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Der niederländische Fotograf und Regisseur Anton Corbijn.
© Stephan van Fleteren

Starfotograf Anton Corbijn: „Ich dachte, es gibt nur einen Radiosender“

Vom Vater bekam der schüchterne Junge eine Kamera, die verwandelte ihn. Warum Anton Corbijn U2 schätzen lernte und Bob Dylan noch einmal treffen muss. Am 7. November beginnt eine Retrospektive im C/O Berlin.

Herr Corbijn, haben Sie stets Ihre Hasselblad dabei, wenn Sie durch Ihren neuen Wohnort Berlin gehen?
Das Problem mit Equipment: Ich muss es mit mir herumschleppen, selbst eine relativ kleine Kamera wie die Hasselblad. Mein Rücken ist inzwischen so kaputt, dass ich nichts mehr unnötig tragen will. Wenn mich ein Motiv fasziniert, nehme ich erst mal ein Bild mit dem Smartphone auf.

Und dann posten Sie es?
Nein, ich bin jetzt zwar auf Facebook, aber das scheint schon wieder passé zu sein. Die Menschen fotografieren die ganze Zeit, sie müssen irgendwohin mit den Bildern. Prinzipiell bin ich nicht gegen moderne Technik, nur im Fall der Fotografie finde ich die analoge schöner. Vom Standpunkt des Handwerkers ist sie interessanter. Mit der Hand mache ich Fehler. Ich weiß nicht, ob das, was ich durch den Sucher sehe, am Ende das Foto zeigt.

Sie reizt das Warten.
Dieses kalkulierte Risiko gehört zu meinem Beruf. Auf eigene Kosten fliege ich nach Peking, treffe den Künstler Ai Weiwei für einige Minuten, mache meine Bilder, vertraue meine Kamera dem Röntgenapparat am Flughafen an und entwickle zu Hause den Film. Das ist ein großes Abenteuer, wo vieles schiefgehen kann! Die Gesellschaft propagiert heute unmittelbare Belohnung. Ich bekomme meine Befriedigung lieber später.

Berühmt wurden Sie mit Schwarz-Weiß-Aufnahmen von Musikern. Eine der ersten zeigte Ihren Landsmann Herman Brood, wie er sich in den 70er Jahren Heroin spritzte. 2002 stürzte er sich vom Dach eines Hotels in Amsterdam, wahrscheinlich, weil er mit seiner Drogensucht nicht klarkam.
Ich zeige diese Bilder nicht mehr öffentlich, weil Jugendliche sonst denken, dass Heroin cool sei. Sie müssen die Zeit verstehen. Die 70er Jahre in Holland waren ein Jahrzehnt, in dem Drogenkonsum geduldet wurde. Ich würde mir nie Rauschmittel injizieren, Herman war ein Rockstar, das gehörte dazu. Wenn ich ihn fotografierte, fand ich das nicht so drastisch. Hatte ich den Apparat nicht dabei, und das passierte einmal, musste ich mich wegdrehen. Ich konnte es nicht ertragen, mitanzusehen, wie er sich die Spritze setzte.

Blendeten Sie die Welt aus, wenn Sie durch den Sucher guckten?
Es war meine Art, an ihr teilzuhaben. Auch wenn ich unsichtbar blieb. Obwohl ein Teil von mir gesehen werden wollte. Ich wollte meine Bilder veröffentlichen.

Als Sie 1982 begannen, mit U 2 zu arbeiten, war das ein bewusster Karriereschritt, um im Rockgeschäft zu landen?
Nein. Ich wusste überhaupt nicht, wer oder was U2 sind. Es war ein Auftrag für den „New Musical Express“. Ich hatte ihn nur angenommen, weil die Aufnahmen in New Orleans stattfinden sollten und mich die Stadt interessierte.

Ist schon in Ordnung, Herr Corbijn!
Im Flugzeug hörte ich mir dann auf dem Walkman ihr Album „October“ an. Oh Gott! Hat mir überhaupt nicht gefallen! Ich dachte, ich würde die Band abends kurz auf dem Schiff treffen, wo sie ein kleines Konzert gaben, und mich dann in die Bars der Stadt verdrücken. Was ich nicht wusste: Das Schiff legte ab. Ich war also auf dem Kahn gefangen und musste mir das ganze Konzert anhören. Wir verstanden uns überraschenderweise ziemlich gut, am nächsten Tag saß ich schon mit ihnen in einem Bus nach Texas. Und als sie das nächste Mal Fotos für eine Platte brauchten, fragten die Jungs wieder nach mir.

Seitdem haben Sie jedes Album für die Band fotografiert. Einige Bilder sind bald in der Retrospektive in der Galerie C/O Berlin zu sehen …
… als ich die Bilder aufhängte, hatte ich das Gefühl, solche Fotografie macht heute keiner mehr. Das heißt nicht, dass die Bilder besser oder schlechter sind. Bloß würde sie keine Zeitschrift der Welt mehr drucken, wenn ich ein junger unbekannter Fotograf wäre.

Warum?
Ich habe Bilder von LL Cool J gemacht, der Rapper wäre ein begehrtes Motiv für viele Magazine. Ein Fotograf hat heute ein Konzept im Kopf, er weiß schon vorher, wie die Bilder am Ende aussehen sollen. Ich nicht. Ich mache spontane Charakterstudien, keine Inszenierungen. Meine Ära des Bildermachens geht seinem Ende entgegen.

Wie haben Sie LL Cool J denn aufgenommen?
Draußen im Regen, irgendwo in Brooklyn. Es stehen zwei Autos im Hintergrund, und er ist gar nicht so groß auf dem Bild zu sehen.

Es könnte also jeder sein.
Aber es ist eben nicht jeder. Ich erinnere mich, ich habe ihn einmal vor Jahren fotografiert und die Filme extrem unterbelichtet. So furchtbar, dass ich keinen Abzug machen konnte. In so einem Fall hilft mir jetzt digitale Technik. Ich habe das Negativ am Computer so stark bearbeitet, dass ich doch noch ein Foto herausbekommen habe.

Der Künstler Olafur Eliasson mag das Licht an einem Herbstnachmittag. Und Sie?
Ich bin mit holländischem Licht aufgewachsen, eine Menge Wolken mit punktueller Helligkeit zwischendrin. Auf den Gemälden der alten Meister sehen Sie das sehr schön. Sonnenlicht ist gut für Atmosphäre, für Porträts sind bewölkte Himmel wie in Holland besser. Mir liegen die Wechsel der vier Jahreszeiten, ich finde Regen schön.

Wieso das denn?
Wahrscheinlich ist es Nostalgie. Wenn ich bei Regen aus dem Fenster schaue, erinnere ich mich an meine Kindheit in den 50er und 60er Jahren. Wie ich als Kind im Haus saß, sicher, warm, draußen regnete es und es roch nach Dung. Ich erinnere mich an die frühen Lieder der Beatles, das war die Musik, die zu der Zeit lief. Nur nicht zu Hause. Ich bekam erst mit zwölf Jahren einen Plattenspieler, und bei meinen Eltern war das Radio immer auf den Sender mit klassischer Musik eingestellt.

Sie hätten einfach den Sender verstellen können.
Mit zehn Jahren war mir gar nicht bewusst, dass es andere Radiosender gab. Ich habe im Dorf ein paar Menschen gehört, wie sie über die Beatles redeten, ich sah die Bilder von ihnen beim Friseur. Ihre Musik muss ich irgendwo gehört haben, aber bestimmt nicht zu Hause.

Er war der älteste Sohn des Dorfpastors ...

Sie hatten eine strenge Erziehung?
Als ältester Sohn des Dorfpastors musste ich ein gutes Beispiel für alle Kinder abgeben. Ständig sollte ich mich benehmen. Ich durfte am Sonntag nicht mit dem Rad fahren. Kinder wollen aber natürlich genau das. „Wenn du trotzdem fährst, wird was Schlimmes passieren“ – kleinen Jungs machten diese Gebote, die wie düstere Prophezeiungen klangen, Angst.

Vivienne Westwood erklärte, dass sie als Kind von Kirchenmalereien traumatisiert wurde.
Mein Vater leitete eine protestantische Kirche, da gab es nur weiß gestrichene Wände und ein schlichtes Kreuz am Altar. Ich sehe meine ikonischen Fotografien als rebellischen Akt, um dagegen zu protestieren, dass wir nie Bilder an der Wand hatten. Nur selbst gemalte Gemälde meines Großvaters, auf denen Dörfer zu sehen waren, langweilige Motive. Aber wenigstens war mein Großvater kreativ, dieses Gen ist nicht auf meinen Vater übergesprungen. Er hatte keine Ahnung von Kunst.

Aufgewachsen sind Sie damals auf einer Insel in der Rheinmündung.
Mit fünf kleinen Siedlungen darauf. In den 50er und 60er Jahren kam mir dieses Leben völlig isoliert vom Rest der Welt vor. Heute gibt es Tunnel und Brücken, man bekommt überhaupt nicht mehr mit, wann man auf die Insel fährt oder sie wieder verlässt. Damals gab es nur am nördlichen Ufer eine kleine Metallbrücke, eine Fahrspur auf jeder Seite, die in Richtung Rotterdam führte. Vor unserem Haus floss das Wasser. Ich hatte ein Kanu, mit dem ich als Kind oft unterwegs war und davon träumte, wie schön das Leben auf der anderen Seite des Wassers sein müsste.

Haben Sie sich mit Geschichten weggeträumt?
Nein, obwohl ich viel gelesen habe. Kinderbücher über den Zweiten Weltkrieg, wie holländische Kinder sich verstecken mussten. Das waren allesamt christliche Autoren, die kleinen Jungs in den Geschichten beteten ziemlich oft, von den Gräueln des Kriegs erzählten sie wenig.

Die Deutschen waren für Sie die Bösen?
So schwarz und weiß waren die Bücher auch nicht. Allerdings wirkte der Krieg lange auf meine Eltern nach. Sie fanden es über viele Jahre hinweg unerträglich, nach Deutschland zu fahren. Wenn ein uniformierter Beamter an der Grenze rief: Ausweise!, hatte das bei ihnen automatisch eine körperliche Reaktion zur Folge. Sie erstarrten. Dabei waren sie religiös erzogen, sie glaubten an die Kraft der Vergebung, doch sie konnten nichts gegen dieses Gefühl des Unwohlseins tun.

Als Ihr Vater gestorben war, erfuhren Sie, dass er nicht die große Liebe Ihrer Mutter war.
Das war ein Schock. Meine Mutter litt an Alzheimer, sie wurde fast wie ein Kind und sehr ehrlich. Eines Tages erzählte sie mir von diesem anderen Mann. Ich wusste genau, wen sie meinte. Denn er kam manchmal zu Besuch. Ein großer beeindruckender Kerl, auch Pastor, aber in der Marine. Wenn er uns besuchte, trug er Uniform und fuhr einen Mercedes – alles Dinge, die mein Vater nicht hatte.

Führten Ihre Eltern dennoch eine glückliche Ehe?
Sie waren altmodisch, sie haben es irgendwie geschafft. Dieser andere Pastor hatte um die Hand meiner Mutter angehalten, aber mein Großvater verweigerte sie ihm. Später heiratete sie meinen Vater. Das war damals keine große Sache. Heute können wir uns das kaum vorstellen, dass wir etwas derart Weitreichendes tun, was uns nicht gefällt.

Sie hadern noch mit Ihrem Vater. Immerhin gab er Ihnen die erste Kamera.
Das war ein Modell von Mamiya, nichts Besonderes. Mein Vater hatte einen guten Freund, den Dorfarzt. Der riet ihm dazu, damit ich Fotos von unseren Ferien machen konnte. Dieser Apparat hat mir tatsächlich geholfen. Wenn man wie ich schüchtern ist, denkt man die ganze Zeit, jede Person im Raum redet über einen. Als ich auf meine ersten Konzerte ging, den Fotoapparat um den Hals, fiel die Spannung von mir ab. Ich hatte eine Aufgabe, ich fotografierte die Musiker auf der Bühne. Der Fotoapparat gab mir Sicherheit.

Er war Ihr Schlüssel zur Welt.
Ich verstehe, wie Kriegsfotografen ihre Arbeit machen können. Sie schauen durch den Sucher, und vergessen, dass sie körperlich anwesend sind. Sie nehmen ein Risiko auf sich, das sie ohne Kamera nie eingehen würden. Für mich bedeutete die Kamera, dass ich begann, mich mit Menschen zu verständigen, mit denen ich mich sonst nie hätte unterhalten können. Die Kamera gab mir das Gefühl, ich müsste etwas mit ihr tun.

Wie Tom Waits und Herbert Grönemeyer seine Freunde wurden

So wurden Sie zum Freund von Tom Waits und Herbert Grönemeyer. Dieses Leben in Musikerkreisen begann damit, dass Sie 1979 die Band Joy Division fotografierten.
Ich traf sie auf einem Konzert, als ich gerade zehn Tage in London war. In gebrochenem Englisch bat ich darum, sie fotografieren zu dürfen. Ich kannte die Stadt kaum, der einzige Treffpunkt, der mir einfiel, war die U-Bahnstation nahe meiner Souterrainwohnung. Jahrelang habe ich verschwiegen, dass es der Bahnhof Lancaster Gate war, weil ich nicht wollte, dass andere Fotografen das Motiv kopierten. Aber jetzt hat man ihn derart saniert, dass man gar nichts mehr wiedererkennt.

Durch dieses Foto, auf dem die Band in die Station hineinläuft und nur Sänger Ian Curtis zurückblickt, wurden Sie berühmt.
Es war kalt an dem Tag, die vier Jungs behielten ihre Arme in den Taschen und schüttelten mir zur Begrüßung nicht einmal die Hand. Sie fanden es komisch, die Bilder unten in der U-Bahn zu machen, aber interessant genug, um es durchzuziehen. Erst als wir nach zehn Minuten und eineinhalb Filmen mit etwa 35 Bildern fertig waren, haben sie mir die Hand gegeben.

Schon damals war London alles andere als günstig.
Ja. Schon nach sechs Monaten war ich pleite, ich flog hochkant aus der Wohnung – und musste in ein besetztes Haus in Dalston, im Osten Londons, ziehen.

Heute eine begehrte Gegend.
Vor 30 Jahren war es sehr deprimierend. Wir bezahlten jeder ein Pfund pro Woche als symbolische Miete, damit waren wir bei den Behörden anerkannt. Das Gebäude war heruntergekommen, es gab kein Warmwasser. Jeden zweiten oder dritten Tag gingen wir in ein Badehaus die Straße runter, wo wir etwas für Handtücher und Seife zahlten und uns duschten. Mir war klar, ich kann nicht zurück nach Holland. Dann wäre ich ein Versager, einer, der es in England nicht geschafft hatte. Heute denke ich: Nach 30 Jahren London und den aufreibenden Fahrten durch die Stadt ist es eine Erleichterung, einfach das Fahrrad zu nehmen und in fünf Minuten beim Arzt zu sein

In Ihrer Karriere haben Sie nur eine politische Kampagne fotografiert – für den niederländischen Sozialdemokraten Wim Kok 1999. Warum?
Ich bereue es ein bisschen. Zu der Zeit lebte ich schon so lange in London, ich hatte Heimweh nach Holland. Und ich konnte die politische Situation aus der Ferne nicht sehr gut einschätzen. Wim Kok war für mich mehr ein Staatsmann als ein Politiker.

Ist das ein Unterschied?
Staatsmänner kümmern sich um das Land, das sie regieren, Politiker um die Partei, in der sie sind. Ich hätte es trotzdem nicht tun sollen. Er begann später für große Unternehmen zu arbeiten. Irgendwie war ich enttäuscht.

Die „New York Times“ wollte einmal, dass Sie den rechtspopulistischen Politiker Jörg Haider fotografieren …
… und ich lehnte ab. Ich wollte Haider nicht zu einer Ikonisierung durch meine Bilder verhelfen.

Wen würden Sie unbedingt gern fotografieren?
Ich könnte wirklich ein besseres Bild von Uncle Bob machen.

Von wem bitte?
Bob Dylan. Ich habe ihn einmal fotografiert, das war ein zufälliges Treffen. Das würde ich gern besser machen. Ich will ihm nur nicht hinterherjagen, das wäre gegen meine Natur. Ich glaube daran: Eines Tages wird es eine Möglichkeit geben. Aber vor seiner Tür warten werde ich nicht.

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