Nuklearkatastrophe vor 30 Jahren: Tschernobyl kostet und tötet - bis heute
Das Desaster von Tschernobyl vor 30 Jahren ist eine Last für Generationen. Fünf Millionen Menschen leben noch immer auf verseuchtem Boden. Die Bewältigung der Folgen ist eine Mammutaufgabe. Ein Überblick.
Vor 30 Jahren explodierte der Reaktor Nummer vier im ukrainischen Atomkraftwerk Tschernobyl. Rund fünf Millionen Menschen in der Ukraine und Weißrussland leben auf verseuchtem Boden, schreibt die Physikerin Oda Becker in einer aktuellen Studie im Auftrag der Umweltorganisation Greenpeace. Die radioaktive Wolke zog über halb Europa. In Deutschland ist vor allem Bayern von der radioaktiven Belastung betroffen.
Wie gefährlich ist der Unglücksreaktor?
Unmittelbar nach der Explosion haben hunderttausende sogenannte Liquidatoren den Reaktor unter Lebensgefahr gesichert, indem sie Sand, Beton und andere Abdeckmaterialien auf die Ruine schütteten. Daraus erstand der erste Sarkophag. Dort sind immer noch 200 Tonnen Uran und weitere radioaktive Stoffe in Form einer schlackeartigen Lava vorhanden, die über austretenden Feinstaub in die Atmosphäre zu geraten drohen. Denn inzwischen ist diese erste Schutzhülle leck.
Unter der Führung der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) in London wird seit 2012 eine neue Metallhülle errichtet, die voraussichtlich Ende 2016 über den alten Sarkophag geschoben werden soll. Der neue Sarkophag ist 110 Meter hoch, hat eine Spannweite von 260 Metern und ein ausgeklügeltes Ventilationssystem, das den vierten Reaktorblock für mindestens hundert Jahre sichern soll. 2017 sollen dann die letzten Arbeiten abgeschlossen sein.
Allein der neue Sarkophag kostet rund 1,5 Milliarden Euro, das Gesamtprojekt beziffert die EBRD mit 2,1 Milliarden Euro. Zu den zehn größten Geldgebern gehören bis heute trotz des Kriegs in der Ostukraine neben der Bank (498 Millionen Euro) selbst, der Europäischen Union (431,6 Millionen), den USA (329,5 Millionen), Frankreich (114,9 Millionen) und Deutschland (106,1 Millionen) auch die Ukraine (64,1 Millionen) selbst und Russland (70,3 Millionen).
Bis zu 2000 Spezialisten haben an diesem um zwölf Jahre hinter dem Zeitplan liegenden Projekt gearbeitet. Daneben hat die EBRD seit 1995 eine Vielzahl von Sicherungsprojekten finanziert. Bis Ende 2016 soll bei Tschernobyl das weltweit größte Zwischenlager für atomare Brennstoffe in Betrieb genommen werden, das ebenfalls auf 100 Jahre ausgelegt ist.
Gibt es neue Risiken?
Kurz vor der Gedenkfeier am heutigen Dienstag haben kanadische Wissenschaftler vor einer möglichen großen Freisetzung von Radioaktivität durch Waldbrände in der 30-Kilometer-Sperrzone rund um Tschernobyl gewarnt. Der Strahlenexperte Timothy Mousseau verweist auf drei große Brände im radioaktiv versuchten Wald alleine im vergangenen Jahr. „Die Erderwärmung wird dieses Risiko erhöhen“, warnt Mousseau. „Abgestorbene Blätter und Tannennadeln geben neuen Bränden Nahrung“, sagt er. Besonders schlimm wäre es demnach, wenn der hochgradig radioaktive „Rote Wald“ Feuer fangen wurde. Bereits im vergangenen Jahr musste dort ein kleines Feuer gelöscht werden.
Tobias Münchmeyer, Greenpeace-Atomexperte und häufiger Besucher der Sperrzone, hat festgestellt, dass die fortdauernde Gaskrise im Land dazu geführt hat, dass mehr und mehr Menschen Holz verbrennen, um ihre Häuser zu heizen. Das Holz ist radioaktiv verstrahlt, die Asche geht über Siedlungen, vor allem aber auch über den Feldern nieder und verseucht so auch die Nahrungsmittelpflanzen, die dort angebaut werden.
Welche Kosten hat die Katastrophe in Deutschland verursacht?
In der Antwort auf eine Kleine Anfrage der grünen Atomexpertin Sylvia Kotting-Uhl vermochte die Bundesregierung die Kosten nicht zu beziffern. Das liegt zum einen daran, dass es schwer ist, Ausgaben, die in der Folge von Tschernobyl getätigt wurden, unmittelbar der Katastrophe zuzumessen. Dass es ein Radioaktivitätsmessnetz braucht, hat Europa zwar erst nach der Katastrophe begriffen. Die Ausgabe wäre aber wohl auch ohne die Explosion fällig gewesen.
Dennoch gibt es interessante Hinweise in der Antwort. Rund 272 Millionen Euro hat die Bundesrepublik seit 1986 an Entschädigungen an Bauern und Jäger ausgezahlt, weil Ernten vernichtet werden mussten oder vor allem die Wildschweine in Bayern bis heute wegen der hohen Strahlenbelastung nicht genießbar sind.
34 Millionen Euro kostete die Milchpulveraffäre. 1986 wurde Milch zu Pulver verarbeitet, die eine hohe Strahlenbelastung aufwies. 1987 wurde das in Eisenbahnwaggons gelagerte Milchpulver zu radioaktivem Müll erklärt. Es wurde in Bayern, Meppen und Lingen zwischengelagert und bis 1990 in Lingen so behandelt, dass die Strahlenbelastung dramatisch fiel. 180 Fässer mit hoher Cäsium-Belastung blieben übrig – und wurden im ehemaligen DDR-Zwischenlager in Morsleben eingelagert.
Wie entwickelt sich die Natur?
Die Natur erobert sich die Sperrgebiete in der Ukraine und vor allem in Weißrussland zurück. Tierarten, die anderswo ausgestorben sind, wie etwa Birkhühner, sind im weißrussischen radioaktiven Nationalpark Polesie zu beobachten. Wölfe, Wisente und Elche haben sich im Bestand erholt. Sie sind offenbar in der Lage, sich an die Radioaktivität anzupassen, berichtet Michael Brombacher von der Zoologischen Gesellschaft Frankfurt in einem Interview mit dem Netzwerk Forum Biodiversitätsforschung. Bei Vögeln haben französische Forscher nachgewiesen, dass sie sich in ihrer Genetik an die Strahlung anpassen können. Bei Pflanzen dagegen haben die Naturforscher eine Vielzahl von Defekten ermittelt.
Was plant die Ukraine in der Sperrzone?
Tschernobyl ist eine populäre Destination im Nischensegment „Dark Tourism“ – bei dem historisch belastete Orte aufgesucht werden. Mehr als 15.000 Besucher kommen pro Jahr nach offiziellen Angaben in die Sperrzone, beliebt ist vor allem die Geisterstadt Pripjat. Touristenführer vor Ort sprechen sogar von etwa 20.000 Besuchern – die meisten kämen aus Polen, Tschechien und den USA. Vor der Maidan-Revolution kamen vor allem Russen. Deutsche Touristen sind eher selten anzutreffen. In den vergangenen Jahren gab es Überlegungen, Tschernobyl für den Massentourismus zu öffnen. Passiert ist in dieser Richtung bislang wenig. Im einzigen Hotel der Stadt Tschernobyl sowie im Supermarkt gibt es außer Tassen und T-Shits kaum Devotionalien.
Umweltschützer befürchten indes, dass die Ukraine im geplanten Zwischenlager für Atommüll gegen Bezahlung auch ausländischen nuklearen Abfall aufnimmt und so zur Atommüllhalde Europas verkommt.
Eher in die entgegengesetzte Richtung geht die Idee der Errichtung eines Naturschutzgebiets in der Sperrzone. Dafür könnte diese allerdings verkleinert werden. Der damalige Umweltminister Igor Schewtschenko sprach etwa im Sommer 2015 von einem Areal von zehn statt wie heute von 30 Kilometern um den Reaktor. Die freigegebenen Gebiete könnten landwirtschaftlich genutzt werden.