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Platz fürs Spiel. Nach den Ideen der Bostoner Architekten Höweler und Yoon können städtische Räume mehrfach genutzt werden – je nach Tageszeit.
© Höweler+ Yoon/Audi

New York: Mit dem Fahrrad in die Zukunft

Auto = Freiheit, das gilt in den USA. In New York ändert sich das gerade. Um jeden Zentimeter für Fußgänger, Radler, Autos und Bäume wird gerungen. Findet die Stadt ihr menschliches Maß? Ein Report zur Wahl des Bürgermeisters.

Wenn Alex Washburn sich morgens auf sein Fahrrad schwingt, dann hat er Brooklyn im Rücken und vor sich Manhattan. Er lässt die berühmteste Skyline der Welt auf sich zukommen, rollt ihr entgegen, zur Arbeit. Die geprägten Visitenkarten in seiner Tasche weisen ihn als „Chief Urban Designer at New York City Department of City Planning“ aus, den ersten Gestalter der Stadtplanungsbehörde.

Oft genug in den letzten Jahren, die ja die drei Amtsperioden unter dem Bürgermeister Michael Bloomberg waren, hat er sich als Teil einer städtischen Zeitenwende gefühlt, in der New York, die Stadt der Städte, sich plötzlich neu zu sortieren schien. „Pedestrians first“, lautete die Losung in seiner Verwaltung. Baumscheiben wurden bepflanzt. Mitarbeiter senkten Bürgersteige ab. Pinselten Fahrradwege auf die Straßen und richteten grüne Trassen ein. Bürger warfen Samenbomben und eroberten sich Räume zurück. Die „autogerechte Stadt“, die man in den 50er Jahren angestrebt hatte, wurde, so schien es, nach dem Maß des Menschen neu ausgerichtet.

Und was in Europa keinen erstaunen würde, ist im autogläubigen Amerika revolutionär. Zu viele hatten ihren ersten Sex im Auto. Autos sind Helden in Fernsehserien und Büchern, Amerikaner haben den Drive-thru sogar für Standesämter erfunden, und manche Bürger können kaum noch zu Fuß gehen.

Jeden Tag aufs Neue stiegen Hunderttausende in den Schlafstädten in ihre Autos, starteten die Motoren und verfolgten das Glück, das sie tagsüber in den Städten, abends und am Wochenende aber auf dem Land vermuteten. Die soziale Figur des Pendlers inspirierte Richard Yates und andere berühmte Literaten zu Meisterwerken der Gesellschaftsanalyse über das trügerische Glück der Vorstädte. Alle Straßen waren auf diese Art Wege zum Glück geworden. „Pursuit of happiness“ ist den Amerikanern fast 100 Jahre lang zu einer Verfolgungsjagd mit dem Auto geraten.

Aber jetzt: Detroit ist pleite. In der Wahrnehmung der Welt wird das Herz der Autoindustrie nun von urbanen Gärtnern beherrscht. Sie tun das Gleiche wie Michelle Obama hinter dem Weißen Haus. „Foodies“ ziehen Kürbis in der Stadt, wollen regionale Lebensmittel. In New York kann man seit diesem Sommer Fahrräder ausleihen und auf einer schnellen Fahrradspur am Ufer des Hudson von Manhattans Spitze in den Norden sausen und zurück. Am Times Square sitzen Passanten auf Stühlen. Die „High Line“, die alte Bahntrasse, die die Bürger der Verwaltung abgerungen und als Park eingerichtet haben, ist ein touristischer Erfolg und hat eine ganz neue, vorher nie gesichtete Gangart in New York eingeführt: das Schlendern. Das hatte sich auf den Bürgersteigen nie jemand erlaubt.

Verwaltungen, Autohersteller, Wissenschaftler sind derart verwirrt über diese neue Ausrichtung nach den Prinzipien des Teilens, des Weniger und des Persönlichen, Regionalen, dass sie Symposien und Laboratorien veranstalten, um zu erfahren, wohin sich die Städte entwickeln. Im Mai trafen sich die Visionäre der „Audi Urban Future Initiative“. Im Oktober kehrte das BMW-Guggenheim-Lab nach seiner Reise um die Welt zurück nach New York, wo die Ausstellung noch bis zum 5. Januar zu sehen ist.

„New Yorker sehen sich heute als Opfer von Robert Moses“, sagt Alex Washburn, nämlich des besessenen New Yorker Masterplaners, der ohne menschliches Gefühl die Stadt für die Bedürfnisse des Autos kalibriert habe. Moses plante New York von Anfang der 20er Jahre bis 1962 „autogerecht“. Was dazu führt, dass Manhattan zwar von Wasser umgeben ist, die Ufer allerdings bis vor kurzem kaum zugänglich waren, so überwölbt sind sie von Freeways, Causeways, Parkways, Expressways und Brücken.

Finanziert wurde das durch ein sich selbst befeuerndes System aus den 50er Jahren: „Das Benzin bezahlte die Straße.“ Je mehr Benzin verbraucht wurde, desto mehr Geld war aus der entsprechenden Steuer vorhanden. „Das ist die fatale Eigendynamik von Verkehrsprognosen“, sagt Washburn, die überall ähnlich funktionieren: Baut man eine breitere Straße, wird es für mehr Leute bequemer, mit dem Auto zu fahren. Der Anreiz für einen herrlichen, sich selbst antreibenden Kreislauf entsteht. Mehr Straßen, mehr Autos, mehr verbrauchtes Benzin. Das führt wiederum zu mehr Steuern und Geld für den Straßenbau.

Washburn ist Architekt und interessiert an alternativen Gesellschaftsmodellen. Er sympathisiert mit der Idee des Teilens, Urban Gardening und Fußgängern, kurz: dem Zuschnitt der Städte auf menschliches Maß. In seinem Büro konkretisiert sich die politische Idee der „grünen“ Stadt New York bis auf den Zentimeter. Und es wird bekanntlich um jeden einzelnen gekämpft. Eine durchschnittliche Straße in Manhattan sei 60 Fuß breit, also etwa 18 Meter: Zehn Fuß für Fußgänger, fünf für die Baumscheibe, 30 die Fahrbahn, fünf für die Baumscheibe, zehn für die Fußgänger. Auch Bäume haben in New York keinen Zentimeter mehr, als sie brauchen: Fünf Fuß haben sie als minimale Überlebensgröße ermittelt.

Von der Freiheit, ohne Verkehr zu joggen

Robert Moses wollte nicht wahrhaben, dass die Stadt irgendwann am Erfolg des Autos erstickt. Seine Durchschnittsgeschwindigkeit liegt in New York bei 17 Kilometern pro Stunde, Kutschengeschwindigkeit. Zu Recht fragen sich die Autohersteller, was das Auto hier noch leisten kann. Und unter welchen Umständen es überhaupt überlebensfähig ist, nachdem sie sich ja lange „in the business of freedom“ gesehen haben.

Es geht heute, sagt Alex Washburn, um einen völlig anderen Freiheitsbegriff: Die Freiheit der Wahl. Womöglich ist es eine Freiheit vom Auto. Die Freiheit, in der eigenen Stadt mitten auf dem Times Square auf einem Stuhl draußen zu sitzen. Die Freiheit, auf der „High Line“ ohne Verkehr zu joggen oder am Ufer des Hudson auf einer Bank zu sitzen. Diese Freiheit offeriert Einfachheit als Luxus.

So wie jetzt: Auf ein Rad steigen und nicht überfahren werden. Keine verriegelten Türen mehr, um sicher durch die Stadt zu kommen. Stattdessen: eigene Muskelkraft. Das Innere, das, was jeder aus sich selbst herausholt, sagt Washburn, das ist jetzt die „New Frontier“. Das Rad ist manchmal die schnellste Art, in Manhattan von A nach B zu kommen, vor allem seit es am Hudson den Waterfront Greenway gibt, bei dem man, ohne Straßen überqueren zu müssen, von der Spitze in den Norden hoch fahren kann.

Um die Verschiebung des New Yorker Lebensgefühls am eigenen Leib wahrzunehmen, biegt der Radfahrer auf der gewünschten Höhe in seine Straße ein und gleitet an den Autos vorbei. Weil das zwar langsam geht, alle anderen aber stehen, gewinnt die Fahrt etwas Majestätisches. Erhaben im Sattel thronend kann jeder die Parade der Blechkarossen abnehmen – mit ihrem uneingelösten Versprechen von Schnelligkeit und Status. Das Fahrrad ist jetzt das privilegierte Verkehrsmittel. Vorsprung durch Verzicht.

Und während man so dahingleitet, kann man sich darüber wundern, dass es so lange gedauert hat, bis die Bewohner sich nicht mehr von Experten sagen lassen, in welcher Stadt sie leben wollen. In New York kollidierte die Vorstellung der Menschen zum ersten Mal mit den Ideen von Moses und seiner autogerechten Stadt 1961, als sich unter der Ägide der Stadtsoziologin Jane Jacobs eine Bürgerinitiative für den Erhalt des Greenwich Village stark machte – und den Prozess gewann. Seit diesem Erfolg trauen sich Bürger, an den Verteilungskämpfen im öffentlichen Raum teilzunehmen. „Man braucht nur ein bisschen Farbe, um die Machtverhältnisse zu verschieben“, sagt Alex Washburn. Die Infrastruktur ist ja schon da. Die Fahrradspur lässt sich pinseln.

Richard Armstrong wird das langsam zu viel mit der kleinteiligen Mitbestimmung der Bürger, die „über jeden Aspekt des Lebens abstimmen wollen.“ Der 64-jährige Direktor des Guggenheim- Museums nennt das ein „Stammestum“, eine Naivität, wie er sie aus den 70er Jahren gar nicht kennt. Damals zog er aus dem Mittleren Westen hierher, die stärkste Erinnerung: dass alle New Yorker ständig von „space“ redeten. In Kansas bedeutete das der Weltraum da oben, in Manhattan der Raum um einen herum.

Die Ausstellung im Guggenheim will auf Probleme der Stadtentwicklung aufmerksam machen. „Wir wollen die Temperatur von Städten messen“, sagt Armstrong. Was bei dieser Messung sichtbar wurde: New York kommt ziemlich schlecht weg.

Immer wieder beschwerten sich Einwohner über die ihnen entfremdete Stadt, erzählt Armstrong, als das BMW-Guggenheim-Lab vor zwei Jahren zum ersten Mal in der Lower East Side eröffnete. Neue Immobilienprojekte, die für Anwohner zu teuer waren und die Preise in die Höhe trieben. Zu wenige öffentliche Räume, um die Gemeinschaft zu pflegen. Zu wenig Grün, um sich zu erholen. Zu wenig Mitgestaltung, wenn es um Parkflächen geht. Solche Beschwerden, betont die Ausstellung, seien produktiv. Sie kurbeln die Entwicklung von unten an. Richard Armstrong meckert nur über zwei Dinge: die Würstchenstände vor dem Museum und den Lärm in der Stadt. „Wenn ich Bürgermeister für einen Tag wäre, würde ich eine No-Noise-Policy erlassen.“

Mark Wigley, Leiter der renommierten Architekturfakultät der Columbia in New York, glaubt, dass Städte ein Konglomerat von sozialen Bedürfnissen und Chancen sind, geprägt von der Bewegung ihrer Bewohner und dem grundsätzlichen Versprechen, das jeder großen Stadt innewohnt und schon immer Menschen angezogen hat. Architektur sollte sich deshalb keinesfalls nur mit Häusern beschäftigen, sondern mit dem Zusammenspiel von Mobilien und Immobilien, dem Beweglichen und Unbeweglichen. Das mache eine Stadt aus. Der Fels braucht die Brandung, erst dann wird es spannend.

Es fällt natürlich leicht, aus dieser erhabenen Position heraus zu argumentieren, wenn man sich gerade in einer Bar im 18. Stock eines Hotels im Meatpacking District befindet, der Blick ungehindert zu Ellis Island streift, wo die ersten Hoffnungsvollen ankamen, die dieses New York mit aufgebaut haben, und noch dazu hinten an der Bar jederzeit ein inspirierender Drink zu haben ist.

Sechs Monate hat Wigley mit seinen Studenten darauf verwendet, herauszufinden, dass keine einzige der Prognosen, die offiziell über die Zukunft New Yorks getätigt wurden, eingetroffen ist. Und das Merkwürdige: Als es denn soweit war, war es allen egal. Trotzdem wagt er jetzt seinerseits eine Prognose. Der Weg in die Zukunft werde auf eine Art zurückgehen. „2050 werden wir wieder haben, was wir an alten Städten so geliebt haben: Nachbarschaften.“ Mark Wigley besitzt kein Auto. Er schätzt das, was die New Yorker sich in ihren Vierteln wünschen – Märkte. Nähe. Kontakt.

Ein Viertel der Amerikaner lebt in der Ostküstenregion, die sie „Boswash“ nennen und die von Boston bis Washington hinunterreicht. Wenn man ehrlich ist, befindet sich ein Großteil dieser Menschen tagsüber in den Städten, den Knotenpunkten. Am Tage verdoppeln sich zum Beispiel die Einwohner Bostons, der Tag teilt sich wie Ebbe und Flut in Rush-Hour und Off-Peak. So konnte das Auto „zur Determinante werden, nach der man in den großen Ostküstenstädten sein Leben richtet“, sagt die Architektin Meejin Yoon. Die Preise für einen Parkplatz sind minutiös gestaffelt und kosten so viel wie Hotels. Hotels empfehlen während der Rush-Hour für die Fahrt zum Flughafen die doppelte Zeit. Und vor den Städten liegen an den Pendlerstationen tagsüber stille Seen aus dem schimmernden Blech geparkter Autos.

Highways können eine "Shareway" sein

Gebündelter Verkehr soll Platz schaffen für die Menschen: ein "Shareway".
Gebündelter Verkehr soll Platz schaffen für die Menschen: ein "Shareway".
© Höweler+ Yoon/Audi

Man müsse die gesamte Region, die durch den Pendlerverkehr längst mit den Städten verwoben ist, wie eine große Stadt, eine Megacity betrachten, sagen die Architekten Eric Höweler und Meejin Yoon. Sie haben ein Modell entwickelt, mit dem die Region zu einem System verknüpft werden könnte, und damit einen Wettbewerb der „Audi Urban Future Initiative“ gewonnen. Man kann sich natürlich fragen, warum ein Autohersteller Entwürfe prämiert, bei dem das Auto an Relevanz verliert – und dann Journalisten einlädt, dies anzugucken. Vermutlich deshalb, weil es unvermeidlich ist. Weil es überall auf der Welt so deutlich ist, dass die Menschen in den Städten eine Umstrukturierung wollen.

Höweler und Yoon leben in Boston und ärgern sich regelmäßig darüber, dass ihr eigenes Auto immer lange auf einem Parkplatz steht und dort dann öffentlichen Raum privatisiert. „46 Prozent der 18- bis 24-jährigen Amerikaner würden sich heute für einen Internetanschluss statt für ein Auto entscheiden“, sagt Yoon.

Sie würde gerne die Idee des Teilens einsetzen für den Verkehr, ein Highway könnte ein „Shareway“ sein, der auf mehreren Ebenen ein Bündel an Nutzungen übereinander anbietet, damit für Verkehrswege nicht noch mehr Land verbraucht wird.

Die Architekten ahnen, dass sich die Zukunft irgendwie „zurück“ bewegt, und schielen ins alte Europa, wo die Radler Kopenhagens morgens auf großen Trassen Vorfahrt haben und auf grüner Welle ins Zentrum gelangen. Überhaupt das Zentrum: „Das Potenzial des Mittelstreifens ist städtisch unterschätzt!“ In Städten, in denen es um Zentimeter geht, könne man auch den bespielen. Man könnte auch den Platz zwischen den Häusern nach Tageszeiten verschiedenen Nutzungen widmen.

Übermorgen wird New York wieder eine andere Stadt werden. Dann wird ein neuer Bürgermeister gewählt, weil Bloomberg keine weitere Amtszeit mehr antreten darf. Seine 450 Meilen Fahrradwege sind keine bauliche Veränderung. Man hatte bloß ein paar Eimer Farbe gebraucht, um die Wege auf die Straßen zu malen. Es würde fast nichts kosten, sie wieder zu entfernen.

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