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Wege übers Havelland. Schriftstellerin Juli Zeh lebt seit Jahren auf dem Dorf. Sie ist sich nicht sicher, ob sie hier auch alt werden möchte.
© Thomas Müller/Promo

Ein Besuch bei Juli Zeh: Clash der Dorfkulturen

Eine kleine Gemeinde und die großen Fragen unserer Zeit: Juli Zehs neuer Roman spielt in Brandenburg. Mit dem Landleben kennt sie sich aus.

Eine gerade Dorfstraße mit sandigen Rändern, kein Fußweg, eine Feldsteinkirche, blühende Fliederbüsche, und Berlin weit weg. Ab und zu ein Auto, noch seltener ein Fußgänger. Die Dörfer in der Umgebung von Nennhausen haben mal 50, mal 250 Einwohner. In einem von ihnen lebt die Autorin Juli Zeh seit zehn Jahren. Hier ist Brandenburg bloß Felder und Wälder, ein paar Flutgräben und ein paar Seen. Es ist die Gegend des Trappenschutzgebietes, wo sich die Vogelschützer über jedes Ei freuen, das eine Trappenmutter ausbrütet.

Wer Juli Zeh besucht, um mit ihr über das Leben auf dem Dorf zu sprechen, der hat das große Thema ihres neuen Romans „Unterleuten“ schon hinter sich gelassen. Unterleuten handelt vom Zusammenstoß der Interessen in einem Dorf, als in der Nähe ein Windpark gebaut werden soll. Es kommt zum brutalen Crash zwischen Menschen- und Tierschützern und denen, die mit der Energiewende-Infrastruktur Geld verdienen wollen.

In der havelländischen Wirklichkeit stehen die Windräder weit entfernt vom Wohnort der Autorin. Dafür sind es nicht bloß zehn, wie für Unterleuten geplant, sondern einige Dutzend, aufgereiht an der Bundesstraße 5 bei Nauen: surrende Maschinen, die die Luft umrühren, mit einem rotierenden Zischen, das so lange dauert, wie der Wind weht. Juli Zeh ist keine Freundin der Windräder; schon gar nicht sieht sie in ihnen den zu Stahl gewordenen Ausdruck ökologischer Vernunft. „Von allen Infrastrukturmaßnahmen, die etwas Verschandelndes haben, haben die Windräder eine Sonderrolle: weil sie sich bewegen. Sie erinnern mich an alles, was das Leben beschwerlich macht. An die Energiewende denke ich nicht, die kommt an zehnter Stelle.“

Durchtriebenheit gegen vormundschaftliches Denken

In „Unterleuten“ sollen bloß ein paar Grundstücke den Besitzer wechseln, damit der Windpark gebaut werden und dem Dorf – oder dem Besitzer der Flächen – Gewinn bringen kann. Juli Zeh hat aus dem Interessenkonflikt eine große und spannende Geschichte gemacht – eine, die weit über das Dorf hinausweist in eine Welt, in der mancher nicht mehr weiß wohin mit seinem Geld und andere noch immer Wut über den Untergang der DDR verspüren.

Auf 640 Seiten tritt die Vernunft gegen die Gier an, alter Hass gegen neue Chefautorität, Durchtriebenheit gegen vormundschaftliches Denken, Naivität gegen Realismus. In „Unterleuten“, in den alten Bauern- und Bürgerhäusern, in der Dorfkneipe, auf dem Gelände des großen landwirtschaftlichen Betriebs, der aus der LPG hervorgegangen ist, zeigt sich, was die Leute bewegt.

Und wer hier wen zu was bewegen will. Das ist Linda, die in Unterleuten ihren Traum von einer Pferdezucht verwirklichen will; das ist Gerhard, der Stadtflüchtling und Romantiker, der als Vogelschutzbeauftragter einen Ökologentraum zu leben versucht; da sind der Agrarunternehmer und Patriarch Gombrowski, ein autoritärer Knochen, in dem die Fürsorglichkeit früher preußischer Gutsbesitzer aufscheint, mit seiner fügsamem Frau und seiner forschen Tochter – und das sind nur ein paar der Protagonisten in diesem auf kleinem Raum spielenden Gesellschaftsroman.

Einen Helden – oder eine Heldin – gibt es nicht

Es war ein Zufall, der Juli Zeh von Leipzig ins Havelland bewegt hat, ein Zufall in Gestalt eines alten Hauses, in dem sie wohl vor allem große Möglichkeiten sah. Angekommen ist sie schnell. Aus der Rheinländerin ist eine brandenburgische Landbewohnerin geworden, offenbar ohne größere Widerstände.

Es gebe eine „relative Offenheit gegenüber Fremden“, sagt sie. Vielleicht hänge das damit zusammen, dass die Brandenburger Zuzug gewohnt sind. Flüchtlinge kamen in preußischen Zeiten genauso wie nach dem Zweiten Weltkrieg, und zwar en masse. Jedenfalls erlebt Juli Zeh das Landleben eher klischeefrei. Sie merke nichts von Rechtsextremen oder AfD-Wählern, sagt sie. In „Unterleuten“ geht es nicht um politische Klischees, sondern, viel spannender, um Interessenpolitik.

Einen Helden – oder eine Heldin – gibt es nicht, bloß Schicksale, die sich gegenseitig beeinflussen. „Ich verstehe die alle“, sagt Juli Zeh über ihr Personal. „Ich habe versucht, die Leute so agieren zu lassen, wie ich das selber tun würde.“ Etwa Dorfbürgermeister Arne oder eben Agrarunternehmer Gombrowski; beide sagen sich und den Leuten im Dorf: „Wir brauchen einfach dieses Geld für die Grundversorgung.“ Juli Zeh kann das als Argument für zehn Windräder am Waldrand nachvollziehen. Über die Dörfer hier im Havelland sagt sie: „Es ist Wahnsinn, wie arm diese Kommunen sind.“ Die Kommunen, und auch manche Alten. Bei ihr im Dorf, erzählt Juli Zeh, gebe es in der Vorweihnachtszeit eine kleine Sammlung – damit sich die Rentner Kekse leisten können.

Über den Windpark werden die Unterleutener in Juli Zehs Roman bei einer Versammlung in der einzigen Kneipe des Dorfs informiert. Sie hören: Der Park kommt auf jeden Fall, das ist höheren Orts längst entschieden – bloß wo genau, das ist die Frage. So fühlt sich Politik auf dem Dorf an: Wir machen unseres hier – und irgendwo entscheiden bedeutende Leute über große Fragen. „Ich hab’ das Gefühl, Politik findet in den Städten und für die Städte statt“, sagt Juli Zeh. Vom Havelland aus gesehen, ist auch Potsdam weit weg. „Gar nichts“, bekomme sie von der Potsdamer Politik mit, „null“, sagt Juli Zeh. „Das geht aber allen so. Potsdam spielt für uns keine große Rolle.“

„Der Brandenburger Humor ist voller Fatalismus“

Im Dorf regeln die Leute ihre Angelegenheiten unter sich, auch in direkter Auseinandersetzung. Das macht „Unterleuten“ zum Roman mit Krimi-Elementen und führt vor, wie wenig das Dorfleben mit Landlustromantik und Träumen von blühenden Feldern und lauschigen Wäldern zu tun hat. Die große Freiheit, die man auf dem Land so leicht empfindet, der Raum, den man hat und nicht dauernd teilen oder verteidigen muss, der Abstand, der Beziehungen zu anderen manchmal besser erträglich macht – all das gibt es nicht umsonst. Zwei Stunden braucht man für den Einkauf.

Und „längere Schlechtwetterphasen“, so Juli Zeh, erinnern an das, was Städte bieten. „In der Stadt kann man irgendwo hin, in ein Museum, in eine Buchhandlung. Hier gibt es buchstäblich nichts.“ Nur Landschaft und Himmel. Und für Kinder die Möglichkeit, die Welt zu entdecken. „Die Kinder laufen hier relativ früh selbstständig durch die Gegend“, sagt Juli Zeh, die mit ihrem Mann zwei Kinder groß zieht. „Und die Kindercliquen sind auf dem Dorf altersmäßig nicht so homogen.“ Was dazu führe, dass später 15-Jährige von 18-Jährigen mit in die Disco oder den Club genommen werden. Da setzt sich fort, was man in der Kinderclique gelernt hat: dass die Älteren die Jüngeren „mit viel Verantwortungsgefühl und großer Vernunft“ behandelten.

Also Brandenburg für immer? „Es gibt zum Beispiel keine Ärzte“, sagt Juli Zeh. „Das ist ein Problem, wenn man kleine Kinder hat oder alt ist.“ Deshalb findet sie es „schwer vorstellbar, hier alt werden zu müssen. In dem Moment, wenn man nicht mehr Auto fahren kann, ist man abgemeldet“. Es gebe allerdings auch viel Hilfsbereitschaft.

Und es gibt diesen sandbodentrockenen Witz. „Der Brandenburger Humor ist voller Fatalismus“, sagt Juli Zeh nach zehn Jahren Erfahrung: „Es gibt keine Verbitterung. Der Brandenburger ist fähig, Härten ins Witzige zu wenden.“

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