40 Jahre Deutscher Herbst: Wie die RAF ihre Waffen baute
Babybomben, Stalinorgeln und Handgranaten: Sie waren Laien, trotzdem erfanden die Terroristen Mordinstrumente – und setzten sie ein.
Wozu sein Monstrum fähig ist, hat Peter-Jürgen Boock den Kampfgenossen schon einmal demonstriert: In einer Kiesgrube bei Göttingen feuerte er aus einem verzinkten, 80 Zentimeter langen Stahlrohr ein Geschoss ab. Die Zerstörung war enorm, die Gruppe begeistert.
Jetzt will Boock seine Waffe mitten in einer deutschen Innenstadt einsetzen. Und statt aus einem einzigen wird er diesmal aus 42 Rohren simultan schießen. Er plant ein Inferno. Als Ziel für den selbstgebauten Raketenwerfer hat sich Boock das Gebäude der obersten Strafverfolgungsbehörde, der Bundesanwaltschaft in der Karlsruher Herrenstraße, ausgesucht. Der Angriff soll tagsüber erfolgen, damit es möglichst viele Tote gibt – damit die „Schergen des Schweinesystems“ endlich die Stammheimer rauslassen. Doch Boock denkt noch weiter: Sollte seine Erfindung die Erwartungen erfüllen und das Haus tatsächlich in einen Trümmerhaufen verwandeln, könnte sie Vorbild sein. Er könnte sie anderen Terrorgruppen im Ausland zur Verfügung stellen.
Das Attentat von Karlsruhe soll Boocks Meisterstück werden. Es wird einer der größten Fehlschläge der RAF.
In der sogenannten zweiten Generation der Gruppe gilt Peter-Jürgen Boock, 25, als der Tüftler und Techniker. Im Gegensatz zu vielen Mitstreitern hat er nie studiert, sondern sich in Schleswig-Holstein beim Traditionsbetrieb Heidenreich & Harbeck zum Maschinenschlosser ausbilden lassen. Zumindest hat er die Lehre begonnen. Nach einem Streit mit seinem Vater schmiss er hin.
Sie finden kaum Bombenbaupläne, das schränkt ihre Schlagkraft ein
Bei Strategiediskussionen und dem Formulieren von Bekennerschreiben hält sich Boock zurück. Dafür kann er Waffen reparieren, Ausweise fälschen und Mordapparate basteln. Im Frühjahr 1977 arbeitet er an magnetischen Haftbomben. Die wollen sie Siegfried Buback, dem Generalbundesanwalt, unters Auto montieren. Doch die Bomben versagen im Test. Am Ende entscheiden sie sich dafür, Buback an einer Kreuzung aufzulauern und ganz klassisch mit dem Sturmgewehr zu erschießen.
Anders als heutige Terrorgruppen, die Baupläne für Sprengsätze und Schusswaffen im Internet finden, können die Mitglieder der RAF in den 1970er Jahren kaum auf Vorlagen zurückgreifen – ein Umstand, der rückblickend vielen Menschen das Leben gerettet haben dürfte. Die ersten beiden Generationen müssen viel experimentieren, erleben immer wieder Pannen. Das schränkt ihre Schlagkraft ein. Ganz anders später die dritte Generation. Sie verfügt über so viel technisches Wissen, dass sie Bomben durch Lichtschranken auslösen kann und einen Gefängnisrohbau in die Luft jagt.
Zur Zeit von Boocks Raketenwerfer-Plan ist das undenkbar. Im Untergrund kursiert damals zwar das 60-seitige „Mini-Handbuch des Stadtguerilla“, verfasst vom brasilianischen Revolutionär Carlos Marighella. Aber die meisten Tipps darin bleiben vage, manche Passagen wirken unfreiwillig komisch. Im Kapitel „Technische Vorbereitung des Stadtguerillas“ heißt es: „Niemand kann ein Stadtguerilla werden, ohne der Vorbereitung besondere Aufmerksamkeit zu schenken.“ Dann rät Marighella künftigen Kämpfern, zuerst das Rudern, Zelten und Jagen kleiner Fische zu erlernen, empfiehlt aber auch Grundkenntnisse in Elektrotechnik. Wie man eine Bombe baut, steht dort nicht.
Die Richter glauben ihm kein Wort
Weitaus praktischer sind für die RAF ihre Kontakte zur palästinensischen Terrorgruppe PFLP. In deren Ausbildungslager im Südjemen lernt Peter-Jürgen Boock die Feinheiten des Bombenbaus.
Für den Anschlag mit seiner „Stalinorgel“, benannt nach dem sowjetischen Raketenwerfer aus dem Zweiten Weltkrieg, hat die RAF in Karlsruhe ein Nachbarhaus ausgekundschaftet. Am 25. August 1977 wird das Ehepaar aus dem zweiten Stock in seiner Wohnung überwältigt und im Nebenzimmer gefesselt. Die Terroristen tragen die Einzelteile der Stalinorgel in Pampers-Kartons nach oben.
Boocks Konstruktion hat einen Zeitzünder. Wenn sie losfeuert, wollen die Terroristen lange fort sein. So der Plan. Doch die Waffe zündet nicht, nach sieben Stunden können sich die Bewohner befreien und die Polizei rufen. In einer Erklärung verkündet die RAF später, ihre Aktion sei bloß eine Warnung gewesen. Man habe zeigen wollen, zu welchen Blutbädern man theoretisch in der Lage sei. Vor Gericht wird Boock eine andere Version auftischen: Er habe beim Zusammenbau der Waffe Skrupel bekommen und dann die Zünduhr absichtlich nicht aufgezogen, um die Aktion zu sabotieren und Menschenleben zu retten. Die Richter glauben ihm kein Wort. Sie gehen davon aus, dass Boock unter Drogen stand und das Aufziehen im Stress schlicht vergaß. Tatsächlich ist Peter-Jürgen Boock seit Jahren schwer abhängig. Nimmt LSD, Koks, Speed, Schmerzmittel. Die Genossen müssen ihm regelmäßig Stoff besorgen. Wegen seiner technischen Fähigkeiten gilt er als unverzichtbar.
Bevor sich der Tüftler Boock 1975 der RAF anschließt, ist die Gruppe auf Hilfe von außen angewiesen. Im Frühjahr 1972 sucht Holger Meins den Frankfurter Metallbildner Dierk Hoff in dessen Werkstatt auf. Meins stellt sich als „Erwin“ vor und behauptet, er arbeite in der Filmbranche. Für einen Dreh („eine Art Revolutionsfiktion“) solle Hoff verschiedene Requisiten herstellen: etwa Handgranatengehäuse oder Abschussgeräte für Schrothülsen. Meins gibt auch den Bau einer nach außen gewölbten Metallvorrichtung in Auftrag. Die werde sich die Protagonistin seines Films um den Bauch binden und sich so als Hochschwangere tarnen. In Wahrheit aber werde sie, so stehe es im Drehbuch, eine Bombe zum Zielort eines Anschlags schmuggeln. Hoff baut die sogenannte „Babybombe“ tatsächlich, sie kommt jedoch nie zum Einsatz.
Die dritte Generation hinterlässt kaum Spuren
Das Zusammenmischen von Sprengstoff übernimmt die Gruppe selbst. In einer extra angemieteten Wohnung in Frankfurt zerkleinert sie 1972 Ammoniumnitrat und Holzkohle, dazu benutzt sie zehn elektrische Kaffeemühlen. Der Handmixer, mit denen die Zutaten anschließend verrührt werden müssen, geht bald kaputt. Deshalb steckt Andreas Baader einen Schneebesen in die Bohrmaschine. Das Pulver füllen die Terroristen in Metallrohre ab, packen kleine Stahlkugeln dazu. Mit diesen Bomben greifen sie im Mai 1972 unter anderem ein US-Offizierskasino in Frankfurt an, ein Soldat stirbt.
Im Vergleich zu den Taten der 1970er sind die Anschläge der dritten Generation in den 1980er Jahren deutlich professioneller. Es werden auch weniger Spuren hinterlassen. Der Unterschied ist so auffällig, dass sich bis heute Verschwörungstheorien halten. Derart komplizierte Verbrechen wie der Autobombenmord an Alfred Herrhausen könnten ein paar linksradikale Gewalttäter unmöglich alleine hinbekommen haben, heißt es. Entweder hätten sie Hilfe eines fremden Geheimdienstes gehabt – oder noch extremer: Die dritte RAF-Generation existierte nie, tatsächlich operierten deutsche Agenten, um linke Bewegungen zu diskreditieren. Zumindest letztere Theorie gilt unter Historikern als abwegig.
Die Geburtsstunde der RAF
Aus heutiger Sicht erstaunt, dass ausgerechnet der allererste Anschlag gelang, den Gudrun Ensslin und Andreas Baader verübten. Im April 1968 wollten sie zusammen mit zwei Freunden in der Frankfurter Innenstadt Brandsätze legen: zwei Stück im berühmten Kaufhaus „Schneider“, zwei im nahegelegenen „Kaufhof“. Dazu hatten sie Benzin in Kunststoffflaschen abgefüllt und in Taschen deponiert, dazu jeweils ein Sprengstoffgemisch, eine Batterie sowie einen Reisewecker als Zünduhr.
Die Bomben gingen tatsächlich hoch und richteten einen Millionenschaden an. Einen schweren Fehler hatten die vier trotzdem begangen: Sie hatten nicht daran gedacht, ihre Spuren zu verwischen. Als Polizisten zwei Tage später den grauen VW-Käfer untersuchten, mit dem die Gruppe nach Frankfurt gereist war, fanden sie Teile der Reisewecker, Einkaufslisten mit allen Zutaten der Bomben, in Ensslins Jacke sogar einen Zettel mit den genauen Grammmengen des benötigten Phosphors, Schwefels und Kaliumchlorats. Jeder der Täter erhielt drei Jahre Zuchthaus. Die gewaltsame Befreiung Baaders wurde später zur Geburtsstunde der RAF.
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