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Der Islamwissenschaftler Thomas Bauer plädiert für bessere Kunst- oder Musikerziehung in unserer Gesellschaft.
© Thilo Rückeis

Interview mit Thomas Bauer: „Die Mitte wird immer leerer“

Der Mensch hat verlernt, Mehrdeutigkeit auszuhalten, sagt Forscher Thomas Bauer: Nur noch Krimis im TV, Kunstwerke mit klarer Gebrauchsanleitung und Sport ohne Unentschieden.

Herr Bauer, wir sitzen hier zusammen in einem Berliner Schnitzel-Lokal. Wir hätten jedoch genauso gut zum Italiener, zum Koreaner, zum veganen Imbiss oder zum Paleo-Restaurant gehen können. Trotzdem vertreten Sie die These, die Vielfalt in unserer Kultur nehme überall ab.

Es ist klar, dass in einer Konsumgesellschaft die Vielfalt an Konsumgütern enorm hoch ist. Aber ist es wirklich eine Bereicherung, wenn es 20 Sorten Kirschjoghurt auf der gleichen chemischen Basis gibt? Von den einst 20 000 Apfelsorten hingegen bekommen Sie heute vielleicht noch sechs angeboten. Ein Drittel der weltweit 6500 Sprachen wird in den nächsten Jahrzehnten aussterben.

In Ihrem Buch „Die Vereindeutigung der Welt“ führen Sie den Schwund an Vielfalt in Kultur und Gesellschaft darauf zurück, dass die Menschen von heute zwanghaft nach Eindeutigkeit streben.

Denken Sie an das Gomringer-Gedicht, das in Berlin von der Hauswand einer Schule verschwinden musste, weil die Leute den Interpretationsspielraum einfach nicht ertrugen. Literaten wie Italo Calvino, die das Mehrdeutige geradezu kultivierten, wurden abgelöst von Romanen, in denen unser aller Alltag verhandelt wird. Im Fernsehen laufen fast nur noch Talkshows oder Krimis, die eine eindeutige Auflösung versprechen. Und wenn es mal einen „Tatort“ gibt, der das nicht erfüllt, folgen wütende Reaktionen: „Jetzt habe ich da anderthalb Stunden vertrödelt und muss ins Bett gehen, ohne zu wissen, wer der Mörder ist.“

Warum regen sich die Leute so auf?

Die Psychologie sagt, dass Menschen dazu tendieren, Situationen der Zweideutigkeit und Unklarheit, der Ambiguität, eher zu vermeiden. Das kennt ja jeder von sich selbst. Erinnern Sie sich an Martin Luthers „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“. Auch die Botschaften der AfD lassen keine Uneindeutigkeit zu. Allerdings gab es in der europäischen Geschichte Gesellschaften, in denen man sehr gut mit Mehrdeutigkeit umgehen konnte. In der Renaissance wurde eine Bewunderung der heidnischen Antike vielfach nicht als Widerspruch zum Christentum empfunden. In der islamischen Kulturgeschichte trifft man ebenfalls auf ganz viele Widersprüche, wenn zum Beispiel fromme Gelehrte Weingedichte schreiben, obwohl ja Wein verboten ist.

Wann haben wir das Mehrdeutige verlernt?

Das ist ein langfristiger Prozess, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sichtbar einsetzte. In den islamischen Gesellschaften zum Beispiel ging die Ambiguitätstoleranz rapide verloren, als man sich vom Westen, der militärisch-wirtschaftlich überlegen war, bedroht und bedrängt fühlte. In der Folge nahm dann die Flexibilität der islamischen Rechtsprechung ab. Dabei war diese ein Musterbeispiel an Ambiguität, denn sie war eigentlich nichts anderes als eine hochkomplexe Auslegungstradition, die praktisch gar keine eindeutigen Antworten kannte. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts ist die Tendenz der Abnahme recht allgemein. In Europa beginnt das Zeitalter der Ideologien, die uns bis heute nicht losgelassen haben.

Gleichzeitig werben Unternehmen mit Diversity und gewinnt Conchita Wurst den ESC. Bei Facebook kann ich aus 60 Geschlechtern wählen.

Diese Kästchenbildung bei den Geschlechtern ist doch auch eine Schein-Vielfalt. Wenn man sieht, etwas geht nicht glatt auf, könnte man einfach die ganze Kategorie aufgeben. Stattdessen versucht man, immer noch eine Unterkategorie zu finden, in die alles ganz eindeutig passt. Der Fall Conchita Wurst übt deshalb große Faszination aus, weil man diese Möglichkeit zur Vieldeutigkeit sonst gerade nicht hat. Und man darf nicht vergessen, Conchita Wurst hat gleichzeitig enorm viel Hass auf sich gezogen.

So wie Mesut Özil, der, als er für Deutschland spielte, die Hymne nicht singen wollte, weil sonst seine türkische Oma weinen würde.

Ja, dem wurde es nicht leichtgemacht von der Gesellschaft. Das erinnert an die Diskussion um die doppelte Staatsbürgerschaft. Man könne nur einem Land gegenüber loyal sein, wird argumentiert. Warum eigentlich?

„Wenn Gesetze eindeutig wären, bräuchten wir keine Gerichte“

Der IS sei ein Musterbeispiel für Ambiguitätsintoleranz, sagt Thomas Bauer.
Der IS sei ein Musterbeispiel für Ambiguitätsintoleranz, sagt Thomas Bauer.
© REUTERS

Eindeutigkeit hat doch viele Vorteile. Wissenschaft wäre ohne klare, überprüfbare Ergebnisse gar nicht denkbar.

Natürlich gibt es Dinge, die man eindeutig wissen muss. Dass ein Medikament wirkt und keine unberechenbaren Nebenwirkungen hat, darauf muss man sich verlassen können. Und wenn ich in ein autonom fahrendes Auto steige, möchte ich auch, dass es klar reagiert. Andererseits hat selbst der Physik-Nobelpreisträger Niels Bohr gesagt, wir wären auf dem völlig falschen Weg, wenn wir überall Eindeutigkeit suchten. Wir leben nun mal in komplexen Gesellschaften, in denen es zwangsläufig zu mehrdeutigen Situationen kommt.

Welche denn?

Nach dem Zweiten Weltkrieg wussten die USA noch ganz genau, dass man ein großes Land wie Deutschland nicht aufbauen kann, indem man sämtliche Diener des alten Regimes entlässt. Da war man sogar zu großzügig, in der Justiz hätte man ruhig noch ein paar Nazis mehr rausschmeißen sollen. Später im Irak alle Mitglieder der Baath-Partei zu entfernen, war unklug. Das war zwar eindeutig – alle raus! Doch sämtliche Angehörige der Streitkräfte loszuwerden, hat dazu geführt, dass die sich dann extremistischen Organisationen angeschlossen haben. Der IS übrigens erfüllt die drei Merkmale für Ambiguitätsintoleranz geradezu beispielhaft: Wahrheitsobsession, Ablehnung von Konvention und Geschichte, Streben nach Reinheit.

45 Prozent der islamistischen Attentäter sind Ingenieure, schreiben Sie.

Ein Ingenieur muss, das ist sein Beruf, eindeutige Lösungen herstellen. Die Religion in ihrer extremistischen Ausformung erwartet genau diese ingenieurhafte Eindeutigkeit.

Die Politik doch auch. Braucht nicht jeder Staat eindeutige Regeln, um zu funktionieren?

Die Regeln müssen gar nicht eindeutig, nur allgemein und eingrenzbar sein. Wenn Gesetze eindeutig wären, bräuchten wir keine Gerichte. Mein Lieblingsbeispiel ist der Paragraf 1 des Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Der Satz gilt immer noch, obwohl wir unter Menschenwürde heute nicht mehr das Gleiche verstehen wie 1948. Eine der größten Ambiguitätsleistungen, die die europäische Gesellschaft hervorgebracht hat, ist doch die Demokratie. Die verlangt das Aushalten von Widersprüchen. Die meisten Parteien behaupten ja nicht, die Wahrheit zu verkünden, sondern nur das, was ihrer Meinung nach am besten für die Gesellschaft ist. Wenn sich die Mehrheit anders entscheidet, akzeptieren sie das.

Heißt das, eine demokratische Gesellschaft muss auch Zwangsehen und Faschisten aushalten?

Zunächst einmal bitte nicht Toleranz und Akzeptanz mit Mehrdeutigkeit verwechseln. Dass ich etwas toleriere, heißt ja noch lange nicht, dass ich es akzeptiere. Bei der Ambiguitätstoleranz geht es um das Aushalten von Vieldeutigkeit, Vagheit. Die katholische Kirche zum Beispiel ist in ihrer Geschichte nicht immer tolerant gewesen, sehr wohl aber ambiguitätstolerant. In allen deutschen Bistümern ist es alltägliche Praxis, dass man auch dem nicht katholischen Ehepartner die Kommunion gibt. Aber darf man es offiziell erlauben? Wenn ein Pfarrer jetzt überhaupt keine Anleitung bekommt, bürdet man ihm eine Last auf. Schließlich einigten sich die Bischöfe darauf, eine Handreichung zu veröffentlichen – allerdings nicht als offiziellen Beschluss, sondern als formlosen Bericht. Da sieht man, was man mit einer gewissen Ambiguitätstoleranz erreichen kann: Ein Problem lässt sich lösen, ohne es endgültig zu lösen.

Pädagogen sagen, Kinder brauchen verlässliche Regeln. Jeder Pubertierende gleicht einem kleinen Radikalen. Wann ist der Mensch reif für Ambiguität?

Natürlich braucht es eine gewisse geistige Reife, und man kann das tatsächlich nur lernen, wenn man auch Werte hat, an denen man sich ausrichtet. Das Problem ist, heute tendieren die Leute verstärkt zu den Extremen: Gleichgültigkeit und Fundamentalismus. Die Mitte wird immer leerer. Denken Sie ans Essen. Es gibt zunehmend Leute, die – auch mit guten Gründen – Vegetarier sind. Aber viele lassen es nicht dabei, die müssen dann noch Veganer sein. Auf der anderen Seite gibt es bekennende Paleo-Menschen, die das Fleisch am liebsten noch roh essen. Ich glaube, es ist gut, Kinder mit einer Bandbreite vertraut zu machen. Deswegen ist es auch Unfug, wenn bei Pippi Langstrumpf aus dem „Negerkönig“ ein „Südseekönig“ wird. Warum erklärt man Kindern nicht einfach, weswegen man diesen Begriff heute nicht mehr benutzen würde?

„Schafft sofort den Kapitalismus ab“

Immer schön eindeutig. Donald Trump nimmt es mit der Wahrheit nicht so genau, seine Wähler nehmen ihn trotzdem ernst.
Immer schön eindeutig. Donald Trump nimmt es mit der Wahrheit nicht so genau, seine Wähler nehmen ihn trotzdem ernst.
© AFP/Brendan SMIALOWSKI

Unterscheidet sich die Fähigkeit, Uneindeutigkeit auzuhalten, auch nach Ländern?

Durchaus. In den USA zum Beispiel sind Sportarten unbeliebt, bei denen als Ergebnis ein Unentschieden möglich ist. Europäische Männer machen dort oft die Erfahrung, fälschlicherweise für schwul gehalten zu werden, wenn sie nicht laut und dominant auftreten. Auch der Erfolg von Donald Trump lässt sich damit erklären, dass er immer so schön eindeutig ist. Zwar erzählt er heute dies und morgen das, aber er ist dabei immer total eindeutig!

Total – authentisch?

Vermeintlich. Hinter dem Wunsch nach Authentizität steckt ja auch wieder der Gedanke, dass ein wahres eindeutiges Selbst in uns liegt. Aber Menschen sind nicht Naturwesen mit einem unverfälschten Inneren, das man, wenn man in sich hineinhorcht, finden kann, und das nur nach außen gestülpt werden muss. In der Regel ist das Authentische die Rechtfertigung, sich unmöglich zu benehmen. Wir sehen das jeden Tag mit den Shitstorms im Internet. Jeder hat sofort eine Meinung zu allem und beleidigt jeden, der diese Meinung nicht teilt. Und das auch noch mit gutem Gewissen. Denn er ist ja eindeutig und authentisch.

Warnen Sie deshalb vor „authentischen“ Politikern?

Wir Menschen haben verschiedene gesellschaftliche Rollen, das wird verkannt. Wenn ich Bürgermeister bin, benehme ich mich in meiner Amtsstube anders, als wenn ich mit meinen Kindern Fußball spiele. Als Privatmann bin ich vielleicht der Meinung, dass es besser wäre, diese Straße nicht zu bauen, aber als Bürgermeister sage ich, für die Gemeinde ist es wahrscheinlich doch wichtig. Das ist nicht authentisch, das ist Politik.

Und die Wirtschaft, welche Rolle spielt die?

Der Mechanismus, der die Vereindeutigung ermöglicht wie kein zweiter, ist der Kapitalismus. Die endgültigste Art, Ambiguität zu eliminieren, ist, etwas in Daten umzusetzen. Wer mit dem Fitnesstracker rumläuft, der kennt sich irgendwann in Zahlen – und verwechselt sich mit Zahlen. Erschwerend kommt hinzu, dass man das, was man messen kann, prinzipiell für wichtiger erachtet als das, was man nicht messen kann. Ein Schnitzel in Zahlen umzurechnen, ist noch relativ harmlos, aber bei Kunstwerken ist es schon etwas anderes. Man kann den Preis eines Werks kennen, den es bei einer Auktion erzielt hat, und trotzdem nichts davon verstanden haben.

Da ersetzt die Eindeutigkeit des Preises die prinzipielle Mehrdeutigkeit eines Kunstwerks.

Nur ist Kunst ja heute gar nicht immer mehrdeutig. Oft ist sie beliebig. Sagen wir, ein Künstler türmt in einem Museum einen Haufen Waschlappen auf. Natürlich kann sich jeder etwas dabei denken. Aber wenn sich 100 Leute irgendwas denken, hat es streng genommen gar keine Bedeutung mehr. Der Witz ist, dass auch in so einem Fall wieder der Hang zur Eindeutigkeit durchschlägt. Wenn man in den Katalog guckt, steht da nämlich, der Künstler will sagen, dass wir innerlich rein sein sollen oder so. Dann hat es genau wieder eine Bedeutung. Das erklärt übrigens auch, wieso Künstler wie Jackson Pollock und Mark Rothko von der CIA gefördert wurden. Ihr abstrakter Expressionismus galt zwar als provokativ und progressiv, transportierte aber eigentlich keinerlei Botschaft, die gesellschaftlich gefährlich werden konnte.

Und wie bekommt man nun eine Gesellschaft wieder dahin, Widersprüche auszuhalten?

Bessere Kunst- oder Musikerziehung wäre ein Anfang. Selbst wenn man gebildet ist, weiß man ja in erster Linie das, was man wissen will. Die Künste sind jedoch in der Lage, den Menschen aus dieser bequemen Zone zu holen und in uneindeutige Situationen zu bringen. Kunstwerke, die diesen Namen verdienen, haben keine eindeutigen Zwecke, sondern wecken diverse Empfindungen und Eindrücke und eröffnen einen Interpretationsspielraum, der aber auch nicht unendlich groß sein darf. Dies gilt sogar für die Musiker selbst. Denken Sie an Bach. Welche Noten Sie spielen müssen, ist klar, Angaben zu Tempo oder Lautstärke macht er jedoch nicht.

Die Kunst wird uns also retten?

Na ja, besser wäre es natürlich, wir schafften den Kapitalismus ab. Wir alle wissen, dass ein Weiter-so in die absolute Katastrophe führt. Aber wenn Thomas Bauer sagt: „Schafft sofort den Kapitalismus ab“, wird das dann gemacht? Eher nicht. Deshalb schlage ich erst mal kleinere Lösungen vor. Ich glaube, dass auch ein normalerer Umgang mit alten und behinderten Menschen die Ambiguitätstoleranz schulen würde. Menschen, denen gegenüber man gar keine anderen Empfindungen haben kann als ambivalente. Wenn Sie für jemanden sorgen müssen, werden Sie den nicht immer nur lieben oder hassen können. Das zu erfahren, kann ein Gewinn sein.

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