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Abfahrt. Im tschechischen Speisewagen kann man auch nach Leipzig zur Buchmesse reisen.
© Thilo Rückeis

Kulinarische Bahnreise: Im Knödelexpress gen Prag

In diesem Speisewagen gibt’s frisch gezapftes Bier, weiße Tischdecken und saftigen Lendenbraten. Abfahrt für Tschechiens kulinarische Wunder: in Berlin.

Südkreuz, 7.23 Uhr gen Prag. Draußen schneit’s, drinnen leuchten die Nachttischlämpchen in den Fenstern. Die Gäste sitzen weich auf dick gepolsterten Sesseln aus warmem Rot. So rot wie die Schürzchen der Kellner. Die echte Kellner sind.

Sie schreiten, laufen und rennen, je nach Betrieb, stemmen sich gegen das Schwanken des Zugs, notieren die Bestellung per Hand auf einem großen Blatt Papier, rufen „Mineral!“ in die Küche und „Palacinka!“. In der Kombüse werden Eier aufgeschlagen und in der Tasse verquirlt, auf dass sie sich in der schweren Pfanne in ein Omelett verwandeln. Schon zum Frühstück zapfen die Kellner Pilsner Urquell in Krüge, bringen bauchige Kaffeekännchen und „Delikatesswürstchen“ mit Ketchup und Marmelade an die Tische. Aufmerksam und mit charmantem Akzent fragen die Stewards, wie die Kellner an Bord heißen, nach dem Rechten.

Hier beginnt Mitteleuropa.

Im deutschen Speisewagen wird nicht gekocht

Der Zauber des Reisens ist heutzutage ja weitgehend auf der Strecke geblieben. Passagiere werden abgefertigt und transportiert, per Auto, Flugzeug, Bus oder Bahn. Mit Hindernissen und Katastrophen müssen sie jederzeit rechnen.

Der tschechische Speisewagen dagegen hat so was – Altmodisch-Zivilisiertes. Auf den Tischen liegen weiße Stoffdecken, der Fahrgast wird bedient. Als ein Passagier sich Schweinebraten mit Kartoffelstampf bestellt, warnt der Kellner ihn, das sei eine Spezialität, darauf müsse er 20 Minuten warten. Das ist es dem Reisenden wert. Auch 100 Jahre nach dem Zusammenbruch des Habsburger Reichs hat man hier, mit einer Prise Ostblock vermischt, ein k.undk.-Gefühl. Wozu die österreichischen Manner-Wäffelchen zum Kaffee ihren Teil beitragen. Allein der weiche Klang der tschechischen „dsch“-Laute versetzt den Reisenden in beste Reiselaune.

Anfang der 90er Jahre wollte Hartmut Mehdorn als Chef der hiesigen Bahn den deutschen Speisewagen abschaffen – er hielt ihn für reine Verschwendung von Platz und Personal. Aber da kannte der langjährige Flugzeugmanager die Bahnfahrer schlecht. Nach heftigsten Protesten wurde der Plan wieder eingestampft. Man habe den emotionalen Wert des Speisewagens für die Kunden falsch bewertet, hieß es damals.

Seitdem bemüht sich die Bahn redlich, führte Biokost ein, saisonale und regionale Speisen, holte sich Rezepte von Bloggern und Spitzenköchen. Allein – es fehlt an Wärme. Und an einer richtigen Küche. Im deutschen Speisewagen wird nicht gekocht, sondern warm gemacht. Wenn nicht gerade die Mikrowelle kaputt ist. Mal fällt die Kaffeemaschine aus, mal der Kühlschrank – oder gleich der ganze Zug.

Jaroslav Rudiš pendelt häufig zwischen Berlin und Prag

Im tschechischen Speisewagen sei ihm das so gut wie nie passiert, erzählt Jaroslav Rudiš. Der Schriftsteller stammt aus einer Eisenbahnerfamilie; sein Großvater Alois war Weichensteller, die Graphic Novel „Alois Nebel“ und der gleichnamige Film machten Rudiš in Deutschland bekannt. Am liebsten wäre er Lokführer geworden. Die schlechten Augen haben seine Pläne durchkreuzt. Er liebt Züge, U-Bahnen, Bahnhöfe: als Orte zufälliger Begegnungen und Schauplätze seiner Werke.

Seit einigen Jahren in Kreuzberg zu Hause, pendelt er häufig zwischen Berlin und Prag. Jedes Mal wieder freut er sich wie ein Kind auf den Speisewagen, das erste und das letzte Stück Heimat, wo er sich sofort ein Bierchen bestellt. Und noch eins. Das ihm dort besser als in jeder Berliner Kneipe schmeckt, erzählt der jugendliche 46-Jährige beim Gespräch im Kreuzberger Café. Allein der Schaum – perfekt.

Rudiš’ neuer Roman, „Winterbergs letzte Reise“ – eine große Eisenbahnreise durch Europa und dessen Geschichte – ist zum Teil im Speisewagen entstanden. Das Buch wird Ende Februar erscheinen, zur Leipziger Buchmesse, deren Gastland Tschechien ist. Auch nach Leipzig kann man von Prag aus im böhmisch-mährischen Speisewagen fahren, der acht europäische Länder durchquert.

Auf tschechischem Territorium gelten freundlichere Preise

Monika Rozenbergová kümmert sich um das Wohlergehen der Passagiere.
Monika Rozenbergová kümmert sich um das Wohlergehen der Passagiere.
© Thilo Rückeis

Rudiš schwärmt vom Lendenbraten mit viel Rahmsauce und sechs (!) Scheiben Serviettenknödel, statt der im Lokal üblichen vier. Der süßsauer angemachte Gurkensalat mit gestifteltem Gemüse schmecke genau wie bei seiner Mutter. Die Kellner nennt er Wirte. Denn wenn Rudiš im Speisewagen sitzt, hat er das Gefühl, sich in einem böhmischen Gasthaus zu befinden. „Das ist kein Bistro.“

Man muss nicht bis nach Prag fahren, um in den Genuss dieses Wirtshauses auf Rädern zu kommen. Ein Trip von Berlin nach Hamburg oder Dresden reicht. Wobei man dann allerdings den schönsten Abschnitt der Strecke, entlang der Elbe zwischen Dresden und Prag, verpasst.

Der Eurocity ist sogar günstiger als der deutsche ICE. Noch billiger wird es, wenn die Happy Hour schlägt. Wann sie das tut, wirkt etwas ominös. Im EC 11, so liest man in der Speisekarte, reicht sie von 13.25 bis 17.39 Uhr, im EC178 von 6.32 bis 7.58 Uhr. Die Lösung: Auf tschechischem Territorium gelten die freundlicheren Preise, damit auch Böhmen und Mähren sich den Besuch leisten können. Der Krug frisch gezapftes Pilsner Urquell – der Bestseller an Bord, gefolgt von Gulaschsuppe und Delikatesswürstchen – kostet dann nur 1,40 Euro. Entsprechend Hochbetrieb herrscht in dieser Zeit.

Viermal im Jahr wird die Speisekarte ein bisschen verändert. Zur Feier des 100. Geburtstags der tschechischen Unabhängigkeit bekommen die Gäste verschiedene Gerichte aus der Zeit der Ersten Republik serviert, im Moment die milchige Hühnersuppe Kaldoun, mit Nudeln und Leberknödeln. Keine raffinierte Sterneküche, solide Hausmannskost.

Handys und Laptops sind hier unerwünscht

Die tschechische Schlaf- und Speisewagengesellschaft JLV, zu der auch Bahnhofsläden und -lokale gehören, feiert in diesem Jahr ihren 60. Geburtstag. Nach der Wende wurde sie teilprivatisiert, jetzt gehören noch knapp 39 Prozent der Bahn. 2012 wurde das kulinarische Konzept erneuert. Die Rezepte für die traditionelle Kost hat man verbessert und modernisiert, es gibt glutenfreie Gerichte und immer noch jede Menge Fleisch. Zusatzstoffe kommen nach eigenen Angaben nicht in die Töpfe. Die Köchin klopft tatsächlich noch das Schnitzel an Bord (für Jaroslav Rudiš „eine schöne Eisenbahnmusik“), aber auch hier wird ein Teil der Speisen aufgewärmt. Die Erbsen kommen aus der Büchse, die Sahne aus der Sprühdose. Im internationalen Vergleich steht der tschechische Speisewagen dennoch vorne: Bei einem Wettbewerb 2018 kam er auf den ersten Platz.

Dabei wurde da nur die Gastronomie, nicht die Stimmung, die Ruhe bewertet. Weil der tschechische Speisewagen kein Großraumbüro ist, sondern ein Wirtshaus, wird der Gast auf der ersten Seite der Speisekarte höflich darauf aufmerksam gemacht, dass Handys und Laptops hier unerwünscht sind. „Wir bemühen uns, unseren Gästen eine ruhige und ungestörte Atmosphäre gewährzuleisten (sic).“ „Das ist doch nicht schön, wenn einer sein Schnitzel genießen will, und dann brüllt ein anderer ins Telefon“, sagt Monika Rozenbergová, Produktmanagerin der JLV, die ab und zu noch als Steward einspringt. Allerdings ist die Bitte so diskret platziert, dass sie nicht bei allen Reisenden ankommt.

Schwups, der Zug bremst unerwartet, Monika Rozenbergová schnappt sich den Latte, damit er sich nicht über die Tischdecke ergießt. Wenn der Zug wackelt, springen manchmal die Zuckertütchen mit den lachenden Gesichtern drauf hoch. Ein weiterer Grund, warum Laptops nicht erlaubt sind: Was, wenn ein Kellner in einem solchen Moment den Kaffee über die Tasten schüttet? Auch mit dem Miniwagen durch den Zug zu ziehen, hat was von Windsurfen, findet Rozenbergová. Die Kellner hätten starke Muskeln in den Oberschenkeln.

Katastrophen werden in Komödien verwandelt

Es ist ein harter Job. Vratislav, so groß, dass er fast an den Monitor stößt, der die Ankunfts- und Abfahrtszeiten angibt, macht ihn seit zwölf Jahren. Heute fährt er mit seinem Team von Berlin nach Prag, und nach einer Stunde Pause, in der sie neue Vorräte ein- und leere Flaschen ausladen, geht’s zurück über Berlin nach Kiel. Am nächsten Tag retour. Der ausgebildete Koch hat früher selbst ein Restaurant geführt. Ihm gefällt der Rhythmus, acht Tage intensive Arbeit, acht Tage frei (wenn nicht gerade jemand krank wird). Seiner ersten Frau gefiel er weniger. Die Ehe sei daran zu Bruch gegangen. Inzwischen hat er eine tolerantere Gattin. Man merkt ihm den Spaß an: Auch als das Betriebstempo anzieht, läuft er pfeifend durch den Gang, schwingt mit dem Zug mit.

Die Stimmung unter den Kollegen wirkt freundlich. Und Katastrophen werden, wie es dem böhmischen Klischee entspricht, in Komödien verwandelt. Der Schriftsteller Jaroslav Rudiš erzählt von einem Fall im vergangenen Jahr, als ein tschechischer Zug zwischen Hamburg und Berlin in ein Unwetter geriet, alle Passagiere evakuiert wurden. Die Speisewagenmannschaft blieb an Bord, um die Vorräte zu bewachen. Drei Tage lang amüsierten sie sich, tranken ihr Bier, aßen kalte Ente mit ebenso kalten Klößen und spielten Karten. Fantastischer Stoff für ein Theaterstück, findet Rudiš. Anregungen holt er sich aus der Bahn jede Menge. Er hört zu, was an den Tischen geredet wird, beobachtet die Kellner, saugt alles auf. „Ich bin überzeugt, dass man die besten Bilder nicht erfinden kann. Die muss man gesehen haben.“

Tipps für die Bahnfahrt

Die tschechische Bahn fährt fünf Mal täglich von Berlin nach Prag, die Reise dauert viereinhalb Stunden. Sparpreis ab 33 Euro. Der Lendenbraten mit böhmischen Knödeln kostet 10,90 Euro.

Mehr unter: cd.cz/de, czechtourism.com.

Infos zur Buchmesse: ahojleipzig2019.de.

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