Kopenhagens Umweltbürgermeister Morten Kabell: "50 Prozent Radverkehrsanteil sind überall möglich"
Kopenhagen setzt als fahrradfreundliche Stadt Maßstäbe. Umweltbürgermeister Morten Kabell über breite Spuren, fitte Bürger – und seine Tipps für Berlin.
Früher hat alle Welt auf die Niederlande geschaut, wenn es um fahrradfreundliche Städte ging. Jetzt gilt Kopenhagen als Maß der Dinge. Mal ehrlich: Ist das vor allem Ihrer PR-Arbeit oder Ihrer Verkehrspolitik zu verdanken?
Das ist kein PR-Gag. Vor zehn Jahren haben wir offiziell entschieden, die fahrradfreundlichste Stadt der Welt zu sein. Wenn wir neue Brücken oder Straßen bauen, dann im Wesentlichen für Radfahrer. Das gibt Diskussionen, weil manche Parteien die Autofahrer nicht zu sehr behindern wollen und andere – zum Beispiel ich – das nicht für wichtig halten. Wenn der Stadtrat entschieden hat, dem Radverkehr Vorrang zu geben, bedeutet das eben, dass andere zurückstecken müssen.
In Berlin liegt der Radverkehrsanteil bei etwa 13 Prozent, in Kopenhagen waren es zuletzt 45 Prozent. Ist das Ende der Entwicklung damit erreicht?
Überhaupt nicht. Dieses Jahr dürften wir bei fast 50 Prozent Radverkehrsanteil sein – in der Region! Im unmittelbaren Stadtgebiet sind wir bei 63 Prozent. Der Autoverkehr macht da nur neun Prozent aus, der Rest verteilt sich auf öffentlichen Nahverkehr und Wege zu Fuß.
Die Experten von „Copenhagenize.eu“ erklären den Radverkehrsboom vor allem damit, dass Autofahren in Kopenhagen wegen der vielen Baustellen für den neuen U-Bahn-Ring unerträglich geworden ist.
Das könnte stimmen, wenn wir die Straßen blockieren würden. Aber wir blockieren die Plätze, denn dort entstehen die Bahnhöfe. Insofern belästigen wir vor allem Fußgänger. Aber die Tunnel dazwischen werden bergmännisch gegraben. Wir haben keine so riesigen Baustellen, wie ich sie hier Unter den Linden gesehen habe.
Aber sobald die U-Bahn fährt, dürften viele Radfahrer umsteigen. Solche Kannibalisierung scheint nicht sinnvoll.
Wenn 2019 die erste der beiden Linien in Betrieb geht, wird sicher wirklich weniger Rad gefahren, vor allem auf kurzen Strecken. Wir schätzen, dass der Anteil auf 40 Prozent sinkt, aber damit kann ich leben. Egal, ob die Leute laufen, radeln oder die Öffentlichen nehmen: Hauptsache grün. Für mich zählt nur, dass der Autoverkehr nicht zunimmt. Und dabei wird uns die U-Bahn allemal helfen.
Was kostet der Bau der U-Bahn?
Rund fünf Milliarden Euro. Dafür bekommen wir eine Ringlinie mit 17 Stationen und eine Verbindung der nördlichen und später der südlichen Hafengebiete mit der City.
Und was geben Sie für den Radverkehr aus?
In Berlin sind es je nach Berechnung zehn bis 15 Millionen Euro im Jahr. Das Budget für die reguläre Unterhaltung sind rund elf Millionen Euro. Dazu kommen einzelne Großprojekte wie Brücken. Für die letzten zehn Jahre addiert kommen wir auf knapp 160 Millionen Euro. Das ist übrigens gerade die Hälfte dessen, was wir für eine einzige Anschlussstraße ausgeben, die die Autobahn im Norden mit dem Hafen verbindet: Vier Kilometer Straßentunnel kosten doppelt so viel wie die Fahrradförderung in zehn Jahren! Radverkehrsanlagen sind wirklich mit Abstand am billigsten zu haben.
Und die Bürger akzeptieren diese Prioritätensetzung?
Die Leute fordern mehr Geld für den Fahrradverkehr, nicht weniger. Angefangen hat es in den 1970ern, als auch Kopenhagen eine autofixierte Stadt war. Bürger wollten den Stadtraum zurückerobern. Das gipfelte darin, dass während der Ölkrise 150 000 Menschen vor dem Rathaus demonstrierten, weil sie ihre Kinder allein zur Schule schicken und sich auf den Plätzen der Stadt aufhalten wollten. Die Verwaltung reagierte zunächst langsam, bis 2005 endgültig der Durchbruch kam. Jetzt wollen die Leute einfach Rad fahren, weil es am schnellsten geht.
Klingt gut, aber in Berlin kann eine Strecke durchaus 30 Kilometer lang werden.
Bei uns auch! Inklusive Speckgürtel können es sogar 40 bis 50 Kilometer sein. Aber die meisten Wege sind eher fünf bis sieben Kilometer lang. Als nächstes müssen wir es schaffen, diese „natürliche Grenze“ in Richtung zehn bis zwölf Kilometer zu verschieben wie in den Niederlanden. Dazu brauchen wir erstklassige Radschnellwege aus den Randgebieten in die City.
Die Niederländer schaffen die längeren Strecken auch, weil jedes dritte neue Fahrrad dort ein E-Bike ist.
Die sind bei uns auch im Kommen, aber noch nicht so stark. Ich hätte als Bürgermeister übrigens ein Auto mit Fahrer haben können, aber habe stattdessen ein E-Bike gekauft. So komme ich nicht durchgeschwitzt zu meinen Terminen. Es ist ein großartiges Gefühl, Bewegung zu bekommen, ohne sich zu verausgaben.
Wie kommen die Dänen vorwärts, wenn es schneit?
Mit dem Rad. Der Stadtrat hat entschieden, dass morgens zuerst die Radwege geräumt werden und anschließend die Straßen. Die Autofahrer bekommen das natürlich mit – und so ist es auch gedacht.
Und es gibt keinen Aufstand deswegen?
Die meisten Autofahrer kennen die Radfahrerperspektive. Die sagen, ich brauche mein Auto, um zu meinem Sommerhaus zu kommen. Aber morgens für den Weg zur Arbeit ist es eben normal, aufs Rad zu steigen. Das ist Mainstream, darüber denkt man nicht wirklich nach. Außerdem besitzen nur 22 Prozent der Haushalte ein Auto. Konkret sind es in manchen Vierteln nur gut zehn Prozent. 28 Prozent sind das Maximum.
Ist bei Ihnen eigentlich auch der Radverkehr schneller gewachsen als die Infrastruktur?
Hier steckt man an roten Ampeln oft in Trauben anderer Radfahrer fest – und wenn es Grün wird, bestimmt der langsamste das Tempo, weil der Radweg zu schmal zum Überholen ist: ältere sind kaum einen Meter breit, neuere auch nur eineinhalb. Unser aktueller Standard ist 3,20 Meter. Maßstab ist, dass drei Leute nebeneinander passen oder zwei Lastenräder sich überholen können.
Denn jede vierte Kopenhagener Familie hat ein Cargo-Bike. Um mal unseren Alltag zu illustrieren: Wenn ich morgens zu Hause aus dem Fenster schaue, sehe ich 15 bis 20 Autos an der Ampel – und 300 Radfahrer. Diese Nachfrage zu managen, ist in der Tat eine Herausforderung. So kommen wir wieder zur Frage der Prioritäten. Es geht gar nicht anders, als Autospuren in Radwege umzuwandeln oder für Autos Einbahnstraßen auszuweisen. Das führt natürlich zu Diskussionen, zumal es auch Hauptverbindungen ins Zentrum betrifft.
Manche niederländische Städte haben Riesenprobleme, weil Massen geparkter Fahrräder Gehwege und Durchgänge blockieren. In Utrecht wird rigoros – und kostenpflichtig – abgeschleppt.
Solche Probleme haben wir auch, speziell um Bahnhöfe und Einkaufszentren. Fahrräder vor Notausgängen räumen wir inzwischen auch sofort weg. Um die Situation in den Griff zu bekommen, wandeln wir im Zentrum Autostellplätze um: Wo vorher ein Auto stand, haben dann zehn Fahrräder Platz. Und zehn Fahrradständer bedeuten in Kopenhagen, dass tatsächlich 20 Fahrräder dort parken.
In Berlin fühlen sich viele Fußgänger von rücksichtslosen Radfahrern auf Gehwegen drangsaliert. Haben Sie viele Beschwerden wegen so etwas?
Bei uns ist eigentlich jedem klar, dass Radfahrer auf dem Gehweg nichts zu suchen haben. Das funktioniert auch gut, weil unsere Radspuren beidseitig baulich abgetrennt sind, also sowohl von der Fahrbahn als auch vom Gehweg. Um es mal deutlich zu sagen: Wenn ich anfangen würde, einfach einen Teil der Gehwege rot einzufärben wie hier in Berlin, würde ich von einem wütenden Mob aus der Stadt gejagt. Die Leute würden das niemals akzeptieren!
Glauben Sie, dass Kopenhagener Verhältnisse in jeder europäischen Großstadt möglich wären?
Jede Stadt muss ihre eigenen Lösungen finden, aber 50 Prozent Radverkehrsanteil sind überall möglich ...
...sofern keine Berge dazwischenkommen.
Bei uns ist es jenseits des Zentrums auch ganz schön hügelig. Und sogar San Francisco hat neuerdings Radwege und Radfahrer. Ich bin froh, dass ich nicht über die Berge dort zur Arbeit muss. Aber wenn es dort geht, geht es überall.
Werden bei Ihnen auch so viele Fahrräder geklaut? In Berlin sind wir inzwischen bei 30 000 angezeigten Diebstählen pro Jahr, und die Aufklärungsquote ist lächerlich.
Ein Freund von mir hat mal gesagt, in Kopenhagen besitzt man kein Fahrrad, sondern kauft eins und gibt es in den großen Pool. Und morgens kommt man raus und nimmt das nächstbeste Rad aus diesem Pool. Das kommt der Wahrheit ziemlich nahe, fürchte ich. Ich habe mein aktuelles Rad jetzt seit bald drei Jahren; das ist ziemlich gut. Aber Versicherer und Hersteller haben inzwischen gute, zertifizierte Schlösser auf den Markt gebracht.
Haben Sie eigentlich fundierte Erkenntnisse über den Nutzen des Fahrradbooms, etwa für Gesundheit oder Luftqualität?
Wir untersuchen das ziemlich gründlich. Dadurch wissen wir beispielsweise, dass jeder gefahrene Autokilometer die Gesellschaft vier bis fünf Cent kostet. Dagegen spart jeder mit dem Rad gefahrene Kilometer der Allgemeinheit etwa 13 Cent. Hauptgrund ist der Gesundheitseffekt: Die Menschen bleiben länger fit, werden weniger pflegebedürftig. Hinzu kommt der Gewinn an Lebensqualität, weil die Leute mehr rauskommen. Es passiert immer wieder, dass Leute um einen Radweg bitten, weil sie ihren Kiez abends als dunkel und tot empfinden. Wenn dort Radfahrer unterwegs sind, sehen sie andere Menschen. Bei Autoverkehr fällt diese soziale Komponente weg: Da sehen sie nur die Blechkiste.
Wie sieht es mit der CO2-Emission aus? Berlin will bis 2050 klimaneutral werden, also von zurzeit knapp sechs auf etwa 1,5 Tonnen pro Einwohner und Jahr kommen.
Wir sind schon bei gut drei Tonnen pro Kopf und Jahr, hauptsächlich durch die Umstellung des Fernwärmenetzes auf Biomasse und die Nutzung von Wind. Bis 2025 wollen wir beim CO2 auf null sein.
Dann können Sie aber nicht mehr durch die Welt fliegen, um von Ihren Erfolgen zu berichten.
Das ist in der Tat ein Problem. Der Flugverkehr geht in die offizielle Berechnung bisher nicht ein – weltweit. Das betrifft auch Ernährung und Bekleidung. Diese Konsum-Effekte werden wir ab 2025 angehen müssen.
Außerdem darf nach Ihrer Logik in zehn Jahren kein konventioneller Straßenverkehr mehr stattfinden.
Richtig. Die Autos müssen dann entweder elektrisch oder mit Wasserstoff angetrieben sein. Die Pariser Bürgermeisterin hat übrigens angekündigt, dass sie ab 2020 keine Dieselfahrzeuge mehr in die Stadt lassen will. Das ist ein guter Ansatz, denn auch bei uns in Kopenhagen sterben jährlich 500 Menschen vorzeitig wegen dieser Feinstaubpartikel.