Das Schicksal einer Rentnerin: Die Frau links vorm Prinzenbad
Sie füttert die Vögel, fegt den Weg und verkauft Zeitungen. Emma Hartmann hat ihren Platz in Kreuzberg gefunden. Jetzt ist er bedroht.
Sie war noch ein Kind damals. Starb fast vor Hunger. Krabbelte unter dem Holzgatter durch und zog der Kuh das Stück Brot aus dem Maul. Stopfte es sich in den Mund. Tat es am nächsten Tag wieder. Wäre sie erwischt worden, sie hätten sie verprügelt oder umgebracht. Sie ließ sich nie erwischen.
Jeden Morgen um halb acht, auch an diesem Donnerstag, tritt im Berliner Stadtteil Kreuzberg eine Frau aus ihrer Wohnung. Ein paar Strähnen ihres weißen Haars entfliehen ihrem Kopftuch, sie trägt es lockerer gebunden als die Muslimas im Kiez, ihre Augen leuchten eisbachblau. Sie ist in ihren Arbeitskittel geschlüpft und hat sich die pinkfarbenen abgewetzten Schuhe angezogen, eine kleine ausgemergelte Frau. Sie greift nach dem Einkaufsroller, der immer neben der Tür steht, darin die „FAZ“, die „Zeit“, die „BZ“, der „Spiegel“, der Tagesspiegel, dann biegt sie links ab, der Johanniterstraße folgend, geht nach rechts am Carl-Herz-Ufer entlang, schaut auf den Landwehrkanal, keine Schwäne heute, gestern zählte sie 23, läuft noch zweimal links, ehe sie vor dem Sommerbad Kreuzberg ankommt, das alle Prinzenbad nennen. Pünktlich um acht, jeden Morgen.
Die Frau baut zuerst ihren Zeitungsständer auf, legt die Zeitungen rein, stülpt eine Plastikfolie drüber, damit die Sonne das Papier nicht vergilbt. Sie geht zum Kiosk gegenüber des Prinzenbads, bittet um Wasser für die Vögel, füllt einen mitgebrachten Becher und stellt ihn ab, da springt die erste Amsel heran, die Frau sieht sie gar nicht, ist schon weiter, geht zum Eingang des Bads, nimmt sich einen Besen und beginnt den Platz zu fegen.
„Zu leben heißt, sich zu quälen“
Zuerst am Mäuerchen entlang, wo ein Obdachloser die Füße nicht hebt, sie fegt um ihn herum, dann direkt vor dem Eingang, wo sich an diesem Morgen schon eine zehn Meter lange Schlange gebildet hat. Die Frau ist fast fertig, da muss sie den Besen ablegen. Ein Mann will eine „Berliner Zeitung“. Sie läuft so schnell sie kann zu ihrem Einkaufsroller, kramt darin, dabei verrutscht ihr kurz das Gebiss mit dem fehlenden Schneidezahn, sie überreicht dem Mann die Zeitung, nimmt zwei Euro entgegen, schwingt die Faust in die Luft und ruft ihm zu: „Gott behiit Sie, mein goldiges Kind, und een scheeene Dag!“
Frau Hartmann ist jetzt 77 Jahre alt. Sie hat den Krieg überlebt, Vertreibung, Kälte, Hunger. Seit zwölf Jahren sitzt sie hier in Kreuzberg, jeden Tag im Sommer, und versucht, ein paar Zeitungen zu verkaufen. Für die Leute ist sie die Frau links vorm Prinzenbad. Die Frage ist, wie lange sie noch hier sein kann. „Zu leben heißt, sich zu quälen“, den Satz hat ihr die Mutter beigebracht.
„Menschen sind Späne der Geschichte“, schrieb die weißrussische Literaturnobelpreisträgerin Svetlana Alexejewitsch, und wenn das stimmt, ist Frau Hartmann einer, der stets dem Wetter ausgesetzt war.
Im Viehwaggon nach Sibirien
Sie wird 1941 geboren, in Saratow an der Wolga. Ihre Eltern taufen sie auf den Namen Emma. Sie sind Bauern, wie viele der deutschen Aussiedler dort, leben in der Autonomen Republik der Wolgadeutschen. Emmas Ururgroßeltern waren einst auf Einladung der Zarin Katharina nach Russland ausgewandert, siedelten nahe des fruchtbaren Flussufers und begannen, Tomaten und Gurken zu ziehen.
Die Wolgadeutschen wurden im Lauf der Jahre ausgeraubt und versklavt, starben in Dürreperioden, die Überlebenden blieben und verkauften ihr Gemüse bald bis nach Moskau und St. Petersburg, auch Emma Hartmanns Eltern. Dann begann der Zweite Weltkrieg.
Als ihre Mutter sie zur Welt bringt, plant Hitler gerade den Einmarsch in die Sowjetunion. Emma ist fünf Monate alt, da überschreiten drei Millionen deutsche Soldaten die sowjetische Grenze. Weil Stalin fürchtet, dass sich die Wolgadeutschen der Wehrmacht anschließen, schickt er seine Schergen. Die treiben 400 000 Deutsche in Viehwaggons, auch Emma und ihre Familie, sperren sie ein und transportieren sie nach Sibirien. Dort kommen sie in ein Arbeitslager.
In Kasachstan hatten sie alles
Frau Hartmann sitzt im Halbschatten vor dem Prinzenbad. Eine Träne rollt aus ihrem Auge über das furchige Gesicht, ehe sie sie wegwischt. „Das sind so Geschiiichten aus meinem Leben“, sagt sie im Dialekt der Wolgadeutschen. Aus Vögel wird Veegel, aus Glück Glick, statt hören sagt sie horchen. „Horch e mal“, so beginnt sie ihre Sätze, wenn der Tag ihr noch nicht die Kraft geraubt hat. Dann erzählt sie aus ihren Erinnerungen, um neun Uhr vormittags, während Mütter ihre Kinderwagen zum Eingang des Prinzenbads schieben und Rentner das Bad schon verlassen. „Mit sieben Weibsleut lebten wir in einer Baracke“, sagt Frau Hartmann. Die Kleider kochten sie regelmäßig in einem Topf auf dem Herd, um die Läuse zu töten, „aber unsere Kepf konnten wir nicht kochen“. Frau Hartmann erinnert sich, wie sie sich und ihrer Schwester ganze Haarbüschel ausriss, damit endlich das Jucken aufhörte. Sie kratzten, bis sie bluteten. Zu leben heißt, sich zu quälen.
Vor ein paar Wochen bekam Frau Hartmann einen Brief von ihrem Vermieter. Darin stand, dass sie aus ihrer Kreuzberger Wohnung rausmüsse, er wolle sanieren. Frau Hartmann erzählt davon, bis ihre Eisbachaugen glänzen. Sie mag nicht dran denken, was das für sie bedeuten könnte.
Stattdessen schaut sie nach den Blumen. Sie hat den Leuten vom Schwimmbad erzählt, dass die auf sie Acht geben müssen, sie würde sie ja gießen, aber aufpassen, dass niemand sie platt trampelt, könne sie nicht. Die Leute an der Schwimmbadkasse nicken pflichtbewusst, wenn Frau Hartmann kommt, aber wenn die Alte sich umdreht, lächeln sie sich zu. Frau Hartmann läuft auch mehrmals am Tag zu ihnen und sagt, dass vorne Schlaglöcher im Pflaster sind, erst neulich stürzte ein Kind, da ist sie gleich zum Kassenpersonal. Hab ich’s doch gesagt. Nicht unsere Aufgabe, sagten die.
In Dschambul wuchsen wieder Tomaten
Die Blumen sind heute niedergetrampelt, dazwischen liegen eine Cola-Dose und ein Zigarettenstummel. Frau Hartmann hebt beides auf und trägt es zum Mülleimer.
In Sibirien wurde ihre Mutter bald krank. Emma betete heimlich, die Bibel hatte sie in einer Schublade gesteckt, die durften die Lagerwärter nicht finden. Sie wünschte sich, dass Gott der Mutter das Rheuma nehmen würde, aber auch, dass endlich dieser Hunger aufhöre, der nach ihr griff wie eine große Hand, die langsam den Magen zerquetscht. Als Stalin 1953 starb und die Mutter kaum noch gehen konnte, Arme und Beine entstellt nach innen verdreht, durften sie weg.
Ein Arzt empfahl, in die Wärme zu ziehen, ins Städtchen Dschambul, heutiges Kasachstan. Dort wuchsen wieder Tomaten, ganz in der Nähe ihres Häuschens floss der Ob, ein gigantischer, träger Fluss. Der Vater arbeitete, Emma brachte ihm Mittagessen aufs Feld, und während der Vater aß, schwamm Emma im Ob. Auf dem Ob gab es Schwäne, und Emma lernte, sie zu zählen. Manchmal streifte sie ein Fisch am Bein. In Kasachstan hatten sie alles. Dann starb die Mutter.
Hipster versauen ihr manchmal den Tag
Emma Hartmann wurde Krankenschwester in einer Klinik in Dschambul, Ende der 50er Jahre war das. Sie arbeitete von morgens früh bis abends spät, heiratete ihren Nachbarn, einen Russen, und gebar zwei Söhne. Einmal, erzählt sie, brach sich der jüngere den Arm, als er von einem Kirschbaum stürzte, sie gipste den Arm und befahl dem Vater, den Jungen zur Kontrolle ins Krankenhaus zu bringen. Als sie abends wiederkam, war der Junge immer noch nicht beim Arzt gewesen, dafür der Vater verschwunden. Er kam später heim, volltrunken, es war nicht das erste Mal. Frau Hartmann beschloss, dass er sich zum Teufel scheren solle.
Hier bricht sie ab an diesem glitzernden Sommermorgen, in der Luft der Geruch von Chlor und Sonnencreme. Man solle sie in Ruhe lassen, sie wolle nicht mehr. Am nächsten Morgen lacht sie wieder.
Ein Hipster hat sie zugeparkt. Diese Typen fallen ihr vermehrt auf in letzter Zeit, die rasen mit ihren Rennrädern daher und schließen die mit ihren Bügelschlössern genau da fest, wo sie sitzt. Wenn das Rad dumm steht, so wie heute, verdeckt es ihre Zeitungen. Der Hipster im Kurzarmhemd kommt bald zurück, sieht das Sortiment und fragt nach einer „Zeit“. Frau Hartmann reicht sie ihm, „5,50 Euro, mein goldiges Kind“. Puh, sagt der Hipster, ob sie wirklich den vollen Preis verlange, die sei ja schon ein paar Tage alt. Da zieht Frau Hartmann die „Zeit“ wieder weg und schnaubt. Der Hipster zahlt den vollen Preis.
Manchmal würde so ein Moment Frau Hartmann den Tag versauen. Heute nicht. Heute waren schon ein paar Freunde von ihr da. „Freinde“, wie sie sagt.
Allein, allein, allein
Ihre Freunde sind Prinzenbadrentner, die bleiben bei ihr stehen, kaufen eine „FAZ“ oder eine „BZ“ und reden. Erzählen, dass das Wasser drinnen wieder zu warm ist. Fragen, wie es ihr geht. Sonja, Marina, Norbert, Johannes. Die Freunde brachten schon Kirschen mit, aber die stellte Frau Hartmann weg, weil das mit dem Gebiss nicht ging. Jetzt bringen die Freunde Joghurt oder Kompott, manchmal Kuchen. Und Frau Hartmann strickt für sie Wollsocken.
Heute ist Sonja da, mit dem Mops. Während sie schwimmt, passt Frau Hartmann auf ihn auf. Sie hat immer eine Decke dabei für den Fall, dass Sonja kommt, darauf liegt jetzt der Mops und schnauft. Sonja, eine Frau mit lockigen Haaren, erzählt, wie sie vorhin von einem Lastwagenfahrer beschimpft wurde. Sie traut sich kaum, das Wort des Lastwagenfahrers zu wiederholen, sagt es schließlich doch, „Pornolocke“. Frau Hartmann lacht. Den Müll in den Beeten ignoriert sie eine Weile.
Kasachstan wollte Deutsche nicht mehr haben
Sie zog die Kinder allein groß. Arbeitete noch mehr. Glücklich war sie, sagt sie, eine Zeit lang. Dann siedelte ihre Schwester Hilde in den 90er Jahren nach Deutschland über, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Das neue Land Kasachstan wollte Deutsche nicht mehr haben, das wiedervereinigte Deutschland ermöglichte die Rückkehr. Emma Hartmann blieb trotzdem noch ein paar Jahre, so lange, bis die Söhne nach Russland zogen, heirateten und Hilde in ihrem Dorf an der Nordsee an Krebs erkrankte.
Sie beantragte die Ausreise 2001. Wollte Hilde pflegen. Musste einen Sprachtest ablegen und wurde ausgeflogen. In Berlin kam sie in eine Flüchtlingsunterkunft, nach sechs Wochen durfte sie weiter. Als sie gerade aufbrechen wollte, an die Nordsee, erfuhr sie, dass Hilde schon tot war.
Frau Hartmann wäre damals gern zu ihrer Nichte gegangen, aber sie musste in Berlin bleiben, das ordnete das Amt an. Sie war nun in Deutschland, dem Land ihrer Vorfahren, dessen Sprache sie sprach und von dem sie so viel gehört hatte. Dass alles besser sei hier. Doch was tun ohne die Schwester, ohne die zwei Söhne, ohne die Enkel? Zurück konnte sie nicht, dafür fehlte das Geld – und wohin überhaupt? Blieb das Telefon, ihre Kinder hat sie bis heute nicht mehr gesehen. „Allein, allein, allein“, sagt sie.
2012 schwärzte sie jemand an
Frau Hartmann suchte damals eine Wohnung, die sie am Landwehrkanal fand. Da gab es Schwäne, sie hatte sie gleich entdeckt. 450 Euro bezahlt sie monatlich dafür, sie bezieht 550 Euro Rente.
Jeden Morgen um 5.30 Uhr bringt ihr ein Mann die Zeitungen, holt die übrig-gebliebenen vom Vortag ab und nimmt das Geld an sich, das Frau Hartmann verdient hat. Pro verkaufter Zeitung darf sie 20 Cent behalten, für die „Zeit“ kriegt sie 40, am Tag verdient sie zwischen null und vier Euro.
In Deutschland gibt es einen Unterschied zwischen stehenden und sitzenden Zeitungsverkäufern. Emma Hartmann war zu schwach, den ganzen Tag über zu stehen, also setzte sie sich, anfangs immer auf die Admiralbrücke, wo sie noch heute im Winter hockt, wenn das Prinzenbad zu ist. Jemand schwärzte sie an, 2012, weil sie keine Lizenz zum Sitzen hatte, keine Straßensondernutzungserlaubnis. Emma Hartmann verstand das nicht, ihre Freunde kapierten es auch nicht, aber machten sich für sie stark. Seitdem duldet die Stadt Berlin, dass Emma Hartmann ihre Zeitungen im Sitzen verkauft.
Ein Zimmer ohne Fenster
Ein heißer Tag im August. Frau Hartmann hat wieder Platz genommen vor dem Bad, ihr läuft der Schweiß, sie keucht und schimpft. „Horch, die Frauen mit Kopftuch in der Schlange, fünf Euro Eintritt, wie können die sich das leisten? Denne geht’s gut bei uns.“ Frau Hartmanns Blick in die Welt ist die Schlange vor dem Prinzenbad, daraus zieht sie ihre Schlüsse. In der Schlange geht es den Menschen wirklich gut, Deutschen, Türken, Russen, sie stehen schließlich fürs Schwimmbad an. Frau Hartmann war noch nie drin.
Die Mittagssonne brennt jetzt auf den Platz vor dem Bad, ein Freund fragt sie, ob sie nicht besser nach Hause gehen wolle, sich schonen. Frau Hartmann sagt, sie warte noch auf eine Frau, die ihr gestern gesagt habe, dass sie mittags käme, um einen Tagesspiegel zu kaufen. Die SPD-Frau, so nennt sie die. Den richtigen Namen hat sie vergessen, aber sie erinnert sich, dass sie früher in der Partei aktiv war.
Sie harrt im Schatten aus, irgendwann kommt die SPD-Frau, und Frau Hartmann bemerkt, dass sie keinen Tagesspiegel mehr hat. Zwischen den Wartenden vorm Bad springt sie hindurch zum Kiosk gegenüber und kauft einen, dazu einen Kaffee mit Extrabecher. Sie überreicht die Zeitung, berechnet keinen Cent mehr, als sie selbst bezahlt hat, schüttet die Hälfte des Kaffees in den Extrabecher und überreicht auch den. Die SPD-Frau nippt, es ist zu heiß für Kaffee. Dann macht sich Emma Hartmann auf den Heimweg. Sie zählt 13 Schwäne.
Raus aus der Wohnung, aber wohin?
Sie könnte zu Hause bleiben, sie könnte betteln, da hätte sie vielleicht mehr davon. Aber Emma Hartmann hat ihr Leben lang gearbeitet, sie hört jetzt nicht damit auf, nur weil sie nichts verdient. „Wenn ich dahaam bleib, hab ich das Gefiihl, die Wänd stiirzen auf mich drauf.“ Sie hat es mal mit der Kirche versucht, aber „die Weibsleut hatten zerrissene Hosen an, und die Mannsleut haben Bier getrunken“. Der Pfarrer zuckte nur mit den Schultern, als sie ihm sagte, dass ihr das nicht passe. Sie ging dann einfach nicht mehr hin. Das Zeitungverkaufen dagegen ist nicht nur ein Job.
Ob der Vermieter mit seinem Schreiben Ernst macht und wann, das weiß Frau Hartmann nicht. Oder will es nicht sagen. Sie weiß nur, dass sie in Kreuzberg nichts Bezahlbares mehr finden wird, wenn der sie rausschmeißt. Neulich war sie in Weißensee, hat sich eine Wohnung angeschaut, ein Zimmer ohne Fenster.
Weißensee liegt zehn Kilometer entfernt vom Prinzenbad.