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Die Simultanübersetzerin an einem ihrer Arbeitsplätze, hier in den Kammerspielen im Deutschen Theater.
© Thilo Rückeis

Simultandolmetschen: „Deutsch und Französisch lieben einander als Sprache“

In guten Momenten ist es wie Schweben, Simultandolmetschen kann ein sinnliches Vergnügen sein – dann bekommt Lilian-Astrid Geese sogar Szenenapplaus.

Sie war wie immer zeitig vor Ort. Sie hat ihren Arbeitsplatz, „ihr berufliches Wohnzimmer“, wie sie es nennt, gründlich inspiziert: Lilian-Astrid Geese hat mit den Technikern gesprochen, den Soundcheck gemacht, geprüft, ob ihre Lieblingskopfhörer in den Anschluss passen und das Manuskript des Redners, den sie dolmetschen soll, durchgearbeitet. Darin hat sie Verben eingekreist und ein paar deutsche Übersetzungen an den Rand gekritzelt, wie den Titel eines Buches von Ernst Bloch.

Eine kleine Flasche Wasser steht auf dem Holztisch bereit, neben einem schwarzen, rechteckigen Gerät, das aussieht wie ein altes Radio. Daraus schält sich ein schmales Mikrofon empor, an dem plötzlich ein rotes Lämpchen aufleuchtet. „Jetzt“, sagt Lilian-Astrid Geese, „muss ich nur noch den richtigen Kanal einstellen.“

Schaut die Simultandolmetscherin aus ihrem Kabuff durch die dicke Scheibe nach unten, sieht sie in 25 Metern Entfernung die Bühne. Zumindest ist das hier und heute so, an einem Samstag im September, im großen Audimax des Hauses der Kulturen der Welt. Schaute man zur selben Zeit aus den grün gepolsterten Sesseln über die eigene Schulter zu ihr hoch, sähe man nur ihr kurzes schwarzes Haar und ihr konzentriertes Gesicht, dazu die Brille, die sie gleich aufsetzen wird, man wüsste dann zumindest ungefähr, wem die Stimme gehört, die man im Ohr hat.

Sie ist die Mediatorin zwischen Redner und Publikum

Sie sitzt in diesem kahlen ungemütlichen Raum: vielleicht vier Quadratmeter groß, stickig, Pressspan-Design. Heute haben die Handwerker noch ein paar verpackte Holzplatten in diesem beengten Refugium vergessen, aber Lilian-Astrid Geese verkneift sich dazu einen Kommentar, denn sie ist mal wieder alleine in der Kabine, „da stört das nicht“. Normalerweise sitzen Simultandolmetscher in solchen Kästen zu zweit, wenn etwa Konferenzen über Stunden dauern und man Pausen braucht.

Würde man nicht wissen, was die Simultandolmetscherin hier tut, hielte man sie vielleicht für eine elegante Schauspielerin oder Opernsängerin. Ihr stilvolles schwarzes Kleid könnte nicht eindrucksvoller in Kontrast stehen zu ihrem doch eher muffigen Backstage-Arbeitsplatz. Tatsächlich ist sie ja eine Künstlerin, auch wenn sie auf den ersten Blick nur eine Sprechrolle ausfüllt. Sie ist die Mediatorin zwischen Redner und Publikum, Vermittlerin von Kommunikation.

Die ersten professionellen Simultandolmetscher kamen bei den Nürnberger Prozessen gegen die angeklagten Verbrecher des Nationalsozialismus zum Einsatz. Damals gab es keine Kabinen, die Technik war schlecht, und manche Dolmetscher standen unter enormem Druck, da sie selbst Verfolgte der Nazis waren oder ihre Angehörigen von den Nationalsozialisten ermordet worden waren.

Englisch sei keine Sprache für schöne Bilder

Lilian-Astrid Geese nimmt einen Schluck Wasser, im Saal geht das Licht aus, sie knipst ihre Tischlampe an; unten auf der Bühne beginnt ein Mann, Philosoph und Autor, nun seinen Vortrag, die Plätze im Auditorium sind nicht besonders gut gefüllt, Kopfhörer haben sich die meisten Gäste aufgesetzt.

An diesem Samstagnachmittag geht es um die „Ungleichzeitigkeit“ von Agatha Christies „Mord im Orient-Express“ und dem politischen Geschehen damals wie heute. Dieser Vortrag ist ziemlich abstrakt. Und der Redner spricht Englisch mit Akzent. Ausgerechnet.

Lilian-Astrid Geese mag das nicht so gerne, nicht wegen des Redners, den sie sehr schätzt, sondern weil Englisch oft von allen Beteiligten unterschätzt wird. Sie sagt: „Alle glauben, sie könnten es gut.“ Doch oft sind die Reden oder die Vorträge dann nicht besonders schön. Englisch, sagt Geese, habe zwar den Vorteil, dass es eine knappe, sehr verständliche Sprache sei. Aber sie sei keine Sprache für Zwischentöne, für schöne Bilder oder Reflexion.

Louis und Eribon sind ihre Lieblingsautoren

Geese spricht Englisch, Spanisch, Italienisch – doch ihre Lieblingssprache beim Dolmetschen ist das Französische. Sie findet, dass das Deutsche und das Französische „sich eher entsprechen in Rhythmus und Logik“. Beide Sprachen würden in den Worten reflektieren, sodass man „mit der gesammelten Empathie von einer Sprache zur nächsten wechseln könne“. Sie sagt: „Deutsch und Französisch lieben einander als Sprache.“ Wenn es dann noch philosophisch wird, fühlt sich Lilian-Astrid Geese so richtig wohl.

Nur die Sache mit dem Subjonctif und den Zahlen, sagt sie, sei komplizierter, weil etwa französische Zahlen ab 70 anders konstruiert sind. Wenn sie Geschäftsberichte auf Hauptversammlungen dolmetschen muss, und es geht um viele Zahlen, sei es sehr „hilfreich, wenn ein zweiter Dolmetscher an der Seite sitzt, der die Zahlen kontrolliert“.

Im Idealfall dolmetscht Geese einen französischen Philosophen wie etwa den jungen Autor Édouard Louis, der mit seinem autobiografischen Roman „Im Herzen der Gewalt“ auf der Buchmesse vertreten sein wird. Louis, wie auch Didier Eribon, sind Geeses derzeitige Lieblingsautoren, weil diese, wie sie findet, mit ihren gesellschaftskritischen Schriften mitten hinein in die aktuellen Debatten Europas zielten. Eine Grundfrage, die man auf Deutschland und die AfD anwenden könnte, lautet: Wie kann es sein, dass das einstige Milieu von Linken und Arbeitern plötzlich Le Pen wählt?

Der größte Schatz eines Dolmetschers ist Neugier

Geschwindigkeit, das richtige Timing und Präzision sind essenziell für Dolmetscher, sonst könnte es schnell zu Missverständnissen kommen.
Geschwindigkeit, das richtige Timing und Präzision sind essenziell für Dolmetscher, sonst könnte es schnell zu Missverständnissen kommen.
© imago/photothek

Eribon und Louis sprechen sehr elaboriert. Lilian-Astrid Geese liebt es, solche Redner zu übersetzen, weil sie gut arrangierte Details liebt. Sie selbst kommt aus einer Künstlerfamilie, und wenn man ihr zusieht, versteht man, warum sie nicht nur redet, also dolmetscht, sondern „spielt“. Betonungen werden mit Gesten unterstrichen, Pausen mit Mimik untermalt. Ist der Redner selbst langweilig, dann darf der Dolmetscher kein Gefühlsfeuerwerk abbrennen, doch ein wenig mehr Hingabe beim Dolmetscher ist erlaubt und kann einen Text, der vielleicht inhaltlich bedeutend ist, aber kompliziert vorgetragen wird, einen Hauch zugänglicher klingen lassen.

Ein erfahrener Simultandolmetscher muss sich immer auch entscheiden: Renne ich einem extrem schnellen Redner hinterher, oder löse ich die Situation anders auf? Geese sagt, wenn man es schaffe, Anschluss zu halten, wie beim französischen Philosophen und Schnellredner Étienne Balibar, dann gebe es auch mal Szenenapplaus aus dem Publikum für den Dolmetscher.

Das schmeichelt dem Ego, professioneller ist oft eine andere Lösung: „Ich muss den Leuten, die zuhören, vor allem den Gesamtinhalt mitgeben, aber nicht jeden Satz.“ Kluge Zurückhaltung statt blinden Tempos ist angebrachter. Um das richtig einschätzen zu können, muss der Dolmetscher perfekt vorbereitet sein.

Es kommt auf das richtige Timing an

Die Rede des Vortragenden selbst zu kennen, ist das eine. Man sollte zudem auch seine jüngsten Werke gelesen haben, wissen, aus welchem kulturellen und beruflichen Hintergrund er stammt, hören, wie er spricht. Der größte Schatz eines Dolmetschers, findet Geese, ist Neugier. Man sollte Lust darauf haben, „sich Wissen anzueignen, aufzusaugen und dann auch präsent zu haben“. Der Rest ist Handwerk.

Nach dem Studium hat Geese manchmal zur Vorbereitung im Auto versucht, den französischsprachigen Radiomoderator simultan zu übersetzen.

Beim Tempo ist es ein wenig so wie bei einem Sportler. Ein ganz junger Sprinter ist oft nicht so gut wie einer, der bereits ein paar Jahre Erfahrung hat. Geschwindigkeit, das richtige Timing und vor allem Präzision sind zudem verschiedene Anforderungen, die der Simultandolmetscher zeitgleich beherrschen muss. Sonst könnte es schnell zu Missverständnissen kommen.

Nicht immer bleibt der Dolmetscher im Hintergrund

Wie wichtig Präzision ist, hat die Dolmetscherin auf einer Konferenz der Strahlenopfer des russischen Atomkraftwerks Tschernobyl erlebt, als plötzlich weißrussische und amerikanische Delegationsteilnehmer anfingen zu streiten, und es sehr politisch wurde. Ein falsches Wort der Dolmetscher hätte diplomatische Verwicklungen auslösen können.

Einmal hatte sie Angst. Das war bei einem Auftritt der Schriftsteller Günter Grass und Salman Rushdie in der Berliner Akademie der Künste, den Geese dolmetschte. Kurz zuvor hatte Ayatollah Khomeini die erste Fatwa gegen Rushdie wegen seines Werkes „Die satanischen Verse“ ausgesprochen; Geese hoffte, dass „an diesem Tag niemand auf die Idee kommen möge, ein Attentat zu verüben“.

Nicht immer bleibt der Dolmetscher im Hintergrund. Einmal sollte sie die Rede eines Königs aus Afrika neben ihm auf der Bühne stehend übersetzen, ein paar Sätze er, dann sie, so weit die Theorie. Der Mann hielt seine Rede aber in einem Rutsch und setzte sich danach einfach in die vorderste Reihe zurück ins Publikum. Niemand hatte ihn verstanden, jetzt musste Lilian-Astrid Geese die Rede alleine auf der Bühne noch einmal halten: „Der König war sehr leidenschaftlich, also war ich es auch.“ Es gab Applaus. Die Frau im Hintergrund war plötzlich die Hauptfigur – und verbeugte sich. Der König war zufrieden.

„Es ist wie Schweben, vielleicht lege ich sogar die Beine auf den Tisch“

Bedrohlich wird es selten, aber wenn die Arbeitsbedingungen nicht stimmen, kann es schon mal ungemütlich werden. Nicht nur äußerlich. Normalerweise dauert ein Arbeitstag nicht länger als sechs Stunden inklusive Pausen, dazu gehören zwei Dolmetscher in einer Kabine. Aber wenn der Einsatz länger geht oder ein Ko-Dolmetscher plötzlich ausfällt, steigt der Stresspegel und verändert den Körper.

Geese sagt, bei ihr werden dann „die Fingerspitzen taub, es fällt immer schwerer, schöne Worte zu finden, Müdigkeit macht sich breit.“ Man sei auf einmal genervt von den Inhalten, vor allem wenn es welche sind, die man nicht gerne teilen mag: „Mein schlimmstes Kopfkino beginnt in dem Moment, wenn ich die Dinge inhaltlich nicht mehr verstehe.“ Da helfen später nur Sport und Schlaf.

Es gibt aber auch den anderen Fall. Ein französischer Autor etwa, den sie besonders gut findet. „Es ist ein kleines bisschen wie Schweben, ich bin entspannt, vielleicht lege ich sogar die Beine auf den Tisch.“

In diesen Momenten steigt etwas in ihr hoch: „Ich fühle, wie ich dabei helfe, gute Gedanken zu verbreiten.“

Armin Lehmann

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