Zum Start der Buchmesse in Leipzig: Die Nationalbibliothek ist das Gedächtnis der Nation
Die Deutsche Nationalbibliothek in Leipzig sammelt seit 1913 alles: von der Strickzeitung bis zum Blog, von Goethe bis Heino. Ein Besuch zur Buchmesse.
Das ist es also, das Gedächtnis der Nation, der Hort deutschen Schriftguts, der Speicher von Geschichte und Geschichten.
Vielleicht fängt man bei einem Haus mit diesem Nimbus außen an. Da geht das Staunen schon mal los: Die Frontanmutung – kolossal. Büsten von Goethe, Bismarck und Gutenberg. Viel Gold blitzt an den Pforten auf, und eine Freitreppe fließt herab, auf der ein ganzes Dorf Platz hätte. Hier sitzen zu allen hellen Jahreszeiten junge Menschen, die mit Cookies und Bemmen Rast machen vom Studieren.
Die Nachbarschaft des Hauses ist eine Grünfläche mit Linden, die Alte Messe Leipzig, moderne Wissenschaftsinstitute, Max-Planck und Bio City. Die Deutsche Nationalbibliothek, kurz DNB, kann mithalten mit den jüngeren Gebäuden, 2011 bekam sie einen Erweiterungsbau, bereits den vierten. Wer viel sammelt, braucht viel Platz. Der neue Flügel ist ein Knüller, ein stilisiertes Riesenbuch aus Glas und Aluminium. Baulich betrachtet schmiegt sich nun Zukunft an Vergangenheit, der coole Cookie an die solide Bemme.
2200 Medienwerke kommen jeden Tag dazu
Eine Verpackung, die ein Versprechen auf Kulturgenuss gibt. Dabei klingt der Zweck des Hauses erst mal nüchtern, bürokratisch geradezu. Der Sammelauftrag besteht für deutsches Schriftgut seit dem 1. Januar 1913, kurz zuvor wurde die Bibliothek als Deutsche Bücherei gegründet, von Kaufleuten und Verlegern. Das Mandat: Alles wahren, was auf Papier erscheint! Gedrucktes deutsches Wort im Inland und im Ausland. Umfassend, ohne Selektionsanspruch. Fürs Hausarchiv auch die Menükarten von der Grundsteinlegung. Abgelegt wird nach numerus currens – nicht nach Themen, sondern nach Zeitpunkt des Eingangs. Nicht jedes Fitzelchen Papier, nur Essenzielles. Bücher, Zeitschriften, Dissertationen. Nicht Kinokarten und Theaterzettel, das ganzjährige Theaterprogramm hingegen schon, wenn der Bühnentext drinsteht. TV-Zeitschriften ebenso. Auch Musiktitel, Platten und CDs. Und 1500 Zeitungen täglich. Ganz früher als Papierausgabe, später auf Mikrofilm, jetzt als PDF-Datei. Zeitungspapier ist nicht für die Ewigkeit gedacht.
Um die aber geht es hier seit mehr als 100 Jahren. Um das magnum opus deutscher Geistesarbeit. 17,5 Millionen Medienwerke sind das Resultat bislang, und da man nach der Wende mit der Deutschen Bibliothek in Frankfurt am Main zusammenging, sind es insgesamt etwa 30,5 Millionen. Tägliche Neuzugänge in Leipzig und Frankfurt: 2200, allein die physischen. Damit ließe sich alle zwei Wochen ein Turm in Höhe des New Yorker Chrysler Building stapeln.
Jedes Einzelstück unterliegt der sogenannten Autopsie, wird nach Autor, Titel, Verlag, Größe und anderem abgescannt. Zum täglichen Sammelpensum zählen auch Blogs, E-Books, Wissenschaftsbeiträge, Themenkomplexe wie zum Beispiel die Europawahl.
Zu DDR-Zeiten durfte man nicht alles lesen
Wo fängt man an, wo hört man auf? Und was wird aus den Karteikarten in den hölzernen Archivkästen mit ihren Katalogschüben? Über viele Jahre angestammtes Arbeitsmittel, bis der Computer kam. Die DNB sammelt auch diese. Hat die Schübe in ihren gut klimatisierten Kellern abgestellt, summa summarum 40 000 Stück. Allein für alle, die das Archivwesen von einst studieren wollen. Oder als historischer Beleg, dass solche Karten nicht nur eine eigene Zeichensprache haben, sondern sich auf ihnen in der Nazizeit der Rassismus verewigte: „Verfasser Jude“.
Auch alte Adressbücher enthält die Sammlung, weil Ahnenforscher, Rechtsanwälte und Journalisten zu allen Zeiten solchen Fundus gern flöhen.
Jörg Räuber, Leiter der Abteilung Benutzung und Bestandsverwaltung, blättert im ersten Buch, das hier verzeichnet wurde. Tief in die Magazine ist er dafür vorgedrungen. Keine verstaubten Kammern mit verstopften Schränken, sondern saubere, akkurate Räume mit exakt ausgerichteten Kompaktregalen. „Wie baue ich mein Haus und wie beschaffe ich mir eine gediegene Wohnungseinrichtung?“, heißt die Nummer eins. Der Autor: Paul Klopfer, seinerzeit Direktor der Großherzoglichen Baugewerkenschule in Weimar.
Räuber arbeitet seit 42 Jahren in der Bibliothek, er erlebte noch die Zeit der Giftschränke und Sperrarchive, die es von Anbeginn hier gab. Zu DDR-Zeiten wurde dort das Dissidenten-Œuvre weggeschlossen, Wolf Biermann, Reiner Kunze, Sarah Kirsch. Lesen durften es nur Auserwählte. Mit Sondergenehmigung, in einem separaten Raum und unter Aufsicht. Und nur das bestellte Buch, nicht das vom Nachbartisch.
Auch Karl May wurde weggebunkert
Ebenfalls vorenthalten wurden dem DDR-Bürger kontingentierte Westbücher, die Begehrlichkeiten oder Fernweh schürten: Bildbände über die Olympischen Spiele, die Fußball-WM. Auch „FAZ“ und „Spiegel“ und die renitenten Russen, Trotzki und Solschenizyn. Selbst Strickzeitungen von Burda. Die Ostfrau sollte der kapitalistischen Masche nicht ins Netz gehen.
Dass die Stasi durchs Haus schlich – davon ist auszugehen bei so brisanter Habe. Räuber erzählt, dass auch Christa Wolf und Christoph Hein in den Lesesälen saßen, dass er als Azubi Mitte der 70er eine neue Lesekarte für eine DDR-Mark an Erich Loest verkaufte.
Der Sachse Loest durfte höchstselbst in den Giftturm, wo er einen anderen Sachsen studierte, der hier bis 1982 weggebunkert wurde – Karl May. Dessen Abenteuerstoffe galten als antihumanistisch, kursierten nur als unerlaubte Altbestände und illegal verschickte Westausgaben.
Seine Giftturm-Erfahrung verarbeitete Loest im Roman „Es geht seinen Gang oder Mühen in unserer Ebene“ von 1978. Schon am Empfang fühlen sich der Erzähler und sein Begleiter darin wie „verdächtige Individuen, die sich unter einem Vorwand hier einschlichen, um verbotene Frucht zu naschen“. Die zweite Auflage des Buches fiel selbst der Zensur zum Opfer, der Autor verließ daraufhin die DDR.
Ein Chemiker wollte Nazi-Liederbücher haben
Einen Heinrich Böll dagegen fanden die Genossen würdig, in der Freihandbibliothek zu stehen. Weil er kritisch gegenüber seinem eigenen Land war. Auch Naziliteratur und Pornografisches war über viele Jahre weggesperrt, nun steht beides wieder im Archiv. Ausleiher müssen sich allerdings fragen lassen, für welchen Zweck sie diese Bücher brauchen. Der Chemiker etwa, der Kopien von Nazi-Liederbüchern haben wollte, konnte sich nicht erklären, die Anfrage wurde abgelehnt. „Wir dachten, da plant einer seinen nächsten Kameradschaftsabend“, sagt Jörg Räuber. Ein anderer Herr bestellte auf der Suche nach seiner alten Jugendliebe Irene stapelweise die „St. Pauli-Nachrichten“. Er bekam die Hefte schließlich und hinterließ sie mit herausgerissenen Seiten.
Doch derlei Ärgerliches passiert selten, weil Leute mit kruden Absichten dafür nur selten die DNB aufsuchen, die Hemmschwelle sei in diesem Haus zu hoch, erklärt Jörg Räuber. Man kann sich die erwünschte Ausgabe nicht einfach aus dem Regal rausnehmen, muss sich den Mitarbeitern stellen bei der Order.
Sind Originalausgaben per Gerichtsurteil verboten wie Maxim Billers Roman „Esra“, für den des Autors Ex-Freundin und deren Mutter wegen Verunglimpfung das Einstampfen erwirkten, geht nur die geschwärzte oder veränderte Version in die Ausleihe, fürs Original bedarf es wieder der Genehmigung.
Im Fall von „Esra“ forderte der Verlag Kiepenheuer & Witsch die unzensierte Erstausgabe zurück, doch die DNB weigerte sich und erinnerte an ihren Auftrag: Sammeln! Alles!
Wird ein Link in 50 Jahren noch zu öffnen sein?
Michael Fernau, seit 2008 Direktor der Bibliothek, erzählt, dass Verbotenes immer eins zur Folge habe: „Die Neugierde wird nur noch größer.“ Was aber, wenn der Index selbst verboten wird, weil er so spannend ist? „Dann“, sagt Fernau, „legen Bibliothekare, die gern Listen anlegen, eine über solche Listen an, die sie nicht anlegen dürfen.“
Auch wenn die Digitalisierung vieles umbricht, Bücher würden immer von Interesse bleiben, prophezeit der Chef, so wie das Ischtar-Tor oder der Pergamonaltar. „Sie werden das, was Ölgemälde heute sind.“ Sinnlichkeit und Haptik – unersetzbar durch ihre virtuellen Pendants. Die Herausforderung sei viel eher: Wird die zukünftige Technik auch noch die von heute lesen können? Wird ein Link in 50 Jahren noch zu öffnen sein?
Der gesamte Bestand muss ins Netz gehoben werden, darunter sogenannte Mumienbücher, die in Mullbinden gewickelt sind, weil sich aus Altersgründen schon die Deckel abspreizen. Noch heute müssen ganze Magazinbestände zur Entsäuerung, damit das Papier nicht brüchig wird und vergilbt. Mit dem Verfahren schaffte es die DNB sogar in einen Leipziger „Tatort“ mit dem unheilvollen Titel „Blutschrift“. Wie sie im Übrigen oft als Filmkulisse herhält. Meist aber nicht als Bibliothek, sondern als Uni oder Gericht.
Lesesäle funktionieren als Partnerbörsen
Schön ist der Bau auch von innen. Im alten Teil geht’s über Marmorböden, vorbei an Mosaiken und Ornamenten. Inzwischen vorbei an Kameras, seit sich jemand am Ölgemälde, das die Gründungsväter zeigt, zu schaffen machte. Acht Säle stehen den Besuchern offen, von cool bis gediegen, darunter einer mit Namen „Shoah“ für Holocaust- und Exilliteratur. Im „Lesesaal Geisteswissenschaften“ hätte das Harry-Potter-Filmteam ein probates Set gefunden mit seiner Wandvertäfelung, den grünen Bankerlampen. Unter denen verfällt der eine oder andere Richtung Nachmittag gern in ein Nickerchen.
Man kann sich wohlfühlen in der DNB, so sehr, dass Jörg Räuber manchem Benutzer unterstellt, er würde hier im Hause wohnen. Früh um neun zur Pfortenöffnung, pünktlich da, zur Schließung um 22 Uhr erst wieder raus. Und funktionieren Lesesäle aller Bibliotheken weltweit nicht auch als Partnerbörsen? In der DNB bahnten sich Ehen an, bei einer „Museumsnacht“ erzählten Pärchen ihre Kennenlern-Story.
Von der alten Pracht führt ein Gang zur neuen, ins Deutsche Buch- und Schriftmuseum. Der Anbau ist so gläsern, weiß und licht, dass er wenig museal wirkt. Hinter fünfschichtigem Spezialglas werden auf gut 1000 Quadratmetern bei buch- und menschenfreundlichen Temperaturen 5000 Jahre Mediengeschichte abgebildet.
Tricks und Kniffe, die Zensur zu umgehen
Es ist das Reich von Stephanie Jacobs, Museumsleiterin, vor zehn Jahren in Leipzig angekommen. Eine versierte Kuratorin, die hier den Spagat versucht. Mit ihrer Ausstellung „Von der Keilschrift zum Binärcode“ will sie den Literaturprofessor ebenso begeistern wie das Teeniemädchen. Man darf annehmen, dass das so ziemlich jeden Tag gelingt.
In bumerangförmigen Vitrinen warten Exponate wie die Gedächtniskette aus dem 19. Jahrhundert, die – gespickt mit Holzfiguren – dem Märchenerzähler als Gedächtnisstütze diente. Oder das Kerbholz, das mit seinen Schnitzern eine Art Vertragsvorläufer darstellt. Ein Bauer schuldet dem anderen zehn Schafe, macht zehn Kerben. Zeichen als Vorfahren der Schrift, das wird hier abgebildet.
Einkaufszettel, Leuchtschrift, Tarnschrift oder Liebesbrief, der Mensch notiert schon ziemlich lange. Aber er zensiert auch gern und viel. Und schon kommt der Teil des Museums, der das meiste Staunen provoziert: Tricks und Kniffe, die Zensur erfolgreich zu umgehen. Regimekritische Schriften in Teebeuteln, in Fahrplänen und Pflanzensamen-Tütchen.
Am Anfang fürchtete sich Stephanie Jacobs noch, durchs Gästebuch zu blättern, die Leipziger können echte Meckerfritzen sein. Doch inhaltlich war alles „scheen“. Beklagt wurde hauptsächlich das Fehlen von Klappstühlen für Rentner, die Spiegelung an den Vitrinen, und dass kein Café im Anschluss an den Rundgang wartet. Es gab allerdings auch Meinungen wie diese, anonym hinterlassen: „Und alle meinen, ich sei verrückt, wenn ich später mal in der DNB arbeiten will. Die haben ja keine Ahnung!“
Reisetipps für Leipzig
Hinkommen
Mit der Bahn ab 19,90 Euro in einer guten Stunde, mit dem Flixbus ab 7,90. Weiter mit der Straßenbahn 16 Richtung Lößnig.
Rumkommen
Die Bibliothek öffnet Montag bis Freitag: 9–21.30 Uhr, Samstag: 10–17.30 Uhr, www.dnb.de
Die Leipziger Buchmesse findet vom 15. bis 18. März 2018, www.leipziger-buchmesse.de
Judka Strittmatter
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