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Wer die Ruine des Atomkraftwerks näher betrachten will, muss sich an wachenden Soldaten vorbeischleichen.
© M. Kunzmann & P. Lichterbeck

Kubas Atomstadt: In den Ruinen von Ciudad Nuclear

Fidel Castro wollte das einzige Atomkraftwerk der Karibik betreiben. Zehn Jahre lang wurde Juraguá gebaut. Jetzt könnten es die Russen brauchen.

Anstatt den Neutronenbeschuss im Reaktor zu steuern, hält Marlon heute ein Schwätzchen mit den Nachbarn. „Eine wirklich gute Idee war das mit dem Atomkraftwerk ja nicht“, sagt er mit einem Glas Kaffee in der Hand. „Es wurde gepfuscht, das hat man schon mitbekommen. Es wurde nicht korrekt geschweißt, Stahlträger lagen jahrelang im Freien, bevor sie verbaut wurden. Eine tickende Zeitbombe ...“

Marlon, der hier keinen Nachnamen bekommt, weil es Kubanern eigentlich verboten ist, mit ausländischen Journalisten zu sprechen, sitzt vor einem vergammelten Plattenbau in Ciudad Nuclear. Der Ort liegt auf einer isolierten Landzunge im Südwesten Kubas, 240 Kilometer von der Hauptstadt Havanna entfernt.

Und er heißt wirklich so: Nuklearstadt! Ein Name wie ein Imperativ. Ein Name aus einer Welt, in der Fortschritt sich an der Größe von Staudämmen, Zementfabriken und Produktionszuwächsen misst. Oder eben an der Anzahl von Atomkraftwerken.

Marlon holt einen zweiten Kaffee, den eine Frau aus ihrer Erdgeschosswohnung heraus verkauft. Einer der anderen Männer lässt sich nebenan die Haare schneiden. Viel zu tun gibt es nicht, heute Morgen in der Nuklearstadt. Über die vierspurige Allee vor dem Plattenbau klappert eine Pferdekutsche. Kurz darauf schieben zwei Männer einen Handkarren mit Gemüse vorbei. Es folgt ein Grunzen. Eine wirklich kapitale Sau trottet die Straße entlang. Nur Autos kommen keine.

Anfang der 80er Jahre holte Castro sowjetische Ingenieure ins Land

Das hatte sich Fidel Castro einmal anders vorgestellt. Anfang der 80er Jahre ließ der kubanische Präsident Ciudad Nuclear nach dem Vorbild sowjetischer Planstädte errichten. Fünfstöckige Platten in Reih und Glied, breit ausgebaute Straßen, Kinderkrippe, Oberschule, Poliklinik. Eine moderne sozialistische Stadt sollte entstehen – eine, in dem „der neue Mensch“ geboren werde, wie es Castro versprach.

Tausende Arbeiter wurden damals hier einquartiert. Sie stammten aus allen Provinzen Kubas, um einige Kilometer entfernt das erste Atomkraftwerk der Karibik zu errichten. An die Küste und mitten in eine trockene Dornenlandschaft hinein. Die Ingenieure und Wissenschaftler kamen aus der UdSSR. Rund zehn Jahre lang wurde gebaut, dann war Schluss. Zurück blieb die größte Industrieruine der Karibik. Ein Monstrum aus Stahl und Beton. Symbolisch für eine Insel, auf der die Ideen stets größer und leuchtender waren als die Möglichkeiten.

„Es ist schon gut, dass nichts daraus geworden ist“, sagt Marlon. „Wer weiß, wo das geendet hätte. Hier, direkt am Meer, in der Hurrikanzone, im Erdbebengebiet ...“ Er lässt das so stehen, will sich die möglichen Katastrophen nicht ausmalen. Marlon sollte einmal im Kontrollraum des Kernkraftwerks arbeiten. Er sei an Reaktorsimulatoren in der UdSSR ausgebildet worden, erzählt er. Erst später habe er erfahren, dass die Simulatoren gar nicht dem Reaktortyp entsprachen, der in Kuba gebaut wurde.

Einige Russen leben immer noch hier, und eine Tschechin

Vielleicht ist die Karibik also wirklich nur knapp dem Super-GAU entgangen. Das Paradies hätte für immer zerstört werden können. Strahlende Strände. 1992 kam ein Untersuchungsbericht des US-Senats zu dem Schluss, dass Juraguá ein erhebliches Sicherheitsrisiko dargestellt hätte. Abgesehen von der allgemein schlechten Bauqualität seien bis zu 15 Prozent der Schweißnähte fehlerhaft gewesen – auch jene im Reaktorkern.

Heute sieht Marlon das natürlich gelassen. Er sagt, was man verblüffend häufig von älteren Kubanern hört: dass das Leben auf der Insel nicht schlecht sei. Ohne Kriminalität, Drogen, Existenzängste, Alltagsstress. „Nicht so wie bei euch im Kapitalismus!“ Die anderen Männer nicken. Sie erzählen, dass immer noch einige Russen in der Nuklearstadt lebten, verheiratet mit Kubanerinnen.

Auch eine Tschechin gibt es. Sie heißt Eva, und man findet sie in einer winzigen Plattenbauwohnung am Stadtrand. Vor 40 Jahren sei sie als Übersetzerin nach Kuba gekommen, erzählt sie, etwas irritiert über den Besuch. Heute ist sie eine Gestrandete. Eva erhält 200 Pesos Rente vom kubanischen Staat, das sind umgerechnet sieben Euro. Sie wünscht sich zwar nichts sehnlicher, als nach Europa zurückzukehren, aber sie wird sich wohl niemals den Flug und einen Neuanfang leisten können. Letzte Station Nuklearstadt.

Castro wollte Amerika provozieren

In einer riesigen Halle liegt die letzte von vier Turbinen, die anderen wurden recycelt.
In einer riesigen Halle liegt die letzte von vier Turbinen, die anderen wurden recycelt.
© M. Kunzmann & P. Lichterbeck

Wie ein Ufo scheint der Wasserturm über der Stadt zu schweben. Auf der vierspurigen Zufahrtsstraße streunen nur ein paar Hunde. Offiziell hat Ciudad Nuclear 9489 Einwohner. So steht es bei EcuRed, dem kubanischen Wikipedia. Aber wo sind all die neuen Menschen? „In der Erdölraffinerie von Cienfuegos“, versichern Marlon und die anderen Kaffeetrinker. Die Raffinerie ist die größte Kubas und liegt 20 Kilometer von Ciudad Nuclear entfernt. Dorthin schickte man die Arbeiter nach dem Baustopp.

Fidel Castro wollte die Nuklearenergie nutzen, um Kuba unabhängiger vom Öl zu machen. Auch seine Prestigesucht mag eine Rolle gespielt haben: Im Wettstreit mit dem Westen wollte er zeigen, dass sogar sein Land die Kernspaltung beherrscht. Castro wurde bei den Sowjets vorstellig, die gerne sozialistische Bruderhilfe leisten wollten – auch, um die Amerikaner zu provozieren. Ein kommunistisches Atomkraftwerk 300 Kilometer südlich von Key West! Weltpolitik über Bande gespielt.

1976 unterzeichneten Kuba und die UdSSR den Vertrag zum Bau zweier 440-Megawatt-Reaktoren. 1983 wurde unter der Aufsicht des ältesten Sohns Fidel Castros mit der Errichtung der Atomanlage Juraguá begonnen. Die Kubaner sollten den Bau der zivilen Hülle erledigen, die Sowjets die Reaktorteile liefern.

Mehrere Jahre schritten die Bauarbeiten voran, selbst als 1986 im ukrainischen Tschernobyl ein Atomreaktor explodierte und weite Teile Europas verseuchte, wurde das Projekt nicht angehalten. Castro hatte höchstpersönlich versprochen: „Kein Atomkraftwerk auf der Welt wird sicherer sein.“

Nach dem Baustopp wurde das Kraftwerk zum Sperrgebiet erklärt

Das Aus kam, als die Sowjetunion zusammenbrach. Der russische Nachfolgestaat kappte den Kubanern 1992 das Geld. Ein Jahr später sollte Juraguá ursprünglich ans Netz gehen – tatsächlich hätte es wohl noch drei weitere Jahre gedauert. Im strömenden Regen verkündete Castro den Arbeitern damals das Ende. Viele brachen in Tränen aus.

Im Zentrum von Ciudad Nuclear ragt ein gewaltiger Wohnblock auf. 18 Stockwerke hoch knallt er in den Himmel. Ganz unten hat jemand in großen Lettern „Sozialismus oder Tod“ auf eine Wand geschrieben. Es ist nicht ganz klar, ob das ironisch gemeint ist. Das Haus steht komplett leer, ist ein Rohbau geblieben. Menschen werden hier nicht mehr einziehen. Mit den Jahren hat das Gebäude seine Statik eingebüßt und ist so etwas wie das Wahrzeichen einer Zukunft geworden, die nicht mehr kommen wird.

Rund um den Block führen Treppen unter die Erde zu verschlossenen Metalltüren. „Bunkerzugänge“, sagt eine Frau, die Wäsche in einem Vorgarten aufhängt. Dort unten hätten sich die Bewohner von Ciudad Nuclear bei einem Angriff der USA verstecken sollen.

Juraguá – es wäre das vierte Atomkraftwerk Lateinamerikas gewesen – wurde nach dem Baustopp zum Sperrgebiet erklärt. Die Kubaner hofften, irgendwann mit der Konstruktion fortfahren zu können. Und immer wieder gab es Gerüchte. „Der Spiegel“ meldete 1992, dass Siemens den Kubanern Steueranlagen liefern und diese auch installieren werde. Die russische Regierung behauptete zuverlässig alle zwei bis drei Jahre, die Fertigstellung doch noch finanzieren zu wollen. Schließlich blieb es bei Absichtsbekundungen, auch, weil die USA Investoren mit Sanktionen drohten.

Landet in Juraguá russischer Atommüll?

Eine Wende kam mit Wladimir Putin. 2008 legte erstmals seit 1991 wieder eine russische Kriegsflotte in Havanna an. Bei einem Besuch auf Kuba 2014 besiegelte Putin dann mit Kubas neuem Präsidenten Raúl Castro eine engere militärische Zusammenarbeit. Sie beinhaltete, dass die russische Spionagebasis Lourdes wieder in Betrieb genommen wird. Im Gegenzug verkündete Moskau, den Kubanern 90 Prozent ihrer Schulden in Höhe von 32 Milliarden US-Dollar zu erlassen.

Erst vor wenigen Monaten, im September 2016, unterzeichneten Kuba und der staatliche russische Energiegigant Rosatom ein Abkommen zur weiteren Erforschung der friedlichen Nutzung der Atomtechnik – sowie zur Erkundung von Endlagermöglichkeiten für Nuklearabfälle. Soll Juraguá Endlagerstätte für russischen Atommüll werden? Das Gerücht existiert schon länger. Die meist gut informierte Zeitschrift „OnCuba“ mit Sitz in Nevada hatte es gemeldet.

Juraguá ist immer noch militärische Sperrzone. Eine verlassene Reaktorhülle inmitten einer flimmernden Ebene, bewacht von einer Handvoll Soldaten. Was passiert, wenn man versucht, sich das Monstrum einmal von innen anzusehen? Stundenlange Verhöre, Gefängnis, Ausweisung?

All das erinnert an "Stalker" von Andrei Tarkowski

Menschen in Ciudad Nuclear. Offiziell hat die Stadt rund 9500 Einwohner.
Menschen in Ciudad Nuclear. Offiziell hat die Stadt rund 9500 Einwohner.
© M. Kunzmann & P. Lichterbeck

Wie ein Riesenpilz ragt die graue Kuppel aus der fahlen Landschaft auf. Ein Feldweg führt in Richtung Meer, zur Rückseite des Kraftwerks. An der Hauptzufahrt stehen die Soldaten. Anschleichen von hinten, über einen schmalen Pfad durch das immer dichtere Dornengestrüpp. Als es fast nicht mehr weitergeht, öffnet sich ein geteerter Weg, der bis aufs Kraftwerksgelände reicht.

Das Erste, was man sieht, ist die offene Turbinenhalle des Kraftwerks. An einer Stelle ist ihr Boden eingestürzt, ein Gerüst aus Stahl hineingerissen worden. An anderer Stelle liegt eine Turbine wie fortgeschleudert herum. Der Preis, den der Bau des Atomkraftwerks gekostet hat, wird offiziell mit 1,1 Milliarden Dollar angegeben. So viel hat Kuba zuletzt für seine neue Sonderwirtschaftszone in Mariel investiert – das größte Infrastrukturprojekt seit Beginn der Revolution.

Ein bisschen erinnert all das an Science-Fiction-Filme wie „Stalker“ von Andrei Tarkowski aus den 70ern. Kühler Wind rauscht durch die Ruine, aus der Ferne sind die Schreie der Geier zu hören, die über dem Reaktor kreisen, als plötzlich ein Mann und eine Frau im Hallentor stehen. Er, Mitte 50, in Latzhose, sie in T-Shirt und Jeans. Wie aus dem Nichts sind sie aufgetaucht. „Buenas tardes!“, grüßen sie und verschwinden schnell im Innern der Ruine.

Was wollen sie hier? Suchen sie nach Brauchbarem? Oder sind sie zum heimlichen Schäferstündchen verabredet?

Offenbar haben die Kubaner hier noch etwas vor

Der Reaktor ist von einer Mauer umgeben, die an einer Stelle ein größeres Loch aufweist. In die Reaktorhülle gelangt man durch eine offen stehende Tür, hinter der eine schmale Treppe nach oben führt, in die Dunkelheit.

Gleich auf der ersten Ebene eine Überraschung. An den Wänden hängen Neonröhren, brandneu. Auf einem Kabel steht das Herstellungsjahr: 2011. Was haben die Kubaner hier noch vor? Ist doch etwas dran an dem Gerücht mit dem Endlager für russischen Atommüll? Oder haben die Neonröhren etwas mit Kubas Suche nach einem geeigneten Lagerort für toxische Abfälle aus Industrie und Medizin zu tun? Auch dazu gibt es verschiedene Berichte. Sollten sie stimmen, müsste hier noch einiges geschehen.

Der Betonboden klafft voller Löcher, zwischen den Räumen stehen schwere Metalltüren offen, auf manchen ist in kyrillischer Schrift vom Unternehmen „Atomenergoexport“ zu lesen. Sonst sind die Räume kahl, was einmal wertvoll war, wurde hinausgeschafft. Altmetall, Keramik, Schalter. Die meterdicke Außenmauer ist an Stellen durchbrochen.

Von hier reicht der Ausblick über die Ebene bis zur Nuklearstadt. Auch die Wachposten sind zu sehen, wie sie gelangweilt am Eingangstor stehen. An einer anderen Stelle blickt man auf die Grundmauern des zweiten Reaktorbaus hinab, dessen Hülle nur zu 30 Prozent fertiggestellt wurde.

Mittlerweile neigt sich der Tag, und es wird dunkel. Eine Treppe nach unten endet plötzlich im Nichts. Also noch mal hinauf und den Abstieg anderswo probieren.

Ein letzter Blick auf den verhinderten Atommeiler. Rosa leuchtet er vor dem dunkelblauen Nachthimmel. Von sozialistischen Medien war er einst als „Kubas Jahrhundertwerk“ bezeichnet worden.

Wie hat Marlon, der Kaffeetrinker, vorhin noch gesagt? „Es war ein Traum, von dem wir hofften, dass er sich nicht erfüllt.“

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