Die größte Spionageaffäre der Bundesrepublik: Klaus Kuron will mehr
5200 Mark Gehalt reichen ihm nicht, der Kredit fürs Haus frisst alles auf. Die Lösung: Klaus Kuron bietet sich der Stasi an.
Der Mann mit dem runden Gesicht und der hohen Stirn parkte seinen Mercedes 230 in einer Seitenstraße. Er stieg aus, schlüpfte in einen beigen Mantel, drückte einen Schlapphut auf seinen Kopf und eine Sonnenbrille auf seine Nase. Es hatte schon seinen Grund, weshalb er nicht erkannt werden wollte. Am Haus in der Godesberger Allee 18 in Bonn fingen Kameras alle Bewegungen direkt vor dem Gebäude ein. Sie erfassten auch den Mann im beigen Mantel, der an diesem Septemberabend 1981 einen braunen Umschlag in den Briefkasten warf. Die Post landete damit bei der Ständigen Vertretung der DDR in der Bundesrepublik.
So banal begann „die größte Spionageaffäre in der Geschichte der Bundesrepublik“.
Gerhard Boeden fällte dieses Urteil viele Jahre später, nach dem Fall der Mauer. Im September 1981 war er noch Chef des Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV), er hatte keine Ahnung, dass einer seiner besten Leute diesen Umschlag eingeworfen und darin der DDR-Staatssicherheit anonym seine Dienste angeboten hatte. Am Ende dieser Affäre sollten mehr als ein Dutzend Doppelagenten des BfV aufgeflogen sein. Spione der DDR, die der Verfassungsschutz enttarnt hatte und die nun heimlich für die Westdeutschen arbeiteten.
Gier und verletzte Eitelkeit
Natürlich verschwieg Klaus Kuron beim Erstkontakt seinen Namen. Natürlich prahlte er nicht mit den Lobeshymnen, mit denen seine Vorgesetzten ihn, den Regierungsamtsrat, beurteilt hatten. „Eine ausgesprochene Begabung“ zum Beispiel. Oder: „Ein Vorbild beispielhafter und erfolgreicher Arbeit.“ Der Job des Verfassungsschützers Kuron sah so aus: Er führte Doppelagenten, er sammelte Informationen über Strukturen und Arbeitsweisen des DDR-Geheimdienstes.
Er enttarnte feindliche Agenten.
Ein Überläufer mit diesem Wissen ist für einen gegnerischen Geheimdienst eine beinahe einmalige Gelegenheit. Markus Wolf, Chef der DDR-Auslandsspionage, nannte Kuron „eine absolute Spitzenquelle“.
Dieser frühere Top-Informant lebt heute im Ruhrgebiet. Eine Anfrage des Tagesspiegel für ein Interview lehnte sein Anwalt ab.
Der Fall Klaus Kuron, das ist eine Geschichte über Gier und verletzte Eitelkeit. Zwei der klassischen Motive in spektakulären Kriminalfällen.
War das eine Falle?
Doch im September 1981 wusste die Stasi noch nicht, dass sie auf eine menschliche Goldader gestoßen war. Sie hatte nur diesen Brief, geschrieben in Großbuchstaben, in dem stand: „Ich bin bei der Spionageabwehr des Bundesamts für Verfassungsschutz.“ Wenn sie interessiert sei, möge die Stasi dies am nächsten Tag um 8 Uhr auf der Frequenz 6,5 Megahertz mitteilen. Ein Zehn-Mark-Schein lag auch bei. Der Funkspruch sollte mit den ersten fünf Ziffern der Banknote beginnen. Die weiteren Zahlen sollten Datum und Ort bestimmen, wo man sich um 13 Uhr treffen könne. Drei Varianten gab der Unbekannte zur Auswahl. Und damit niemand auf die Idee kam, hier sei ein Witzbold am Werk, standen im Brief noch Details über eine Aktion gegen einen Stasi-Mitarbeiter, die das BfV in Wien plante.
Doch die Stasi war überaus vorsichtig. War das eine Falle? Oder doch ein echtes Angebot? Die DDR-Geheimdienstler wählten zwar das Manneken-Pis-Denkmal in Brüssel als Treffpunkt, aber dort tauchten sie nicht auf. Sie fotografierten nur in sicherem Abstand. Auch Kuron hielt sich bedeckt und beobachtete nur.
Monatelang lang tasteten sich beide Seiten ab, niemand traute sich aus der Deckung. Erst nach fast einem Jahr trafen sich Kuron und zwei hohe Stasi-Offiziere persönlich, im Schönbrunner Park in Wien. Die DDR-Geheimdienstler merkten schnell, dass es Kuron ernst meinte. Der Verfassungsschützer verriet ohne weitere Umstände einen Doppelagenten.
Er verriet Namen, Telefonnummern und Kennwörter
Genauso offen erzählte er, weshalb er zum Verräter wurde: Geldgier und Frust. Kuron war jetzt 45, er verdiente 5200 Mark, und als Regierungsamtsrat hatte er fast das Ende seiner Karrieremöglichkeiten erreicht. Oberamtsrat, Gehaltsstufe A 13, das war noch drin, mehr nicht. Er hatte ja nicht studiert, nicht mal das Abitur besaß er. Aber seine vier Kinder sollten auf die Uni, seine Frau sollte ihre Teilzeitarbeit aufgeben, sie war doch „völlig erschöpft“. Und der Kredit für das neu gebaute Haus fraß den letzten Rest des Einkommens auf.
In einem Interview für das Buch „Top-Spione im Westen“ von Klaus Eichner und Gotthold Schramm verbrämte Kuron seine Geldgier politisch. „Kinder als Armutsrisiko, das ist bis heute nicht überwunden. Die Umverteilung der Vermögenswerte von unten nach oben scheint in der BRD systemimmanent zu sein.“ In der Sozialpolitik der DDR habe er eine positive Alternative gesehen. „Ich glaube, in dieser Hinsicht ging es in der DDR gerechter zu.“
Und dann traf er im Amt auch noch Leute, denen er sich fachlich überlegen fühlte. Diese Leute verdienten mehr als er und saßen auf Leitungsposten, weil sie studiert hatten. Außerdem, davon war Kuron überzeugt, verdankten sie ihre Jobs vor allem politischen Beziehungen. Letztlich, sagte er, „war es ein Bündel von Motiven“. Da empfand er ein heimliches Zusatzeinkommen nur als gerecht. Kuron hatte dabei sehr klare Vorstellungen. 150 000 Mark Einmalzahlung und eine monatliche Zuwendung in Höhe von 4000 Mark – so viel sollte der Stasi die Arbeit des glänzend informierten Verräters schon wert sein. Die Summen hatte er schriftlich fixiert, die Forderungen übergab er in Wien den DDR-Geheimdienstlern.
Stasi-Chef Wolf war sehr großzügig
Die offizielle Zusammenarbeit sollte allerdings jenseits der Mauer besiegelt werden. Im Oktober 1982 fand deshalb ein komplizierter Transfer in den abgeriegelten Teil Deutschlands statt. Von seinem Führungsoffizier „Günther“ erhielt Kuron in Wien einen Diplomatenpass der DDR. In einem Auto mit DDR-Diplomatennummer wurde der Verfassungsschützer in die Tschechoslowakei gefahren. In Bratislava flog Kuron, in Begleitung eines weiteren Führungsoffiziers, in einer leeren Passagiermaschine nach Dresden. Am Ende traf er in einem stilvollen Altbau auf Spionage-Chef Wolf.
Der war sehr großzügig. Er akzeptierte Kurons Forderungen, sogar eine Rente wurde ausgehandelt. Kuron sollte nach 15 Jahren 60 Prozent seines Stasi-Gehalts bekommen. Dann ging es zum gemütlichen Teil über. In einer Weinstube im Keller schob der Spionage-Chef Dias mit den schönsten Orten der DDR in den Projektor.
Für die enorme Summe lieferte Kuron genügend Material. Der Verfassungsschützer nannte nicht bloß die Namen von Doppelagenten, er entlarvte auch Methoden, mit der die westdeutsche Spionageabwehr gegnerische Agenten identifizierte. In Kurons Stasi-Akte ist aufgelistet, was er aus dem Innenleben des Verfassungsschutzes ausplauderte. Er verriet Telefonnummern von BfV-Mitarbeitern und des Militärischen Abschirmdienstes (MAD), die Kennwörter des Verfassungsschutzes für die telefonische Auskunft beim Kraftfahrt-Bundesamt, Informationen über die Stabsstelle des BfV-Präsidenten. Kuron informierte auch über die Maßnahme „Nordland“. Was sich dahinter verbirgt, geht aus den Akten nicht hervor.
Auch Horst Garau ließ sich auf das Doppelspiel ein
Er bestand allerdings darauf, dass die Doppelagenten, die er verbal ans Messer lieferte, nicht festgenommen werden durften. Einerseits „aus prinzipiellen Erwägungen“, vor allem aber, damit er nicht als Maulwurf enttarnt werden konnte. So durfte die Stasi – zum Ärger einiger ihrer Mitarbeiter – auch Horst Garau erstmal nur beobachten, aber nicht verhaften. Garau, SED-Funktionär, Kreisschulrat in Calau bei Cottbus, gab nicht nur heimlich im Westen DDR-Spionen im Stasi-Auftrag Instruktionen. Er arbeitete genauso heimlich für den Verfassungsschutz. Er ließ sich auf das Doppelspiel ein, weil er sauer auf die Stasi war. Er musste erkennen, dass der DDR-Geheimdienst sogar ihm, dem so linientreuen Genossen, misstraute und ihn überwachte.
Doch mit Garaus geduldeter Freiheit war es am 24. August 1985 vorbei. Fünf Tage zuvor hatte ein übergewichtiger Mann im Grenzbahnhof Marienborn-Helmstedt den Interzonenzug verlassen und einem verblüfften DDR-Polizisten mitgeteilt: „Ich will in die DDR überlaufen.“ Hansjoachim Tiedge, Gruppenleiter „Abwehr Spionage DDR“ beim Bundesamt für Verfassungsschutz, war zum Verräter geworden. Nun wollte auch Klaus Kurons direkter Chef, getrieben von hohen Schulden und psychischen Problemen, für die Stasi arbeiten.
Die Stasi konnte endlich zuschlagen
Tiedge wusste natürlich nichts von Kurons DDR-Job. Aber für die Stasi bot die Flucht des vom Alkohol gezeichneten Verfassungsschützers die Chance, endlich zuzuschlagen. Sie verhaftete kurz danach mehrere Doppelagenten, darunter Garau. Jetzt konnte sie behaupten, Tiedge habe den entscheidenden Hinweis auf den Kreisschulrat geliefert. Kuron blieb geschützt.
Aber eigentlich hatte er ohnehin nicht wirklich Angst von einer Enttarnung. Der Sicherheitsdienst des BfV hatte weder mitbekommen, dass sich Kuron plötzlich teure Urlaube leistete, noch dass er sich an der Costa Brava eine Ferienwohnung zugelegt hatte. Nach der Tiedge-Flucht wurden mehrere Verfassungsschützer versetzt, Kuron durfte bleiben. Für ihn minimierte sich das Risiko auf zwei Punkte: „Kommissar Zufall oder ein Verräter.“
Garaus Frau sprach später von „Mord“
Doch wegen Garau erhielt der Fall Kuron noch eine dramatische Bedeutung. Der ehemalige Kreisschulrat, zu lebenslanger Haft verurteilt, hing 1988 im Gefängnis Bautzen tot an seinem Bettpfosten. Offiziell protokollierte ein Arzt: Suizid. Garaus Frau sprach von „Mord“. Sie zog in der Gerichtsmedizin Dresden gegen den Widerstand von Stasi-Mitarbeitern das Laken von der Leiche ihres Mannes. „Am Hals waren keine Würgemale, also konnte er sich nicht erhängt haben“, sagte sie nach der Wende Reportern. „Aber seine rechte Gesichtshälfte war blutig unterlaufen.“
Kuron sagte den Buchautoren Eichner und Schramm zwar, dass ihn Garaus Tod „schmerzt“. Doch mehr auch nicht. „Schuldig fühle ich mich nicht.“ Letzten Endes wisse jeder, der sich mit einem Geheimdienst einlasse, um die Gefahren „dieses Gewerbes“. Außerdem habe er sich in Ost-Berlin für die Freilassung von Garau eingesetzt.
Ein Verräter brachte ihn zu Fall
Die Einschätzung des Stasi-Spions, nur Zufall oder ein Verräter könne ihn enttarnen, war richtig. Der Zufall war es allerdings nicht. Die Mauer war bereits gefallen, da arbeiteten Stasi und Kuron noch, als wäre nicht viel passiert. Im April 1990 kassierte Kuron 30 000 Mark Agentenlohn, im August 1990 flossen weitere 18 000 Mark.
Ein Verräter brachte den DDR-Spion zu Fall.
Am 5. Oktober 1990 stand Kuron routinemäßig vor dem Kassenbüro des BfV, er kam mit einem Kollegen ins Gespräch, dabei wurde ihm schlagartig klar: Sein Spiel ist aus. Denn der Kollege hatte gerade 60 000 Mark Bargeld entgegengenommen, Honorar für einen Überläufer der Stasi, der in Kürze auspacken würde. Kuron stellte geschickt ein paar Fragen, dann konnte er sich die Antwort zusammenreimen. Der Überläufer war ausgerechnet Karl-Christoph Großmann, der stellvertretende Leiter jener Stasi-Abteilung, die Kuron betreute.
„Irgendwann sollte Ruhe eintreten“
Noch am gleichen Abend fuhr Kuron nach Berlin, um sich mit seinem Führungsoffizier zu beraten. Der schaltete den russischen Geheimdienst KGB ein. Die Russen waren bereit, Kuron nach Moskau zu fliegen. Dort lebte bereits der Stasi-Überläufer Tiedge. In letzter Sekunde überlegte es sich Kuron anders. Er dachte an seine Familie, er hoffte auf Strafmilderung, vielleicht sogar Straffreiheit. Die Zeit des Kalten Krieges war jetzt vorbei. West-Spione in der DDR wurden ja auch nicht angeklagt.
Unter einem Vorwand fuhr Kuron Richtung Köln. In der Nähe von Braunschweig rief er am nächsten Morgen beim Bundesamt für Verfassungsschutz an und enttarnte sich selber. Kurze Zeit später saß er in Untersuchungshaft. Über Großmann, der ihn ans Messer geliefert hat, sagte er später: „Vergessen kann ich das nicht. Aber irgendwann sollte Ruhe eintreten.“ Frühere Stasi-Mitarbeiter verachteten den Verräter, habe er gehört.
Im Februar 1992 verurteilte das Düsseldorfer Oberlandesgericht Klaus Kuron wegen „Landesverrat in besonders schwerem Fall“ zu zwölf Jahren Haft. Er habe die westdeutsche Abwehr „mindestens entscheidend geschwächt“. Seinen Agentenlohn, insgesamt 692 000 Mark, musste er, laut Urteil, wieder zurückzahlen.
1998 wurde Kuron aus der Haft entlassen. Er bezieht eine Rente, die teilweise gepfändet wird. Jetzt ist er wieder finanziell auf jenem Niveau, das ihn 1981 dazu trieb, einen braunen Umschlag in den Briefkasten der Godesberger Allee 18 in Bonn zu werfen. „Damals“, sagte er im Prozess, „war ich ja völlig verarmt.“