Verhütung unter Hitler: Die Berliner Geschichte des Kondoms
1916 verkaufte der Berliner Julius Fromm das erste industrielle Markenkondom. Es begann eine große Unternehmerkarriere – doch dann kamen die Nazis.
Am 12. Mai 1945 erhob sich Julius Fromm aus dem Bett und schritt zum Schlafzimmerfenster seiner Londoner Exilwohnung. Bevor der 62-jährige Unternehmer die Gardinen beiseiteziehen konnte, sank er zu Boden und starb.
Draußen, in den Straßen Londons, feierten die Menschen noch immer das Ende des Zweiten Weltkriegs, die deutsche Kapitulation lag wenige Tage zurück. Fromm, so erzählten es sich später seine Verwandten, hatte sich so sehr über Hitlers Untergang gefreut, dass sein Herz versagte. Bis in seine letzten Londoner Morgenstunden hinein soll er davon geträumt haben, nach Deutschland zurückzukehren, um das Lebens-, das Liebeswerk fortzusetzen, das die Nazis ihm entrissen hatten.
Zwei Weltkriege rahmen Fromms Karriere: Was mit dem Zweiten enden sollte, hatte mit dem Ersten begonnen. Im Berliner Bötzowviertel, in der heutigen Käthe-Niederkirchner-Straße, eröffnete der jüdische Unternehmer 1914 sein erstes „Fabrikations- und Verkaufsgeschäft für Parfümerien und Gummiwaren“. Was er da herstellte und an den Mann brachte, war so unerhört, dass es in der Geschäftsbezeichnung vorerst nur andeutungsweise vorkommen durfte: Fromm produzierte Kondome.
Die älteren Kondome hatten kratzige Nähte - und rissen oft
Es waren nicht die ersten Verhütungsmittel, die im Kaiserreich Verwendung fanden, doch bevor Fromm auf den Plan trat, hatte sich der deutsche Mann beim Liebesspiel Schafsdärme übergestülpt, Fischblasen, Gummischläuche mit kratzigen Nähten, die nicht nur schwer erhältlich waren, sondern auch allzu oft rissen.
Was Fromm – ab 1916 unter dem Markennamen „Fromms Act“ – verkaufte, war etwas völlig Neues: Er brachte die ersten nahtlosen, industriell gefertigten Qualitätspräservative auf den Markt. Ihre Herstellungsweise dokumentieren die Historiker Götz Aly und Michael Sontheimer in ihrer gut recherchierten Unternehmerbiografie „Fromms: Wie der jüdische Kondomfabrikant Julius F. unter die deutschen Räuber fiel“: Glaszylinder wurden in eine Kautschuklösung getunkt, um hauchdünne Gummihohlkörper zu erzeugen, die man vor dem Abrollen heißvulkanisierte und mit Gleitmitteln bestäubte.
In Abendkursen hatte der Sohn einer ärmlichen ostgalizischen Einwandererfamilie zuvor Chemie studiert, um sich die Grundlagen der Kautschukverarbeitung anzueignen. Fromm musste geahnt haben, dass der Markt für Verhütungsmittel in den kommenden Jahren und Jahrzehnten explodieren würde. Zwei Faktoren waren dafür entscheidend: Langfristig beflügelte die gelockerte Sexualmoral der Weimar-Ära Fromms Geschäft, kurzfristig tat es der ihr vorausgehende Krieg.
Rasanter als die Syphilis breitete sich die Familienplanung aus
An der West- wie an der Ostfront breiteten sich ab 1914 im Kaiserheer rasant Geschlechtskrankheiten aus. Um die unkontrollierte Prostitution und mit ihr die Truppengesundheit in den Griff zu bekommen, ließ die Heeresführung überwachte Soldatenbordelle einrichten. Wer sie besuchte, bekam ein Kondom ausgehändigt, dessen Benutzung Pflicht war. Unter den Soldaten sprach sich schnell herum, dass die neuartigen Präventionsmittel nicht nur vor Krankheiten, sondern auch vor ungewollten Schwangerschaften schützten, weshalb viele Kriegsheimkehrer, die an der Front zum ersten Mal mit Präservativen in Kontakt gekommen waren, sie fortan auch im Ehebett nutzten. Rasanter noch als die Syphilis breitete sich so in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs der revolutionäre Gedanke der Familienplanung aus.
Der jedoch war im Deutschland der Nachkriegsära als Werbebotschaft noch tabu. Nicht nur die Kirchen, auch Teile des Weimarer Verwaltungsapparats fanden den verhütungsbedingten Rückgang der deutschen Geburtenraten beängstigend. Propagieren durfte Fromm deshalb vorerst nur den gesundheitlichen Schutz, den seine Präservative boten, nicht ihre empfängnisverhindernde Wirkung. Dass Kondom-Reklame grundsätzlich nicht den Sittengesetzen widersprach, musste Fromm den verkaufsentscheidenden Drogisten erst durch Anzeigen in Fachblättern klarmachen: „Sollten Sie wider Erwarten gelegentlich behelligt werden“, ließ er sie wissen, „bitten wir Sie, uns so schnell wie möglich zu verständigen, damit wir Ihnen mit Rat und Tat zur Seite stehen können.“ Noch lange lagen den grün-violett gestreiften Dreierpackungen, die Fromm für 72 Reichspfennige verkaufte, kleine Zettelchen bei, die Kunden beim nächsten Drogeriebesuch unauffällig über die Ladentheke schieben konnten: „Bitte händigen Sie mir diskret aus: 3 Stück ,Fromms‘-Gummi.“
Im Kabarett sang man: "Fromms zieht der Edelmann beim Mädel an"
Trotz all dieser Einschränkungen boomte das Geschäft. Bereits 1919 produzierte Fromm in seiner Hinterhofwerkstatt bis zu 150 000 Präservative am Tag, und der drei Jahre zuvor eingeführte Markenname „Fromms Act“, der vage nach Internationalität und Erotik klingen sollte, war bald so populär, dass sich Fromm die Produktwerbung sparen konnte: Der Volksmund machte das Wort „Frommser“ zum Synonym für Kondome, selbst in Kabarettliedern der 20er Jahre tauchte der Markenname auf: „Wenn’s euch packt, nehmt Fromms Act“, sang man, oder: „Fromms zieht der Edelmann beim Mädel an.“
Als die Produktionsräume im Bötzowviertel 1922 zu eng wurden, baute Fromm eine neue Kondomfabrik in Friedrichshagen, die nach sechs Jahren erneut an ihre Kapazitätsgrenzen stieß. Die Firma unterhielt zu diesem Zeitpunkt Repräsentanzen in 15 deutschen Städten, zusätzlich war sie in Antwerpen, Auckland, Budapest, Czernowitz, Den Haag, Kattowitz, Konstantinopel, London, Reykjavik, Riga und Zürich vertreten. Wieder expandierte Fromm, diesmal in die Friedrichshagener Straße in Köpenick, wo er auf einem 16 000 Quadratmeter großen Gelände ein neues Großwerk errichten ließ, nach Plänen der prominenten jüdischen Architekten Arthur Korn und Siegfried Weitzmann. Sachliche Fabrikarchitektur aus Stahl, Beton und Glas prägte diese „wuchtigen neuzeitlichen Bauten“ und „Stätten deutscher Arbeit“, wie sie 1933 das Pharmazie-Fachblatt „Der Drogenhändler“ pries. „Nur durch schärfste, zielbewusste Arbeit“, hieß es dort zu Fromms 50. Geburtstag, „hat er es erreicht, dass er jetzt als ein Mann dasteht, dem von allen Seiten für sein großangelegtes und genial durchgeführtes Lebenswerk Anerkennung gezollt wird.“
Sein Sohn landete auf einer Schwarzen Liste der SA
Der Artikel war kaum erschienen, als sich über dem Fromm’schen Lebenswerk Gewitterwolken zusammenzogen. Der Erste, der die neue politische Wetterlage zu spüren bekam, war Fromms ältester Sohn Max, der gegen den Willen des Vaters Schauspieler geworden war. Er trat unter anderem im „Kabarett der Komiker“ auf, einem jüdischen Satiretheater, das die aufkommende Hitler-Bewegung veralberte. Im Frühjahr 1933 wurde Fromm gewarnt, dass der Name seines Sohns auf einer Schwarzen Liste der SA stehe. Auf Drängen des Vaters verließ Max Deutschland und ließ sich in Paris nieder.
Fromm selbst hatte sich nie groß für Politik interessiert. Als Kind einer angepasst lebenden Einwandererfamilie wähnte er sich in Sicherheit. Alle Fromms hatten, als die Familie 1893 aus dem ostgalizischen Schtetl-Städtchen Konin nach Berlin übergesiedelt war, ihre Vornamen eingedeutscht: Fromms Vater Baruch nannte sich Bernhard, aus Rifka, der Mutter, wurde Regina, Fromms Schwester Esther hieß fortan Else, den Bruder Mosziek nannten die Eltern Max. Fromm selbst, der am 4. März 1883 unter dem Vornamen Israel ins Geburtsregister von Konin eingetragen worden war, hieß ab seinem zehnten Lebensjahr Julius.
Das neue Regime wollte ihn ausbürgern
Schon in den Anfangsjahren seiner Laufbahn hatte sich Fromm um die deutsche Staatsbürgerschaft beworben, die er 1920 auch erhielt. Schon 1933 aber wollte das neue Regime ihn rückwirkend wieder ausbürgern. Fromm, der mit seiner Familie inzwischen in einer Villa am Schlachtensee lebte, versuchte den Entzug der Staatsbürgerschaft mit einer Stellungnahme abzuwenden, aus deren anbiederndem Ton Verzweiflung spricht: „So konnte ich durch meine deutsche Artung und meinen deutschen Fleiß sauber und ehrlich einer der größten Steuerzahler meines Wohnbezirkes Zehlendorf-Schlachtensee werden“, schrieb Fromm. „Das ist meine deutsche Lebensarbeit!“
Da sich gleichzeitig prominente deutsche Industrielle für ihn einsetzten und schließlich sogar die Berliner Gau-Betriebszellen-Abteilung der NSDAP vor Arbeitsplatzverlusten und Exporteinbußen warnte, nahm das Innenministerium den Ausbürgerungsversuch vorläufig zurück. Fromm glaubte, das Gröbste überstanden zu haben – zumal zwei seiner Fabrikdirektoren NSDAP-Mitglieder waren. „Aber Herr Fromm, wir meinen doch nicht Sie“, hatten die beiden ihrem jüdischen Chef versichert: „Sie sind eine Ausnahme.“ Beruhigt ließ Fromm sie gewähren, als sie in der Werkskantine eine Hakenkreuzfahne nebst Führerporträt aufhängten. Lediglich seine Reklame passte der Unternehmer vorsorglich dem politischen Zeitgeist an: Als „rein deutsches Edel-Erzeugnis“ und „am meisten gekaufte deutsche Spezialmarke“ bewarb er fortan seine Kondome.
"Der Stürmer" hetzte gegen "die Judenfirma Fromms Gummiwaren"
Erst als 1936 im Antisemiten-Blatt „Der Stürmer“ ein Hetzartikel gegen „die Judenfirma Fromms Gummiwaren“ erschien, begriff Fromm, dass der Wind sich endgültig drehte. Er beauftragte seine Bank, den Verkauf seiner Firma vorzubereiten, um mit den Erlösen auszuwandern. Ein Kaufinteressent war bald gefunden, doch als der Vertrag schon unterschriftsreif vorlag, intervenierte das Reichswirtschaftsministerium, das sich bei Verkäufen jüdischer Firmen neuerdings ein Mitspracherecht herausnahm. Der Berliner Gauwirtschaftsberater erklärte gegenüber Fromms Bank, er habe für die Kondomfabrik einen „potenten Bewerber“ gefunden – drei handschriftliche Ausrufezeichen stehen im Gesprächsprotokoll der Bank neben dem ungewollt doppeldeutigen Zitat.
Den Zuschlag für „Fromms Act“ erhielt 1938 eine gewisse Elisabeth Edle von Epenstein-Mauternburg. Weit unter dem Marktpreis ging das Kondomwerk damit ausgerechnet an die Patentante von Reichsmarschall Hermann Göring – nicht ganz zufällig, wie sich herausstellte. Für den arrangierten Zwangsverkauf revanchierte sich die Baronin bei ihrem Schützling, indem sie dem Mittelalter-Liebhaber Göring zwei gut erhaltene Ritterburgen schenkte.
Die Nazis bereicherten sich an Fromms um drei Millionen Reichsmark
Nachdem Fromm mit seiner Familie nach England ausgereist war, hielt sich die deutsche Führung auch am Rest seines Eigentums schadlos. Zwangsenteignet wurde die Villa am Schlachtensee, zwangsversteigert ihr Mobiliar, zwangsverstaatlicht die Außenstände von Fromms Firma. Addiert man die „Reichsfluchtsteuer“, die „Judenvermögensabgabe“ und alle sonstigen schikanösen Zwangsabgaben hinzu, wie es in ihrem Buch die Historiker Aly und Sontheimer tun, bereicherte sich der deutsche Staat an Julius Fromm um drei Millionen Reichsmark. Nach heutigen Maßstäben entspräche das 30 Millionen Euro.
Als Emigrant durchlebte Fromm in London den Krieg. Obwohl man ihm seine Firma zum Spottpreis abgenommen hatte, ermöglichten ihm die Erlöse noch ein komfortables Leben. Trotzdem litt der Unternehmer, der in Berlin 500 Angestellte geführt hatte, unter seiner plötzlichen Untätigkeit. Immerhin aber war er mit dem Leben davongekommen – anders als viele seiner jüdischen Verwandten und Freunde. Sein Vermögensverwalter Günther Löbinger endete in Auschwitz, ebenso Fromms Schwägerin Elvira, deren behinderter Sohn Berthold in Theresienstadt erschossen wurde.
Das DDR-Regime enteignete ihn ein zweites Mal
Nach dem Krieg wurde Fromm ein zweites Mal enteignet – diesmal posthum. Das Kondomwerk in Köpenick war im Berliner Bombenhagel zerstört worden, nicht aber die ältere Fabrik in Friedrichshagen, die auf Betreiben des sowjetischen Stadtkommandanten sieben Wochen nach Kriegsende wieder in Betrieb genommen wurde. „Obwohl Jude“, hieß es 1948 in dem Beschluss, mit dem das Werk in Volkseigentum überführt wurde, „gehörte J. Fromm zu jenem kapitalistischen Ausbeutertyp, der sich in der skrupellosesten Weise aller sich bietenden Mittel und Methoden bediente, um seine Profitchancen rücksichtslos zu sichern.“ Vollendet wurde die Enteignung durch ein „Gesetz zur Einziehung von Vermögenswerten der Kriegsverbrecher und Naziaktivisten“, das man in absurder Verdrehung der Tatsachen auch auf Fromms Firma anwendete.
In Westdeutschland versuchten unterdessen Fromms Erben, wenigstens den Markennamen „Fromms Act“ zurückzuerhalten. Der aber gehörte inzwischen den Erben der Baronin von Epenstein, die es verstanden, sich selbst als Nazi-Opfer und den Zwangsverkauf als legitime Transaktion darzustellen. Man einigte sich schließlich außergerichtlich: Für knapp 175 000 D-Mark gingen die Markenrechte zurück an die Familie Fromm, die in den Nachkriegsjahren eine Lizenzvereinbarung mit dem „Hanseatischen Gummiwerk“ im niedersächsischen Zeven abschloss – dort werden bis heute Kondome unter dem Markennamen „Fromms“ produziert.
Am ehemaligen Standort des Kondomwerks in der Friedrichshagener Straße 38 erinnert heute nur noch ein Stolperstein an den einstigen Inhaber Julius Fromm. Von der Fabrik selbst ist nichts übrig. Zerstört wurde im Krieg auch das Wohnhaus im Scheunenviertel, in dessen Erdgeschoss die Familie Fromm lebte, nachdem sie aus Galizien eingewandert war. Auf dem ehemaligen Grundstück der Mulackstraße 9, wo der Pionier der modernen Empfängnisverhütung aufwuchs, befindet sich heute, Ironie des Schicksals, ein Kinderspielplatz.
Jens Mühling