Katastrophenschutz: Von Kuba lernen, heißt überleben
Hurrikan "Matthew" forderte 2016 zahlreiche Tote. Allein auf Haiti starben mehr als 1000 Menschen – im Nachbarland Kuba kein einziger. Wie ist das möglich?
Als „Matthew“ vergangenen Oktober eine Spur der Verwüstung in der Karibik hinterließ, kam Kuba glimpflich davon. Während der Hurrikan in den USA und Haiti hunderte Menschen das Leben kostete, hatte der Karibikstaat kein einziges Todesopfer zu beklagen. Als 2004 Hurrikan „Ivan“, einer der schwersten Tropenstürme des vergangenen Jahrhunderts, über Kuba hinwegzog, gab es trotz immenser Sachschäden ebenfalls keine Toten. Und als Hurrikan „Sandy“ 2012 die zweitgrößte Stadt des Landes, Santiago de Cuba, praktisch dem Erdboden gleichmachte, kamen trotz der immensen Sachschäden lediglich elf Menschen ums Leben. In anderen Ländern verloren mehr als 100 Menschen ihr Leben. Wie kann das sein?
„Alle, die in diesem Gebäude wohnen, müssen raus!“, ruft Saili Cisneros. Cisneros, normalerweise nur eine gewöhnliche Bürgerin, verwandelt sich in Zeiten des Sturms zur Vizepräsidentin der Verteidigungszone ihres Stadtteils. Bereits Tage bevor ein Sturm das Land erreicht, wird auf Kuba der eingespielte Mechanismus des Zivilschutzes aktiv. Wenn die ununterbrochenen Wetterbeobachtungen durch das nationale meteorologische Institut Anlass zur Sorge geben und sich ein extremes Tiefdruckgebiet dem Staatsgebiet nähert, ist es spätestens drei Tage vor Eintreffen des Sturms an der Zeit, das mehrphasige System des Katastrophenschutzes anlaufen zu lassen.
In jeder Provinz und jeder Straße werden Verteidigungschefs aktiv
Dieses beginnt mit Phase eins, der „Informationsphase“. Durch tägliche Presseberichte mit detaillierten Prognosen wird die Bevölkerung auf das baldige Eintreffen eines Hurrikans vorbereitet. Je näher der Sturm rückt, desto stärker füllen sich die Seiten der Zeitungen mit Wetterwarnungen, desto eindringlicher werden die Fernseh- und Radioreportagen über die drohende Gefahr. Fernsehreporter verlesen Einkaufslisten. Alles dient plötzlich nur noch dem einen Zweck: die Bevölkerung auf den Sturm vorzubereiten.
In Phase zwei, die etwa 48 Stunden vor Eintreffen des Sturms beginnt, werden auch die materiellen Vorbereitungen in Gang gesetzt. Jede der 168 Gemeinden Kubas ist in mehrere sogenannte Verteidigungszonen unterteilt, die mancherorts kaum mehr als einen Straßenzug umfassen. Dieses engmaschige Netz, welches von Basisorganisationen wie den „Komitees zur Verteidigung der Revolution“ (CDR) eingerahmt wird, tauscht dann den ansonsten gemütlichen sozialistischen Gang gegen emsige Betriebsamkeit.
In jeder Provinz, jeder Stadt, jedem Dorf und jeder Straße des Landes werden tausende Verteidigungschefs wie Saili Cisneros aktiv. „Wie aus dem Nichts heraus bekommen diese langsamen Tropen plötzlich Geschwindigkeit, mit der Präzision eines Schweizer Uhrwerks“, sagt Fernando Ravsberg, der als ehemaliger BBC-Korrespondent seit Jahrzehnten in Havanna lebt. Nun werden Schüler aus Internaten abgeholt, die Notunterkünfte vorbereitet, Kohletabletten und Bedarfsgüter ausgegeben und auch die staatlichen Strom- und Internetversorger machen ihre Reparaturbrigaden bereit.
Das ging zuletzt so weit, dass vor Hurrikan „Matthew“ Trupps aus Havanna beladen mit Strommasten, Kabeln und Generatoren bereits Tage vor dem Eintreffen des Sturms in den Osten der Insel aufbrachen und auf halbem Weg sein Vorüberziehen abwarteten. Als wieder Ruhe einkehrte, konnten die Helfer binnen weniger Stunden vor Ort sein. Gleichzeitig verbarrikadieren nicht nur die Fabriken und Geschäfte ihre Fenster, auch auf dem Land werden Vieh und teure Maschinen in Sicherheit gebracht.
Auf Haiti läuft es völlig anders ab als auf Kuba
Am Tag vor dem Eintreffen des Sturms werden schließlich alle gefährdeten Menschen evakuiert. Die Verteidigungschefs überwachen in jeder Zone den Abtransport von alten, kranken und hilfsbedürftigen Menschen in die Schutzunterkünfte. Das kann praktisch jede staatliche Institution sein, die als „hurrikangeprüft“ gilt: von der Grundschule über das örtliche Kino bis hin zum Parlamentssitz, dem Kapitol. In den Schutzhütten gibt es Trinkwasser und „Gallegas“, jene als Reiseproviant beliebten trockenen Kekse. Vor dem Eintreffen von Matthew wurden mehr als 600 000 Menschen evakuiert, bei anderen Stürmen waren es auch schon mehr als eine Million. Dann beginnt die Zeit des Hoffens: dass das Dach hält und am nächsten Morgen kein allzu böses Erwachen folgt.
Vieles von dem, was die Kubaner an Hurrikanprohylaxe betreiben, klingt nach gesundem Menschenverstand. Doch dass es auch anders laufen kann, zeigt der Nachbarstaat Haiti. Dort reagierten die Behörden von Beginn an anders auf „Matthew“. Die Behörden leiteten keine umfassende Evakuierung ein, die Anwohner waren stattdessen auf sich gestellt. Schon die Phase eins läuft auf Haiti in der Regel völlig anders ab als auf Kuba, nämlich gar nicht.
Der Wiederaufbau kommt so schnell in Schwung wie die Vorbereitung
Wie internationale Medien berichteten, waren viele Haitianer überrascht angesichts des ankommenden Sturms. Auch der Wiederaufbau lief alles andere als erfolgreich: Weder gab es genügend medizinisches Personal noch konnten die Schäden der Gebäude genau beziffert werden – die Behörden waren schlichtweg überfordert. 900 Menschen mussten das mit ihrem Leben bezahlen.
Auf Kuba hingegen kommt auch der Wiederaufbau meist so schnell in Schwung wie die Vorbereitung. Die Erstversorgung nach dem Sturm soll vor allem den Ausbruch gefährlicher Krankheiten vermeiden. 2010 kam es in Haiti zu einer Cholera-Epidemie, nachdem nepalesische UN-Soldaten die Erreger wohl einschleppt hatten. Mehrere hundert Menschen starben.
In den Tagen nach dem Sturm werden zeitgleich die Schäden begutachtet und der Wiederaufbau koordiniert. Der Staat hat immer eine Finanzreserve für Naturkatastrophen, aus deren Mitteln sich Kredite für Baumaterialien für bedürftige Familien speisen. Die Güter werden zunächst aus anderen Provinzen herbeigeschafft. Sobald der Strom wieder läuft, werden dutzende provisorische Minifabriken gebaut, die meist von Armeeangehörigen betrieben werden und für einige Monate den Zement mischen und das Brot backen, bis die Industrie vor Ort wieder in Schwung kommt.
Nach „Matthew“ konnten so innerhalb von weniger als drei Monaten 19 451 der 42 338 beschädigten Wohngebäude wiederhergestellt werden. Von den 2168 beschädigten staatlichen Einrichtungen haben im Januar bereits 1993 den Betrieb wieder aufgenommen. Die Stromversorgung war innerhalb eines Monats in den betroffenen Gebieten bis zum letzten Dorf wiederhergestellt, Telefon und Mobilfunk brauchten nicht viel länger. Zur Überbrückung stellte die Regierung Dieselgeneratoren auf, die die wichtigsten Einrichtungen am Laufen hielten. Die Telefongesellschaft ETECSA ermöglichte es den Anwohnern in den ersten Tagen, über ein öffentliches Satellitentelefon mit Freunden und Familien Kontakt aufzunehmen.
Kuba hat seine Lektion erst lernen müssen
Am schnellsten ging es wieder mal mit dem Schulbetrieb los: Bereits wenige Tage nach dem Sturm besuchten mehr als 90 Prozent der Schüler wieder den Unterricht. Trotz der teils zerstörten Klassenzimmer wurden die Lehrer angewiesen, mit dem Stoff weiterzumachen.
„Kuba ist ein Beispiel, dass die Gefährdung von Menschen mit kostengünstigen Maßnahmen und starker Entschlossenheit effektiv reduziert werden kann“, lobten die Vereinten Nationen bereits im Jahr 2004.
Doch auch Kuba hat seine Lektion erst lernen müssen. Im Jahr 1963, vier Jahre nach dem Einzug der Revolutionäre in Havanna und der Absetzung von General Batista, verwüstete Hurrikan „Flora“ die Insel. Mehr als 1000 Menschen starben, die Wirtschaft war paralysiert. Der Sturm ging als kollektives Trauma in die Geschichte des Landes ein. Aus dieser Erfahrung heraus wurde auf Initiative des 2016 verstorbenen Staatschefs Fidel Castro der Katastrophenschutz Stück für Stück aufgebaut.
Bis alle Schäden von Hurrikan „Matthew“ auf Kuba beseitigt sind, wird es noch einige Jahre dauern. Doch trotz der eigenen Probleme und der knappen Mittel schickte Kuba bereits vier Tage nach dem Sturm eine Hilfsbrigade ins benachbarte Haiti, wo erste Cholera Ausbrüche gemeldet wurden. Und obwohl kubanische Ärzte die eigentlich ausgerottete Krankheit nach der Erdbebenhilfe 2012 wieder mit nach Kuba brachten, wo es seither zu einigen Fällen kam, blieb dort die Situation auch nach „Matthew“ unter Kontrolle.
„Das oberste Prinzip ist der Erhalt menschlichen Lebens. Dem ordnen sich alle Maßnahmen unter“, sagt ein Kubaner, der selbst im Katastrophenschutz aktiv ist. Wenn das das Ziel sei, dann sei der Rest doch ganz logisch.
Marcel Kunzmann