Pasolini-Ausstellung im Martin-Gropius-Bau: Das Paradies an den Rändern Roms
Künstler, Kämpfer, Ketzer: Der Berliner Martin-Gropius-Bau blickt mit der Ausstellung "Pasolini Roma" auf Pier Paolo Pasolinis römische Jahre.
Einmal noch müsste man an jenen Punkt zurückkehren können, an dem für ihn das alte Italien unterging und die neue Epoche ihre Fratze zeigte. Pier Paolo Pasolinis Schmerz, seine Trauer, seine Wut und die dagegen mobilisierte wie daraus gewonnene Lebensgier würden eine ganz andere Wucht entfalten, als sie es in einer ultra-turbo-hyperkapitalistisch homogenisierten Welt tun. Doch selbst eine Zeitmaschine würde wohl nur erste Hilfe leisten. Denn die „anthropologische Revolution“, die ihn so verstörte, hat weder ein verbürgtes historisches Datum noch einen für jeden auffindbaren Ort. Ihr Schrecken speist sich aus einer moralischen Haltung, die erst in Verbindung mit einer künstlerischen Vision eine alles verschlingende Macht entwickelt.
Das heißt nicht, dass ihr jenseits der poetischen, filmischen und publizistischen Werke, die von ihrer Gefräßigkeit Zeugnis ablegen, keine Wirklichkeit entsprechen würde. Aber auch da, wo man ihr zeitgenössisches Äquivalent entdecken könnte, in China, wo Bulldozer über Nacht mit ganzen Stadtvierteln zugleich Lebensweisen unterpflügen, um Platz für Wohn- und Büromaschinen zu schaffen, steht die Gewalt der Zerstörung gegen eine unvermeidliche Modernisierung, die nur jedes menschliche Maß verloren hat.
Pasolinis großer biographischer Bruch
Der große biografische Bruch kommt für Pasolini ohnehin gut zehn Jahre früher als der von ihm geschichtlich diagnostizierte. Am 28. Januar 1950 trifft der 27-Jährige zusammen mit seiner abgöttisch geliebten Mutter Susanna, einer Lehrerin, aus dem Friaul am römischen Hauptbahnhof ein, in einer vorindustriell anmutenden Stadt. Die Schule in Casarsa, an der er als Lehrer angestellt war, hat ihn gefeuert, nachdem er bei einem Dorffest im benachbarten Ramuscello aufs Feld verschwunden ist, um sich mit einigen Jungen zu vergnügen, die Kommunistische Partei hat ihn wegen seiner Homosexualität als „moralisch nicht würdig“ ausgeschlossen.
In Rom zieht er nach einem Intermezzo bei einem Onkel an der Piazza Costaguti zusammen mit der Mutter und dem nachgekommenen Vater, einem Berufsoffizier, zunächst für drei Jahre nach Ponte Mammolo, ein vorstädtisches Armenviertel, von dem aus es nur einen Katzensprung zum Gefängnis von Rebibbia ist. Er muss sein Leben völlig neu organisieren und findet einen miserabel bezahlten Job als Lehrer in Ciampino. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln kostet ihn der Weg dorthin drei Stunden.
Das Erwachen zum Schriftsteller
Es beginnt der zweite Teil seines Lebens: das Erwachen zum Schriftsteller, der an die Stelle lyrischer Preziosen in friaulischer Sprache mit „Ragazzi di vita“ ein wildes Erzählen voller Romanesco-Einsprengsel setzt, der Volkssprache, die ihn die Brüder Franco und Sergio Citti lehren. Der Dialogschreiber für Mauro Bolognini und Federico Fellini folgt dem Drang, ohne große technische Kenntnisse selber Filmregisseur zu werden, und dreht mit „Accattone“ 1962 ein Schlüsselwerk des Neorealismus, um sich von dessen Ästhetik bald zu lösen. Und der mit seiner Sexualität ringende Schwule tauscht seine frühen Heimlichkeiten ein gegen ein selbstbewusst befreites Leben mit Liebhabern und Strichern.
Dieser zweite Abschnitt, in dessen Verlauf er bis zu seiner Ermordung in Ostia 1975 Weltruhm erlangt, ist freilich nicht denkbar ohne den ersten. Der erzwungene Abschied von Casarsa prägt sein Denken als unausgesprochene Grunderfahrung. Das Land im wiederkehrenden Gleichmaß der Jahreszeiten steht gegen den Fortschrittswahn der Stadt, die kulturelle Überlieferung gegen die Geschichtsvernichtung, die Würde des Bäuerlichen und Subproletarischen gegen den Dünkel einer sich zur universalen Klasse aufschwingenden Bourgeoisie – und dies alles nicht in Verklärung dörflicher Strukturen, sondern als Energiequelle eines rauen Gegenzaubers, der an den Rändern Roms, in den Borgate, ein widerständiges Paradies entdeckt.
Ausstellung "Pasolini Roma" endlich in Berlin
Die von Jordi Balló und Alain Bergala kuratierte Ausstellung „Pasolini Roma“, die nach Stationen in Barcelona und Paris nun nach Berlin kommt, setzt also genau da ein, wo das Scharnier dieses Lebens liegt. In einem ersten Raum sieht man, was Pasolini hinter sich gelassen hat. Die Vergangenheit zieht in Form von Familienfotos an einem auf Leinwand projizierten Zugfenster noch einmal vorbei; auch Aufnahmen seines 1945 als Partisan ums Leben gekommenen Bruders Guido sind darunter. Die sechs chronologischen Stationen der Ausstellung werden begleitet von Filmclips in Dauerschleife, die einen Blick auf die Gegenwart der Orte richten, an denen sich Pasolini in Filmen und dichterischen Anrufungen ein „göttliches Rom“ eroberte.
Wenn man in Anbetracht alter Stadtpläne und einer Vielzahl von Film- und Interviewausschnitten nun sieht, dass man nichts mehr sieht, ist dies womöglich eine Bestätigung für die Gesichtslosigkeit der Welt, die er in Form einer schrankenlosen Konsumgesellschaft heraufziehen sah. Mehr noch ist es ein Ansporn, sich einen Blick anzueignen, dessen topografisches Gelände sich zwar genau identifizieren lässt, das Pasolini aber vor allem durch seine Sprachkraft in etwas Magisches verwandelte. So anschaulich multimedial diese Ausstellung geraten ist, die Teile seines Gedichts „Gramscis Asche“ auf eine Art schwarzer Grabstele projiziert oder den Fiat 1100 vorführt, mit dem er an die Schauplätze von „Comizi d’amore“ reiste, seinem Interviewfilm über die Sexualgewohnheiten der Italiener, über den Michel Foucault eine Hymne schrieb, bleibt sie doch eine ungewöhnlich textintensive Erfahrung.
Beschwörung einer Leerstelle
Ohne geduldige Lektüre begreift man nichts vom anhaltenden Nachruhm dieses Mannes, der bald länger tot sein wird, als er gelebt hat. Der Abstand zu ihm wächst auch, weil es niemandem gelingen will, seine Rolle zu beerben. Dabei herrscht an radikalen Denkern von Jacques Rancière und Alain Badiou bis zu Slavoj Zizek und Giorgio Agamben, der als 22-Jähriger in Pasolinis Film „Das 1. Evangelium – Matthäus“ mitspielte, kein Mangel. Es mangelt nur an Figuren, die sich der postpolitisch gewandelten condition humaine mit ausreichender Imaginationsstärke widmen – und denen sie so in die Sehnen und Knochen fährt, dass daraus mehr wird als graue Theorie. Die Wiedergeburten des Pier Paolo Pasolini sind in diesem Sinn die Beschwörung einer Leerstelle.
Die letzte deutschsprachige Renaissance, mit einer Reihe von Veröffentlichungen und einer auch in Berlin zu sehenden Ausstellung des Zürcher Museums Strauhof, die das Allen Ginsberg gewidmete Langgedicht „Who is me“ illustrierte, ist erst fünf Jahre alt. „Pasolini Roma“ entwirft demgegenüber keinen grundsätzlich anderen Pasolini, aber einen, der so tief in die Umstände seiner Zeit eingesenkt ist, dass man sich kaum vorstellen kann, wie er aus seiner doppelten Frontstellung gegen den „Klerikalfaschismus“ (mit heimlicher Sympathie für den Katholizismus) und die marxistische Orthodoxie (trotz der Utopie einer klassenlosen Gesellschaft) eine Position in den wankelmütigen Meinungsumfragedemokratien von heute gewonnen hätte. Mit Sicherheit lässt sich höchstens sagen: Er wäre Amok gelaufen.
Fliegenschiss und Erdbeben
Franco Fortini hat einmal festgestellt, dass es vermutlich keinen anderen italienischen Autor des 20. Jahrhunderts gebe, der mehr Urteile über seine Zeit gefällt habe. Er sei ein Ideologe gewesen, was in Pasolinis Fall, der ein vielfältiger Ketzer und Häretiker war, zunächst nur heißt, dass er für seine Polemiken mehr Gründe hatte, die in seiner Person lagen, als in einer von allen teilbaren Vernunft.
Das ungebrochene Interesse an Pasolini mag aber auch die Sehnsucht nach einer Welt spiegeln, in der man sich noch aufsehenerregend verhalten konnte. „Pasolini Roma“ frappiert bei aller audiovisuellen Raffinesse mit der Materialität vieler Ausstellungsstücke. In einer Benzintonne liegt die „Lettera 22“ von Olivetti, auf der er seinen Fragment gebliebenen Roman „Petrolio“ schrieb. Einen anderen Raum beherrscht ein riesiger Schneidetisch, wie er in dem Gerichtssaal stand, in dem Pasolini wegen seines angeblich blasphemischen Films „La Ricotta“ angeklagt war. Der Höhepunkt ist indes ein Artikel aus dem „Corriere della sera“ vom 1. Februar 1975. Auf der neunspaltig umbrochenen Titelseite steht rechts außen in der Kolumne „Tribuna aperta“ der Anlauf seines Essays „Das Machtvakuum in Italien“ über den Zusammenbruch herkömmlicher Herrschaftsformen. Unter dem Titel „Von den Glühwürmchen“ fand er Eingang in die „Freibeuterschriften“. Optisch ein Fliegenschiss – von der Wirkung her ein Erdbeben.
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