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Einem Mädchen den Kopf rasieren, wer macht das schon?
© Angie Pohlers

Läuse-Zentrum für Kinder: Adieu, alte Laus!

Nissenentfernung, dazu ein Café au lait: In Marseille erlöst das "Centre Kids Poux" Kinder von Blutsaugern und Eltern von Scham.

Manchmal muss Laurence Goya gar nicht erst nach den Biestern suchen. Sie öffnet den Zopf, die Haare fallen herab, und sie kann sie schon riechen. Schwierig zu beschreiben, diese Note. Vielleicht wie altes Fett, auf jeden Fall unangenehm. „Dann weiß ich, es sind Läuse.“

Die 35-Jährige könnte mit ihrem akkurat aufgetragenen Make-up und den feinen Bewegungen als Besitzerin eines Schönheitssalons durchgehen, aber sie ist Laus-Expertin. Verhalten, genetische Veränderungen der Populationen, Fortpflanzung: Goya kennt sich aus. Vor einem Jahr gründete sie mit ihrem Mann hier in Marseille die Kette „Centre Kids Poux“, Kinder-Läuse-Zentren, ein Novum in Frankreich. Mittlerweile sind es vier Salons, ein fünfter eröffnet demnächst in Lyon.

In Deutschland fehlt ein solches professionelles Angebot, dabei krabbeln auch hier fast auf jedem Kinderkopf mal Läuse, sagt die Deutsche Pediculosis-Gesellschaft in Hannover. Ihre Haltung: Alles gar nicht so schlimm. Fiese Krankheiten wie das Fleckfieber übertragen Läuse in Europa so gut wie nie. Und den Befall, glaubt der Vorsitzende Jan Krüger, kriege man auch allein in den Griff. Zweimal Spezial-Shampoo, alle vier Tage nass auskämmen. Aus die Laus. Trotzdem ist der Terminkalender von Laurence Goya voll.

Manche der Mütter, die mit ihren Kindern zu Goya kommen, weinen

Die Tiere verbreiten sich besonders in Schulen und Kitas, alle Hygiene hilft nichts. Kinder rangeln, kuscheln, stecken die Köpfe zusammen. Meldet eine Einrichtung Befall, schalten sich die Gesundheitsämter ein. Mehr als 1100 Kontrollen gab es im vergangenen Jahr sowohl in Friedrichshain-Kreuzberg als auch in Steglitz-Zehlendorf. Meistens sind die Eltern schon mit Shampoo und Kamm erfolgreich gewesen, wenn der Amtsarzt anrückt.

Laurence Goyas Kunden haben es auch oft allein probiert, ihren Kindern etliche Male den Kopf gewaschen und es doch nicht geschafft. Sie sind dankbar, dass ihnen jemand hilft und sie von der Scham erlöst, die sie fühlen, sobald sich die Läuse auf den Köpfen der Familie dauerhaft einnisten.

Manche der Mütter, die mit ihren Kindern zu Goya kommen, weinen: wegen eines Tierchens, maximal drei Millimeter groß, das nicht springen und nicht fliegen kann, aber sechs kräftige Beinchen hat, mit denen es zielsicher durch die Haare klettert, um mehrmals am Tag seinen Rüssel in die Kopfhaut zu stecken und Blut zu saugen. Das Sekret, das es dabei in der Wunde hinterlässt, löst allergische Reaktionen aus. Es juckt. Es macht Kinder und Erwachsene wahnsinnig.

Ihr Salon ist auch eine Art Selbsthilfegruppe

An einem Sonntagvormittag steht Laurence Goya in ihrem Salon in Marseille und schaut zu, wie ihre Mitarbeiterin Muriel den Schopf der zwölfjährigen Nour in viereckige Partien teilt. Nours Mutter lädt derweil ihren Frust bei Goya ab. Sie habe alles versucht, aber ihre Tochter mache nicht mit. Vermutlich übertragen sich die Läuse immer wieder von Neuem unter Nours Freundinnen, sie würden ja nicht darüber sprechen. „Sie trauen sich nicht“, sagt Goya. Nour kratze sich, behaupte dann aber immer, es sei nichts, klagt ihre Mutter. Jetzt habe sie sogar jede Behandlung verweigert. Die rundliche Frau lacht nervös. „Seit zwei Monaten geht das mit den Läusen nun schon.“ Nour zieht eine Flunsch und starrt in den Spiegel vor sich.

Aus die Laus. Die Haare werden in Partien geteilt, abgesaugt, ausgekämmt.
Aus die Laus. Die Haare werden in Partien geteilt, abgesaugt, ausgekämmt.
© Angie Pohlers

„Ich weiß, wie das ist, ich habe drei Töchter“, sagt Laurence Goya. Ihr Salon ist auch eine Art Selbsthilfegruppe. „Bei uns hat es nicht zwei Monate gedauert, sondern zehn Jahre.“ Nours Mutter hält sich die Hand vor den Mund, als Goya ihre Leidensgeschichte erzählt: wie sich ihre zwei ältesten Töchter immer wieder gegenseitig ansteckten, wie fies andere Mütter reagierten, und wie sehr sie sich schämte. Irgendwann stand Laurence Goya vor dem Schulleiter und erklärte ihre Niederlage. Die lange, dunkle Mähne ihrer Ältesten war weiß vor lauter leeren Läuseeiern, matt und verknotet. „Und einem Mädchen den Kopf rasieren, wer macht das schon?“

Zwei Jahre ist es her, da besuchte die Familie Freunde in Miami und hörte von einem Zentrum, das sich auf die Entfernung der Parasiten spezialisiert hatte. Eine Behandlung kostete 500 US-Dollar. „Ich hätte jeden Preis gezahlt.“ Als die Mädchen den Salon verließen, sahen ihre Haare glänzend und gesund aus. Später, beim Kontrollbesuch, zeigte sich, dass alle Läuse weg waren. Der Kampf war endlich vorbei.

Erste Konkurrenz: In Paris hat "Bye Bye Nits" eröffnet

Nach dem Urlaub recherchierte Laurence Goya, fand nichts Ähnliches in Frankreich, dafür aber Anbieter in Spanien, einige wenige auch in Portugal, Italien, Holland. Sie fuhr nach Spanien und verhandelte: Goya wurde in Läuse-Entfernung ausgebildet und durfte die merkwürdigen Staubsauger, die zum Prozedere gehören, mit heimnehmen, um ihre eigene Kette aufzubauen. Was das gekostet hat, will sie nicht verraten. So, wie sie die Augenbrauen hochzieht, ahnt man: nicht wenig. Mittlerweile bieten die Spanier das Franchise-Konzept offen an. Und Goya hat erste Konkurrenz im eigenen Land bekommen. In Paris hat „Bye Bye Nits“ eröffnet – „Tschüs, Nissen“.

Die Läden arbeiten unterschiedlich, der Konkurrent nutzt einen speziellen Föhn, der angeblich die Nissen, also die Eier der Läuse, austrocknet, ohne das Haar zu beschädigen. Goya schwört auf ihre umgebauten Staubsauger, die – so viel Ästhetik muss sein – hinter den Spiegeln verbaut sind. Die Schläuche ragen aus der Wand und haben Kammaufsätze. Im Inneren des Schlauchs befindet sich ein Filter, der die Läuse auffängt. Manchmal ist der am Ende einer Sitzung voller dunkler Tierchen.

Im Filter das pralle Leben

Kammerjägerin. Laurence Goya ekelt sich längst nicht mehr, wenn der Filter des Saugers wieder mal schwarz vor Nissen ist.
Kammerjägerin. Laurence Goya ekelt sich längst nicht mehr, wenn der Filter des Saugers wieder mal schwarz vor Nissen ist.
© Angie Pohlers

Jetzt ist Nour an der Reihe. Mit ihren Haaren, die für die Behandlung in viele Zöpfe gedreht sind, sieht sie aus, als würde sie auf ein 90er-Jahre-Rave gehen. Eine Laus krabbelt gerade gut sichtbar auf einem abstehenden Haar herum. „Oh là là“, ruft Muriel, gelernte Friseurin, und greift nach einer der Schutzhauben, die sie sich hier nur in schwierigen Fällen aufsetzen. Sie löst den Gummi der ersten Haarpartie und setzt den Sauger an der Kopfhaut an, fünf bis sechs Mal, mit schnellen Bewegungen. Dann noch mehrfach durch die gesamte Länge der Strähne ziehen, fertig. Nächste Partie. Nours Kopf wackelt, der Kamm geht schwerer durch als gewöhnlich – so viele Läuseeier kleben schon in ihren Haaren.

Nach über einer halben Stunde dürften die meisten abgesaugt sein, im Filter: das pralle Leben. Muriel schnauft, jetzt beginnt der schwierigste Teil der Arbeit. In den Nissen schlummert der Nachwuchs, der in wenigen Tagen hungrig über Nours Kopf herfallen würde. Muriel trägt eine Spülung auf, damit der Nissenkamm leicht durch die Strähnen gleitet. Nach jedem Zug wischt sie den Kamm an einem Küchentuch ab. In dem Gemisch aus Spülung und Haaren sind die noch vollen Läuseeier als schwarze Punkte zu sehen.

Nebenan im Wartebereich, der aussieht wie in einer Kita, wischen Kinder auf den saloneigenen Tablets herum, ihre Eltern trinken Kaffee. Ein zweijähriges Mädchen hat Angst vor dem Staubsauger, sie klammert sich an ihre Mutter. Muriel reicht ein Bonbon.

Läuse sind noch immer ein Tabu

Von draußen kann niemand diese Szene sehen, die komplette Front des Eckgeschäfts ist mit Milchglasfolie überzogen. „Intimität ist ganz wichtig“, sagt Laurence Goya. Das „Centre Kids Poux“ befindet sich in einer ruhigen Straße in Marseilles Innenstadt. Die wenigsten, glaubt die Chefin, möchten dabei gesehen werden, wie sie ihren Salon betreten.

Läuse sind noch immer ein Tabu, fest verwurzelt in der Sprache. Unerzogene Jungs sind Lausebengel, langweilige Theateraufführungen, dumme Ausreden, manche Kantinenmenüs lausig. Genauso hartnäckig halten sich die Vorurteile über Betroffene. Und im deutschen Infektionsschutzgesetz wird Lausbefall als meldepflichtige Erkrankung neben Pest und Cholera aufgeführt. Die Tiere verletzen den Wirt nicht nur, sondern scheiden ihre Verdauungsprodukte an Ort und Stelle aus.

Es juckt! Bisse der Kopflaus verursachen nicht nur rote Flecken.
Es juckt! Bisse der Kopflaus verursachen nicht nur rote Flecken.
© imago/blickwinkel

Aber sie sind gnadenlos gerecht, scheren sich nicht um soziale Unterschiede, frisch gewaschene oder fettige Haare, Geschlecht oder Alter. Alles, was sie wollen, ist Blut. Das finden sie auf jedem Kopf.

Auch Jugendliche sind gefährdet. Zumindest warnten russische Verbraucherschützer schon vor dem Ansteckungsrisiko durch gemeinsame Selfies. Geschlechtsreife weibliche Läuse könnten die Nähe nutzen, um sich von einer Locke auf die andere zu hangeln. Wenn sie dann, in diesem neuen Revier, kein Männchen finden, wenden sie einen geradezu biblischen Trick an: Mit der Parthenogenese, der Jungfernzeugung, pflanzen sie sich ganz von allein fort. Schon nach wenigen Tagen haben Mutterlaus und ihre Klone ihre neue Kolonie bei konstanten 28 Grad und relativ hoher Luftfeuchtigkeit eingerichtet. Im Nacken und hinter den Ohren gedeihen die Nissen am besten.

Man muss nichts kochend heiß waschen oder schockfrosten

Wer zu Kriegszeiten oder kurz danach Läuse hatte, rät gern zu einer Haarkur mit Butter, Essig oder Mayonnaise. Vielleicht half das früher mal, aber die modernen Läuse sind zäh. Die Mobilität ihrer Wirte, das viele Reisen, hat den Genpool der Stämme reicher und widerstandsfähiger gemacht. Insektizide kommen nicht mehr gegen jede Laus an. Und viele Eltern haben heute Skrupel, ihrem Nachwuchs Chemikalien ins Haar zu schmieren, auch wenn die in Apotheken erhältlichen Mittel streng geprüft sind.

Eigentlich merkwürdig, dass es in Deutschland niemanden wie Laurence Goya gibt, der den Läusen den Garaus macht. Das Geschäft ist einträglich. Die zwei notwendigen Termine kosten für kinnlange Haare 60 Euro, mit Rapunzelmähne wird es entsprechend teurer. Bei Goya kann man auch eine Lausentfernungs-Flatrate abschließen. Für monatlich 20 Euro wird dann so oft wie nötig abgesaugt und rausgepickt.

Was nicht hilft, da sind sich die Experten fernab der hysterischen Debatten in Eltern-Foren einig: Panik. Läuse beschränken sich auf den Kopf. Kissen, Sofa und Kuscheltier sind lebensfeindliche, weil blutleere Umgebungen. Dort hält sich keine Laus freiwillig auf. Nichts muss kochend heiß gewaschen oder schockgefrostet werden. Im Zweifel tut es eine luftdicht verschlossene Tüte, in der die Läuse innerhalb von 55 Stunden verhungern. Einen hundertprozentigen Schutz gibt es nicht. Fast jedes Kind mit Haaren über Streichholzlänge wird wohl mindestens einmal befallen.

Wenn es schlecht läuft, erwischt es auch die Eltern. So wie die Mutter der ängstlichen Zweijährigen in Laurence Goyas Marseiller Salon. „Wir schauen bei Ihnen sicherheitshalber auch noch mal nach“, sagt die Chefin und richtet die große Lupe über dem Kopf der Frau aus. Unter der Linse sind zunächst nur ein paar Schuppen zu sehen. Und dann: „Voilà, Nissen!“

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