Pier Paolo Pasolini: Ein ungeklärter Mordfall
Filmemacher, Schriftsteller, Intellektueller: Pier Paolo Pasolini verehrte den Papst, liebte Fußball – die Kommunisten schlossen ihn als Homosexuellen aus. Sein Tod im November 1975 bleibt rätselhaft.
Hier also. Ein sorgsam eingezäuntes, nachlässig gemähtes Stück Wiese zwischen Straße und Hafen, ein paar Sträucher, junge Kiefern, wilder Fenchel und die blauen Blüten der Wegwarte. „Das Tor ist nur angelehnt“, hatte der Alte am Kreisverkehr gesagt. „Sie können es einfach aufschieben. Und nachher wieder schließen, wegen der streunenden Hunde.“ Tatsächlich gibt es kein Schloss, nur ein kleines Schild mit dem Hinweis: „Parco letterario Pier Paolo Pasolini.“ Literaturpark: Ein paar Steinhügel mit Versen aus seinen Werken. Das Denkmal des befreundeten Bildhauers Mario Rosati, eine Travertinskulptur mit einem himmelwärts strebenden Vogel.
Aber man sieht natürlich zu Boden, unwillkürlich. Auf den Boden, der sein Blut aufsog. Der Boden, auf dem er mit 53 Jahren starb, in der Nacht zum 2. November 1975, übel zusammengeschlagen, dann mit seinem eigenen Auto überfahren.
Vier Jahrzehnte ist das her, und immer noch gibt sein Tod Rätsel auf. War es ein Auftragsmord? Politische Rache? Oder wirklich, wie die italienische Justiz befunden hat, die Raserei eines Strichjungen, mit dem Pasolini aus dem 30 Kilometer entfernten Rom hierhin gefahren war?
Giuseppe Pelosi, genannt Pino, war zur Tatzeit mit 17 Jahren minderjährig. Die Polizei erwischte ihn am frühen Morgen des Allerseelentags auf der Küstenstraße von Ostia. Er fuhr in Pasolinis Alfa Romeo in irrem Tempo gegen die Fahrtrichtung. Erst als es hell wurde, Stunden später, fand eine Spaziergängerin die entsetzlich verunstaltete Leiche Pasolinis.
Billiger Sex am Bahnhof Termini
Anfang Dezember wurde Pelosi vor Gericht gestellt. Er gestand; es sei zum Streit gekommen, weil Pasolini ihn zu Sexpraktiken zwingen wollte, die der Junge ablehnte. Er habe zu einem am Boden liegenden Holzstück gegriffen und seinen Begleiter niedergeschlagen. Dann sei er in das Auto seines Opfers gestiegen und habe es in Panik und ohne Absicht mehrmals überfahren.
Pelosi war bereits wegen Autoklau vorbestraft, mit solchen Sachen schlug er sich durchs Leben. Doch auf dem Schwulenstrich vor dem Bahnhof Termini hatte er sich zuvor noch nie herumgetrieben. Bis zu jenem Abend, an dem ihn die Aussicht auf leicht verdientes Geld lockte und ihn ausgerechnet Pasolini aufgabelte. Der kam vom Abendessen in der „Trattoria Pommidoro“ im Viertel San Lorenzo gleich hinter dem Bahnhof und suchte, wie so oft am späten Abend, noch Begleitung. Pelosi war einverstanden, mit ihm ans Meer zu fahren. Nach Ostia, gleich neben der Tibermündung.
Wenige Kilometer flussaufwärts wurde Pasolini das letzte Mal lebend gesehen, im „Il biondo Tevere“, einem von vielen Künstlern frequentierten Lokal. Pasolini bestellte ein Bier, Pelosi bekam ein Huhn und beschwerte sich noch darüber, dass die kross gebratene Haut nicht entfernt worden sei. So erzählte es später die Wirtin, und sie erzählte es oft, denn ihr „Blonder Tiber“ wurde ebenso wie das „Pommidoro“ als Schauplatz des letzten Abendmahls zum Pilgerziel von Pasolini-Jüngern aus aller Welt. Sie machen sich auf seine Fährte, als könnten sie so den Schrecken vertreiben und die Geheimnisse lüften, die die Nacht noch immer umgeben.
Dabei ist juristisch alles klar: Pelosi wurde wegen Totschlags zu neun Jahren und sieben Monaten verurteilt. Die erste Instanz war noch davon ausgegangen, dass er Pasolini gemeinsam mit Unbekannten getötet habe, das Berufungsgericht stellte seine Alleinschuld fest. 1983 kam er aus dem Gefängnis, da war er 25 und eine Berühmtheit. Sogar einen Spitznamen hatte er nun, „la rana“, der Frosch. Ein Zeitungsjournalist hatte ihn erfunden, wegen seines breiten Mundes und der hervorstehenden Augen.
Der Frosch machte da weiter, wo er vor der Begegnung mit Pasolini aufgehört hatte: Autodiebstahl, Einbrüche, Drogenhandel. Über die Nacht am Hafen von Ostia schwieg er 30 Jahre lang, bis zu einem Interview im Staatsfernsehen RAI 2005.
War Pelosi nun alleine oder nicht?
Da erklärte Pelosi plötzlich, er sei am Tatort nicht allein gewesen und zudem unschuldig. Denn anstatt auf Pasolini einzuschlagen, habe er ihn schützen wollen gegen drei Männer, die mit Stöcken und Eisenketten auf den Künstler losgegangen seien – nachdem sie dem Alfa Romeo in einem Auto mit Kennzeichen Catania gefolgt seien. Die Schläger hätten mit sizilianischem Akzent gesprochen und ihr Opfer als „dreckigen Kommunisten“ beschimpft. „Wenn man jemanden auf diese Weise umbringt“, belehrte Pelosi die RAI-Journalistin, „dann ist man entweder verrückt oder man hat ein starkes Motiv. Und verrückt waren diese Männer nicht.“ Aber vielleicht Faschisten.
In den 1970er Jahren gab es in Rom einen regelrechten Straßenkrieg zwischen Rechtsradikalen und Kommunisten, mit Toten auf beiden Seiten. Unter den Tätern von Ostia wurden deshalb zumindest zwei stadtbekannte Neofaschisten sizilianischer Herkunft vermutet. Pelosi verbreitete diese These selbst, die Staatsanwaltschaft konnte sie nicht erhärten: Die beiden, ein Brüderpaar, waren in den 1990er Jahren an Aids gestorben.
Und wer war der dritte Mann in Pelosis Erzählung?
Der Frosch sagt, er weiß es nicht. Er ergeht sich in Anspielungen, Theorien, Konstruktionen. Nach dem Absitzen seiner Strafe hätte Pelosi in der Versenkung verschwinden können, stattdessen sucht er immer wieder das Rampenlicht. Er, der allzu unbegabt gewesen wäre, um für Pasolini, der so manche Hauptrolle an talentierte Vorstadtjungen vergab, auch nur als Statist infrage zu kommen, hat seine Lebensrolle gefunden. Immer neue Brosamen, die die alten Verschwörungstheorien nähren, wirft er den Medien und den Verehrern Pasolinis hin, die es immer noch nicht glauben wollen, dass einer der bedeutendsten europäischen Intellektuellen Opfer einer ebenso grausigen wie banalen Auseinandersetzung mit einem Strichjungen wurde.
Vieles deutet darauf hin, dass der schmächtige Pelosi nicht allein getötet hat. Dass es Komplizen gab, die den Mann mit dem Alfa Romeo ausrauben, ihm das Auto klauen wollten.
Wurde Pasolini Opfer eines politischen Komplotts, aus dem Weg geräumt wegen der Recherche zu seinem letzten, unvollendeten Roman „Petrolio“ (Erdöl) über die sexuellen Obsessionen eines Managers beim italienischen Energieunternehmen ENI? War er auf Machenschaften des Geheimdienstes gestoßen?
DNA-Spuren von mindestens fünf Personen
Beflügelt durch eine Unterschriftenaktion von 700 internationalen Autoren stellte die römische Staatsanwaltschaft kürzlich noch einmal neue Ermittlungen an. Doch am 25. Mai 2015 verfügte eine römische Richterin die Einstellung des Verfahrens. Man habe DNA-Spuren von mindestens fünf männlichen Personen am Beweismaterial gesichert, könne diese aber nicht zuordnen.
„Sein Ende passt zu seinem Werk, nur nicht zu ihm selbst“, glaubte Pasolinis Freund Alberto Moravia. „Er hatte ähnlich abstoßende und grausame Umstände wie jene seines Todes oft beschrieben. Aber er selbst war ja kein Straßenjunge, sondern eine zentrale Gestalt unseres Kulturlebens, ein Dichter, der eine ganze Epoche geprägt hat, ein genialer Regisseur und ein Essayist mit unerschöpflichen Ideen.“
Was der Schriftsteller Moravia ausdrückte, denken viele. Italiens Intellektuelle trennen bis heute zwischen Pasolinis Leben und seinem Werk. Sie weigern sich zu glauben, dass ein Künstler, der mit Regisseuren wie Federico Fellini, Roberto Rossellini, Jean-Luc Godard, mit Schauspielern wie Orson Welles, Anna Magnani und dem Opernstar Maria Callas zusammenarbeitete und der einen Maestro wie den Oscar-Preisträger Ennio Morricone mit der Musik für seine Filme beauftragte – dass dieser Mann „nach sieben Uhr abends ein vollkommen anderer Mensch wurde“. So hatte es sein Cousin Nico Naldini beobachtet, ein ebenfalls homosexueller Schriftsteller und treuer Mitarbeiter bei sämtlichen Filmarbeiten Pasolinis. Der berühmte Verwandte, so Naldini, sei ein sehr widersprüchlicher Mensch gewesen, mit einem wilden Sexualleben und sadomasochistischen Vorlieben. Er habe „una vita violenta“ geführt, ein Leben voller Gewalt, wie der Titel von einem Pasolini-Roman lautet.
Pasolini und der Papst
Verglichen damit lebten seine Künstlerfreunde in einer bürgerlichen Welt. Eine Welt, in der man als Intellektueller antiklerikal war und der KPI nahestand, der damals größten kommunistischen Partei Westeuropas. Pasolini war wegen seiner Homosexualität aus der KPI ausgeschlossen worden und hatte seinen bürgerlichen Beruf als Lehrer verloren. Er bewegte sich als Regisseur und Dichter im Humus der „borgate“, jener römischen Vorstädte, in die die Salonkommunisten der Hauptstadt keinen Fuß setzten. Seine Heroen verkörperten ein hoffnungsloses Leben am Rand der Gesellschaft, sein Christus in „Das Evangelium nach Matthäus“ war ein sanfter Menschenfreund und zorniger Revolutionär. Den Film widmete Pasolini übrigens dem von ihm verehrten Papst Johannes XXIII.
Regelmäßig ging er ins Stadion, nahezu obsessiv spielte er Fußball – auch das eine Passion, die seine bürgerlichen Freunde nicht teilen mochten. Genauso wenig, wie sie Pasolinis nächtliches Leben nachvollziehen konnten. Homosexuelle führten in Rom ein Schattendasein. Sie trafen sich in Parks wie dem „Monte Caprino“ am Kapitol, oder eben am Strand von Ostia. Heute gibt es am Kolosseum eine „Gay Street“ mit einigen Lokalen. Roms Bürgermeister hat im Mai 2015 demonstrativ einige homosexuelle Paare im Standesamt getraut. Aber der Verwaltungschef weigerte sich, diese „ungesetzliche Handlung“ ins Register einzutragen – gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften sind in Italien noch immer nicht erlaubt.
Auf den Straßen der Hauptstadt sieht man immer noch sehr wenige schwule Pärchen. Sie müssen damit rechnen, von neofaschistischen Schlägern angepöbelt oder sogar geschlagen zu werden. Für die homophoben Rechtsradikalen, die in Rom sehr straff organisiert sind, bleibt auch Pasolini ein rotes Tuch. Als der Franzose Ernest Pignon-Ernest kürzlich an den Ufermauern des Tiber Pasolini-Murales anbrachte, wurden die Wandmalereien über Nacht besudelt und zerstört. Nur das an einem Brückenpfeiler blieb unbeschädigt – es steht mitten im Fluss.
Was wird aus Pasolinis Werk?
„Pasolinis Tod ist für die italienische Gesellschaft längst eine Obsession“, beobachtet der Publizist Pierluigi Battista. Noch immer wird in den Medien darüber gestritten, regelmäßig erscheinen Artikel, TV-Dokumentationen, sogar Bücher. Dabei ist das wirklich Tragische am grausamen Ende Pasolinis, dass der große Schriftsteller, Regisseur und Intellektuelle heute vor allem, wenn nicht ausschließlich als Opfer eines nie geklärten Mordes erinnert wird. Wenn Pasolinis Name fällt, denkt man sofort an Ostia – und dann erst an Romane wie „Ragazzi di vita“ und Filme wie „Medea“, „Große Vögel, kleine Vögel“, „Accatone“ und „Mamma Roma“. Werke, deren archaische Poesie bis heute unerreicht ist und deren Abgründe einen tief treffen.
Während sein Tod immer präsent ist, verschwindet sein Werk langsam im Nebel. Auch in seiner Heimat Italien, wo Pasolini nur vereinzelt an den Gymnasien gelesen wird. Dabei ist er längst ein Klassiker der Moderne. Prophetisch warnte er vor dem Ausufern des Konsumismus und der Korruption in einem Land, wo nach 20 Jahren Berlusconi schon wieder andere Populisten viel Volk anführen. Heute, da der betagte Krimi-Autor Andrea Camilleri und der ebenfalls schon greise Sprachwissenschaftler Umberto Eco die italienische Literatur und der Weichzeichner Paolo Sorrentino das Kino repräsentieren, fehlen Pasolinis intellektuelle Radikalität und seine tabulose Fantasie.
Der Ort, an dem Pasolini starb, wirkt noch immer wie ein Platz aus seinen Filmen – mit der gesichtslosen Wohnsiedlung am Horizont und dem schmutzigen Strand am Ende der Straße, zwischen Schilf, kleinen Werkstätten und Bootswerften. Dicke Autos fahren entlang, mit Nummernschildern aus Südosteuropa. Es gibt eine Bushaltestelle, Endstation der Linien 14 und 15. Dort wartet ein Mann im Unterhemd. An der kleinen Kaffeebar gegenüber hat sich ein Fenster geöffnet, ein Junge schreit herüber. Der Mann an der Bushaltestelle brüllt zurück. Bald fluchen beide. Es geht um Fußball. Auch dazu hätte PPP etwas zu sagen gehabt.
Birgit Schönau