Zum Tod des Nazijägers Erardo Rautenberg: "Es bringt nichts, den Nationalismus nur abzulehnen"
Er war Generalstaatsanwalt und Bundestagskandidat, als ihn der Krebs aus dem Alltag riss. Zum Tod Erardo Rautenbergs unser Interview vom Dezember 2017 zum Nachlesen.
Herr Rautenberg, Sie erkrankten im Sommer so schwer, dass Sie alle Termine abgesagt haben. Vielen Dank, dass Sie uns zum Interview empfangen.
Gern, heute geht es mir ja einigermaßen gut. Die Chemotherapie hat angeschlagen, auch wenn sie mich an manchen Tagen sehr schwächt. Ich kann nicht meckern.
Traf Sie die Diagnose unerwartet?
Ja. Ich hatte mich seit einiger Zeit mittags müde gefühlt, mir aber nichts dabei gedacht. Als ich mich im Januar entschied, bei der Bundestagswahl für die SPD zu kandidieren, habe ich sogar noch Vorsorgeuntersuchungen machen lassen. Alles war o. k. Und, schwupp!
Wie wurde der Tumor entdeckt?
Ich hatte im Juni eine Gelbsucht bekommen. In der Charité haben sie darauf hin alles diagnostisch Einschlägige gemacht. Dabei sind sie auf den Tumor gestoßen. Bauchspeicheldrüsenkrebs – ich dachte, das sei das Ende. Ich habe mich noch am selben Nachmittag von meiner Frau und meinem Sohn verabschiedet. Wir verziehen uns gegenseitig Dinge, die gar nicht verziehen werden mussten. Dann kam der Arzt mit der Nachricht, dass ich zu den 20 Prozent der Fälle gehöre, bei denen ein Bauchspeicheldrüsentumor operiert werden kann.
Die „Märkische Allgemeine“ meldete Ihre Erkrankung damals auf Seite eins.
Der Chefarzt war darüber richtig erschrocken: „Das ist ja furchtbar.“ Ich antwortete ihm: „Ich stehe in der Öffentlichkeit, es geht nicht anders.“ Karten auf den Tisch! Sonst wird bloß spekuliert.
Sie gehen sehr offen mit Ihrer Krankheit um.
Na ja, ein Perückenmacher hätte meine Frisur sowieso nicht hinbekommen. Vor der Operation habe ich noch 10 000 Euro an die Partei überwiesen: für die Ausgaben, die von mir verursacht wurden. Danach habe ich angeboten, jemand anderen aufzustellen.
Hätten Sie das gut gefunden?
Für mich wäre es leichter gewesen, aber ich kann die Partei auch verstehen. Die Plakate waren gedruckt. Wir fanden den Kompromiss: Ich blieb Kandidat, aber alle Wahlkampfauftritte wurden gestrichen.
Mussten Sie sich ablenken?
Nö, ich habe nie mit der Krankheit gehadert. Ich dachte, nun musst du wieder durch ein Tal, eventuell ist ganz Schluss. Aber du kannst dich wirklich nicht beklagen. Ich habe in meiner Kindheit zwei Jahre eingegipst im Bett gelegen. Das war eine schlimme Zeit. Sonst hatte ich viel Glück im Leben.
Sind Sie enttäuscht, dass das mit dem Bundestag nicht geklappt hat?
Nein. Ich hatte wahrlich nicht den Wunsch, mein Berufsleben mit einem Bundestagsmandat noch, ja, zu krönen. Ich sah mich in der Pflicht. Im Winter, als ich mich aufstellen ließ, hatte ich das Gefühl, dass ich, der ich seit 20 Jahren gegen Rechtsextremismus kämpfe, bei derart hohen Umfragewerten der AfD nicht in der Zuschauerrolle bleiben kann.
Wie erlebten Sie den Wahlkampf?
Zunächst war ich erleichtert, dass ich auf so gut wie keine Europafeindlichkeit stieß. Damals, im März, stand ja zu befürchten, dass die Nationalisten in Holland und Frankreich an die Macht kommen würden. Bei meinen wenigen Wahlkampfterminen sagte ich zu den Leuten: Die Nationalisten der verschiedenen Länder agieren gemeinsam gegen Europa, aber wenn sie Europa zerschlagen haben, stellen sie die Interessen ihres eigenen Landes in den Vordergrund, geraten in Streit, und wir sind in Europa wieder da, wo wir schon einmal waren. Ich nannte Trump als abschreckendes Beispiel. Das zog. Schnell wurde mir klar, dass die Aversion gegen die EU nicht das war, was die AfD starkmachen würde.
Was dann?
Die Flüchtlingskrise. Merkels Entscheidung, 2015 die Grenzen zu öffnen, finde ich richtig. Nach den vielen Millionen Menschen, die die Deutschen im letzten Jahrhundert umgebracht haben, war das ein gutes Signal. Die Umsetzung war allerdings katastrophal. Es gab ein Schreiben der Personalräte des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom November 2015, in dem beklagt wird, dass gar keine richtigen Prüfungen der Identität der Flüchtlinge mehr stattfinden. Das wurde verschwiegen, weil man meinte, damit den Rechten in die Hände zu spielen. Ein Thema wurde ignoriert, das eine große Minderheit so bewegt hat, allein aus Protest die AfD zu wählen. Jetzt haben wir Nazis im Parlament sitzen.
Als Staatsanwalt in Brandenburg hatten Sie in den 90ern viel mit Neonazis zu tun.
Als Behördenleiter in Neuruppin war ich mit einem Flächenbrand fremdenfeindlicher Straftaten konfrontiert.
Wohnt hier ein Rechtsextremer?
Um was ging es im Gros der Verfahren? Hakenkreuzschmierereien?
Das hätte mich nicht groß beunruhigt. Es handelte sich meist um Gewalt gegen Personen. Ich erinnere mich an einen Fall, bei dem Rechte einen Afrikaner aus dem Zug geworfen haben sollen. Dabei verlor er ein Bein. Die Täter wurden nie ermittelt. Der Afrikaner sollte später abgeschoben werden. Da habe ich mit der Ausländerbeauftragten darauf hingewirkt, dass er als potenzieller Zeuge in Deutschland bleibt, weil die Täter ja noch gefasst werden könnten. Jemanden mit einer Prothese nach Afrika zurückzuschicken, ist doch unerträglich.
Sie haben selbst mehrmals Morddrohungen bekommen, zum Beispiel von einer Gruppe namens „White Aryan Rebels“.
Man weiß, dass man Angriffsflächen bietet, wenn man einer Behörde vorsteht, die diese Straftaten konsequent verfolgt.
Wie gingen Sie gegen die Rechten vor?
Zunächst versuchte ich, das Ganze in den Griff zu bekommen, indem ich die Strafverfolgung intensivierte.
Der Kirsten-Heisig-Ansatz: schnelle Urteile, harte Strafen.
Sich auf die besonders Schlimmen konzentrieren und aus dem Verkehr ziehen. In Neuruppin habe ich angefangen, rechte Straftäter namentlich zu erfassen. Das Furchtbare war: Es standen immer wieder neue Namen auf der Liste.
Damals waren rechte Vorstellungen Teil der Jugendkultur.
Sehr diplomatisch ausgedrückt. Die Jugendkultur wurde von rechtsextremem Gedankengut dominiert. Mich hatte mal 1994 eine Lehrerin gebeten, mit ihren Oberstufenschülern zu diskutieren. Doch ich stieß auf eine Front der Ablehnung. Einigen sah ich an, dass sie anders dachten, aber die trauten sich nicht, etwas zu sagen. Damals kam bei mir der Gedanke auf: Es bringt nichts, den Nationalismus nur abzulehnen, man muss ihm etwas entgegensetzen, einen Patriotismus der Demokraten. So wie ich die Stimmung im Klassenraum erlebte, habe ich den Verdacht, dass es sich bei den Wählern der AfD um denselben Personenkreis handelt, nämlich die Neonazis der Nachwendejahre, die älter geworden sind.
Ihnen schwebt vor, den Patriotismus durch Symbole aufzuladen, unter anderem mit einem Gedenktag an das Hambacher Fest von 1832.
Die Menschen wollen Europa, sie wollen nur als Nation oder Region nicht darin untergehen. Hambach symbolisiert, dass Nation, Demokratie und Europa historisch zusammengehören. Meinen Vorschlag, am letzten Sonntag im Mai den Geburtstag der deutschen Demokratie mit Bürgerfesten zu feiern, habe ich bereits den Präsidenten Köhler, Wulff, Gauck, Steinmeier unterbreitet.
Bekamen Sie Antworten?
Ablehnende. Steinmeiers Reaktion steht noch aus.
Für Ihren Amtssitz haben Sie eine Deutschlandflagge mit goldfarbenem statt gelbem Streifen angeschafft. Ist es erlaubt, vor einer Behörde seine eigene Flagge aufzuhängen?
In der Verfassung steht: Die „Bundesflagge ist schwarz-rot-gold“. Ich war natürlich so schlau, sie selbst zu bezahlen.
Globale Unternehmen ebnen in hoher Geschwindigkeit regionale Eigenarten ein. Vor diesem Hintergrund muten ein paar Flaggen niedlich an.
Ich habe auch gelesen, dass das Konzept der Nation in den Metropolen überholt sei. Hier in der Provinz ist die Befindlichkeit eine andere.
Sie wohnen seit fast 20 Jahren in Brandenburg an der Havel, in einem selbst renovierten Haus mit Plattensammlung und einem Willy-Brandt-Porträt von Andy Warhol im Arbeitszimmer. Ein Idyll am Fluss, über dem ebenfalls eine Deutschlandflagge flattert.
Mich amüsiert, wie die Leute auf ihren Ausflugsbooten zu rätseln beginnen: Wohnt hier ein Rechtsextremer? Falsch. Die Farben der Nazis waren und sind Schwarz-Weiß-Rot.
Sie sind in Patagonien geboren. Von dort aus ist es ein weiter Weg bis nach Brandenburg.
Mein Vater ging nach dem Krieg nach Südamerika, um die Farm eines verstorbenen Onkels zu verwalten und später die Nachbarfarm zu übernehmen. Doch der nationalistische Kurs von Perón hatte sich verschärft, das war nicht mehr möglich. Meine Eltern kehrten zurück, als ich zwei war.
"Zu meiner Zeit war jeder Staatsanwalt bewaffnet"
Dann dokumentiert Ihr Vorname also einen großen Integrationswillen Ihrer Eltern?
Ich sollte Erhard-Christoph heißen. Erhard, nach meinem gefallenen Onkel. Aber Perón verfügte, dass alle in Argentinien geborenen Kinder spanische Vornamen tragen müssen. Aus Erhard wurde Erardo, doch Cristobal gefiel meiner Mutter nicht. Mein Vater ritt zum Standesamt und traf auf einen Beamten italienischer Abstammung. Cristoforo ging durch.
Was kaum einer über Sie weiß: Ihre frühen Berufsjahre widmeten Sie dem Kampf gegen Linksextreme. Sie führten sogar einen Prozess gegen die RAF.
Es ging um einen Sprengstoffanschlag auf eine Bundesgrenzschutzkaserne bei Bonn.
Sie arbeiteten unter den Generalbundesanwälten Kurt Rebmann und Alexander von Stahl, die selbst extreme Positionen vertraten. Rebmann forderte, dass Gefangene erschossen werden, wenn Gesinnungsgenossen sie freizupressen versuchen. Von Stahl engagierte sich in den 90ern für die rechte Zeitung „Junge Freiheit“. Was waren das für Typen?
Rebmann legte Wert darauf, dass Geburtstage gefeiert wurden. In den Dienstzimmern gab es Wein und Brezeln, um elf ging es los. In meiner ersten Arbeitswoche rief mich mein Vorgesetzter an: „Herr Rautenberg, wir vermissen Sie.“ Bei der nächsten Feier war ich um Punkt elf Uhr vor Ort. Ich glaube, dass die Feste so wichtig genommen wurden, weil alle Bundesanwälte mit dem Tod bedroht waren – zur Stärkung des Gemeinschaftsgefühls.
Die RAF-Mitglieder hatten 1977 einen Raketenangriff auf die Bundesanwaltschaft verüben wollen.
Ja, zu meiner Zeit war das Gelände dann stark gesichert, jeder Staatsanwalt war bewaffnet.
Die Rolle zählt nicht zu den beliebtesten in Deutschland. Staatsanwälte gelten als harte Hunde, die hohe Strafen fordern. Kann es sein, dass nicht nur die Gangster ihr Verhalten aus US-Filmen kopieren, wie es immer heißt, sondern dass Staatsanwälte das ebenfalls tun?
Manche hat dieses Bild sogar motiviert, den Beruf zu ergreifen – in völliger Verkennung der Position, die Staatsanwälte hierzulande haben. Sie sind wie die Richter der Wahrheit und Gerechtigkeit verpflichtet. Deshalb kann es durchaus passieren, dass der Staatsanwalt nach der Beweisaufnahme einen Freispruch für einen Angeklagten beantragt – und der Richter verurteilt ihn dann doch.
Sie haben ein Buch über die Geschichte der Staatsanwaltschaft in Deutschland geschrieben.
Ich hatte eigentlich vor, das Buch nach der Pensionierung zu schreiben, doch bin ich nun froh, dass es schon vorliegt.
Oft hört man bei Schicksalsschlägen von Betroffenen das Bedauern, zu viel gearbeitet zu haben.
Ich finde es befreiend, dass ich das, was ich mir vorgenommen hatte, abgearbeitet habe, einschließlich der Sache mit der Kandidatur. Ich kann mir nicht vorwerfen, in so einer schwierigen Situation als Parteimitglied nur zugeguckt zu haben.
Haben Sie eine Idee für den Umgang mit der AfD?
Die Strategie darf nicht die allgemeine Ächtung sein. Man sollte darauf hinwirken, dass sich die rechtskonservativen Teile der AfD von den Nazis in ihren Reihen abgrenzen und neu organisieren – innerhalb des demokratischen Spektrums. Nachdem die CDU in den letzten Jahrzehnten in die Mitte gerückt ist, hätte eine rechtskonservative Partei eine Berechtigung. Mit der könnte man dann die Probleme der Flüchtlingskrise offen diskutieren. Die CSU könnte diese Rolle spielen, denn ihr ist es ja in der Vergangenheit in Bayern geglückt, die Rechtsextremen auf Distanz zu halten.
Machtstrategisch wäre eine Aufspaltung für die Union so verheerend wie die Gründung der Linkspartei für die SPD. Was würden Sie Ihrer Partei jetzt in der Frage der Regierungsbildung raten?
Sie sollte eine Minderheitsregierung der CDU/CSU tolerieren, so kann sie ihr Profil schärfen und dem Wunsch des Bundespräsidenten entsprechen.
Politische Ambitionen haben Sie selbst keine mehr?
Nein. Erst mal muss ich bis zum Jahresende meine Chemotherapie zu Ende bringen. Ohne die Hilfe meiner Frau würde ich das nicht schaffen. Für Angehörige ist eine schwere Krankheit oft eine genauso große Belastung. Ist der Angehörige berufstätig, kann er die Doppelbelastung auf Dauer nicht ohne die Unterstützung des unmittelbaren Arbeitsumfeldes ertragen. Diese Erfahrung hat leider auch meine Frau machen müssen.
Herr Rautenberg, Ihre Stelle als Generalstaatsanwalt ist gerade neu ausgeschrieben worden.
Es ist schon komisch: Im vergangenen Jahr hatte ich eine, nun, Depression würde ich es nicht nennen, mehr eine kleine Verstimmung, weil der Ruhestand bevorsteht. Die ist völlig weg. Jetzt habe ich nur noch den Wunsch, gesund zu werden.