-Marx-Allee, Prachtstraße der DDR, war nicht so prächtig. Die Steinwüste steht heute unter Denkmalschutz.
Als Kind des Kalten Krieges habe ich eine Mauer im Kopf
Früher, ja früher besuchte man als Tourist Ost-Berlin als eine real existierende Kuriosität, um am Abend erleichtert in die Freiheit zurückzukehren. Für uns aus dem Westen war die DDR schon damals ein Museum, in dem sich eine komische Welt zur Schau stellte.
Das heutige Berlin ist hip und cool, eine Stadt der totalen Gegenwart. Dennoch sieht man in Berlin nie, was man vor Augen hat. Sondern das, was einmal war. Und das, was einmal wird. Oder werden könnte. Die Stadt ist be- ständig in anderen Umständen: Umbau, Aufbau, Neubau und Zerfall. Ich gebe es zu: Als Kind des Kalten Krieges habe ich eine Mauer im Kopf. Und wenn ich keine Mauer im Kopf haben will, wende ich meinen Kopf hin und her. Dann habe ich eine Wende im Kopf
Sehe ich aber in die Gegenwart, wandern meine Augen im Stadtbild seit meinem Fahrradunfall in Berlin ständig von rechts nach links. Zu meiner eigenen Sicherheit. Ich möchte nicht noch einmal überfahren werden.
Die Fahrradfahrer sind in Berlin noch schlimmer als in meiner Heimatstadt Amsterdam und sie beanspruchen in der deutschen Hauptstadt – grünes Ampelmännchen hin, rotes Ampelmännchen her – immer das Recht des Stärkeren. Und doch zieht Berlin uns an wie ein Magnet. Nicht nur Touristen, sondern auch Deutsche aus der Provinz. Sie kommen, weil Berlin nun mal Berlin ist. Die Hauptstadt hat eine Atmosphäre wie keine andere deutsche Stadt. Ganz zweifellos. Eben weil diese Stadt so viele Narben aus der Vergangenheit hat, so viele Baulücken, Einschusslöcher und leere Plätze.
Deshalb entsteht in Berlin vieles, was nur hier entstehen kann: die vielen alternativen Szenen, eine Kultband wie „Einstürzende Neubauten“ und ein Drogenpark wie der „Görli“, in dem selbstverständlich „Null Toleranz“ herrscht. Daher die Sprüche von Hausbesetzern auf zerfallenen Altbauten: "Das Recht auf ein gescheitertes Leben ist unantastbar." Das ist Berlin. Wer sagt schon, dass eine Großstadt schön sein sollte?
Ohne Neu-Berliner gäbe es keine trendigen Viertel
Berlin ist ein Eldorado für Architekten und Designer. Schaffen sie mit ihren Neubauten, was sie schaffen sollten? Es ist leicht, sie zu kritisieren. Auf dem neu gestalteten Potsdamer Platz zeigt sich kein Leben, nichts ist wirklich originell. Dennoch sollte man nicht zu früh urteilen. Die neuen Luxusapartments dort haben schon ihre Qualitäten. Und ohne Gentrifizierung wird Berlin nie eine attraktive Stadt sein.
Neu gebaute Plätze brauchen ihre Zeit und gut betuchte Hipster, die erfolgreich und selbstgefällig in der Großstadt unterwegs sind. Solange dort noch einige alte Bäume Bodenhaftung haben, stimmt die Atmosphäre.
Auch die oft verhassten Touristen tun Berlin gut. Ohne sie würde die Stadtmitte leer sein. Und ohne Neu-Berliner gäbe es keine trendigen Viertel. Dort lässt es sich mit Theatern, Kulturzentren, Kneipen und Restaurants gut und großstädtisch leben. Dort – nicht in den Zentren – gibt es die richtige Mischung zwischen Alt und Neu. Und dort kann man das Gefühl bekommen, dass man sich auskennt – in der Stadt und im Leben.
Dennoch gibt es auch im Zentrum schöne Ecken. Mir gefiel der Platz neben dem Maxim-Gorki-Theater, kein Neubau, sondern ruhig und verschlafen. Ich fühlte mich tief in der russischen Provinz, mitten in der Großstadt, und zahlte auf die Terrasse des Restaurants Cum Laude für zwei Biere glatte fünf Euro. Wie zu alten Zeiten.
Wo die Geschichte besonders kräftig zugschlagen hat, rund um das Bode Museum zum Beispiel, und an der Oranienburger Straße sind viele Beispiele für gelungene Neubauten zu sehen. Sie sind nicht auffällig, aber sie laden zur Entdeckungsreise ein. Das gefällt mir. Moderne Architektur muss mit ihren Neubauten nicht spektakulär daherkommen, sondern etwas auf den zweiten oder sogar dritten Blick zu bieten haben.
So wie Berlin mehr zu bieten hat, wenn es langsamer voran geht. Dann ist da wirklich eine Atmosphäre, eine Atmosphäre, die man nie planen, nie neu bauen könnte. So etwas entsteht, oder es entsteht nicht. Das Gebot der Langsamkeit – auf dem Potsdamer Platz wurde es nicht beherzigt – heißt aber wohl auch, dass Berlin noch lange eine Baustelle bleiben wird.
Dirk-Jan van Baar ist Historiker und Publizist in den Niederlanden und schreibt unter anderem für die Tageszeitung "de Volkskrant". Er ist zurzeit Gast beim Tagesspiegel im Rahmen des Internationalen Journalistenprogramms IJP.