Karaoke im Mauerpark: "Die Boxen überlebten, der Laptop starb"
Gareth Lennon aka Joe Hatchiban hat eine Karaokeshow zur Touristenattraktion gemacht. Ein Gespräch über Scham, talentierte Holländer und Regen-Solidarität im Mauerpark.
Ein Freitagvormittag in Schöneberg. Gareth Lennon, 42, hockt in seiner Küche, zwischen Stapeln von Kinderspielzeug, das seiner fünfjährigen Tochter Lilly gehört. Er hat das rechte Bein zum Kinn hochgezogen und trinkt einen Milchkaffee nach dem anderen. Er überlegt lange, was er sagt, wägt ab, entscheidet sich um. Lennon studierte Germanistik, arbeitete als Koch in Portugal. Weil er sich bis heute nicht gern festlegt, hat er viele Jobs: er arbeitet als Fahrradkurier, moderiert Events und Betriebsfeiern und veranstaltet sonntags zwischen 15 und 20 Uhr seine „Bearpit-Karaoke“ im Amphitheater des Mauerparks.
Herr Lennon, die Karaokeshow, die Sie unter dem Namen Joe Hatchiban moderieren, steht in Reiseführern. Mal tanzen da hunderte Menschen auf der Bühne Macarena, mal macht einer einen Heiratsantrag. Müssen Sie inzwischen Autogramme geben?
Tut das überhaupt noch wer? Selfies sind die neuen Autogramme. Wenn ich irgendwo esse oder vorbeifahre, winken mir manchmal Leute zu. Das ist schön. Es sagt ja niemand: Oh, sieh mal, das Arschloch aus dem Mauerpark.
Wir sitzen hier in Ihrer Küche, Sie entscheiden: Englisch oder Deutsch?
We can misch it up.
In Dublin haben Sie Deutsch studiert.
Nach der Schule hatte ich keine Idee für die Zukunft, Deutsch war eine Option, seit ich an einem Austausch nach Hemsbach an der Bergstraße teilgenommen hatte. Wenn man Geisteswissenschaften studiert, hat man doch nie einen Plan. Ich konnte mal richtig gute Sätze konstruieren. Ich erinnere mich an die mündlichen Prüfungen – gefühlt sieben Verben hintereinander zum Satz aufgestapelt. Punktlandung, als wäre mein Kopf eine Flugsicherungszentrale. Ich kann das noch. Aber ich muss dazu gezwungen werden.
Ihr hartnäckigster Fehler?
Natürlich: der, die, das. Ich habe Strategien dagegen, benutze einfach immer nur Worte, deren Artikel ich kenne. Lange Zeit habe ich „chen“ an jedes Ende gehängt, dann wusste ich sicher: Neutrum. Nur die Sache mit dem Umlaut habe ich nie begriffen. Warum Tasche und Täschchen, aber nicht Masköttchen, sondern Maskottchen?
Sie sagten mal, Sie hassten das „r“ in „anrufen“.
Bei Englisch-Muttersprachlern klingt es immer so bemüht, ich höre mir selbst nicht gern dabei zu. Ich mag auch nicht, wie es sich im Mund anfühlt. Bei einem Deutschen stört es mich natürlich nicht. Ihr sagt dafür das englische „a“ in apple komisch – Eppel oder Ippel, damit ärgere ich meine Freundin, wenn sie über den Computer redet.
Viele Berliner beschweren sich über die Invasion der Englischsprechenden.
Über Englisch kann man das leicht sagen, ohne dass einen jemand des Rassismus verdächtigt. Man sagt ja nicht: Boah, in ganz Neukölln höre ich nur Türkisch. Die hässliche Implikation ist wahrscheinlich, dass die Englischsprechenden besser seien als die Türken und deshalb eine Beleidigung nie rassistisch gemeint sein könnte.
Sie haben eine fünfjährige Tochter. Was singen Sie ihr abends vor?
Wenn ich sie glücklich machen will, „The rocky road to Dublin“, ein altes irisches Volkslied. Wenn ich sie ärgern will, eine dunkle, Tom-Waits-artige Variante von „Pippi Langstrumpf“.
Sie leben seit 14 Jahren hier. Gibt es für Sie eine Berlin-Hymne?
Als Kind war Nenas „99 Luftballons“ so ein Lied. Ich hörte die englische Version, trotzdem war mir seine Fremdheit bewusst. Es ist ein Winterlied für mich, ich sehe kalte Luft und die verschneite Berliner Mauer. Aber: Können wir aufhören, über die Stadt zu reden, in der wir leben?
Das langweilt Sie?
Ich finde es komisch, wenn man seine Stadt als Ware betrachtet, als Marke. „Berlin ist so und so“, „das ist typisch Berlin“ – es gibt nichts Schlimmeres. Obwohl ich zugestehe, dass es eine besondere Stadt ist. Registrieren, weiterreden.
Dann lassen Sie uns über Sonntage sprechen. Sie haben keine. Keine Ausflüge, kein Kaffeeklatsch. Um 15 Uhr stellen Sie im Mauerpark Ihr Fahrrad mit integrierten Boxen auf und laden Leute ein, Karaoke zu singen.
Ich stehe auf, schaue, was das Wetter macht. Wenn kein Regen runterpeitscht, gehe ich los.
Die Leute schreien nach Ihnen: Komm her, der Regen ist halb so wild. Das sind Ihre Fans!
Nicht von mir, von der Veranstaltung. Ich gehöre halt zum Inventar. Viele Reisende bauen das in ihr Berlin-Wochenende ein.
Plötzlich sind die Kosten im Mauerpark gestiegen
Sie bringen der Stadt Touristen. Trotzdem gab es immer wieder bürokratische Probleme.
Im ersten Jahr, 2009, habe ich die Show spontan gemacht, sozusagen aus Versehen illegal, dann kam es raus, und ich musste Sondergenehmigungen einholen. Die bekommt man für eine Parkanlage nicht selbstverständlich. Aber die Zuständigen im Rathaus Pankow waren immer hilfsbereit.
Na ja. 2010 zahlten Sie 350 Euro für die Saison, 2013 waren es 3500.
Es gab einen Personalwechsel, die Fläche wurde neu berechnet. Früher habe ich nur die Bühne bezahlt, jetzt für das ganze Amphitheater. Die Summe macht mich abhängig von Spenden. Ich muss ja zahlen, egal ob es nach dem zweiten Song gewittert.
Sie sammeln Geld in einer Kaffeedose. Was kommt da zusammen?
An den meisten Sonntagen werden die laufenden Kosten gedeckt. Ich werde auch gelegentlich für Betriebsfeiern oder Werbung gebucht. Nur weiß ich das am Anfang des Jahres nicht. 2013 zum Beispiel waren die Genehmigungskosten erstmals dramatisch gestiegen. Ich schrieb auf Facebook, dass ich zweifle, ob die Show unter diesen Bedingungen weiter funktionieren könnte. Innerhalb weniger Stunden bekam ich Paypal-Spenden aus aller Welt.
Im Regen geht schon mal Ihr Equipment kaputt.
Einmal war es besonders schön: Wir wurden weggeregnet, haben aufgehört, fingen wieder an, ein neuer Schwall, wieder Pause. Die Zuschauer begannen engzutanzen, immer mehr nasse Leute kamen auf die Bühne. Regen-Solidarität! Die Boxen überlebten, der Laptop starb.
Manche Leute verbringen den ganzen Tag bei Ihnen. Was zieht sie an?
Es gibt heute in einer Stadt nicht mehr viele Dinge, die wir gemeinsam tun. Das meiste findet in nur noch zwei Dimensionen statt: du allein mit deinem All-you-can-eat-Internetzugang. Wenn in den 90ern in Irland der „Weiße Hai“ im Fernsehen kam, wusste man, dass das jetzt alle gucken, das gesamte Land. Das war ein schönes Gefühl.
Sie singen jede Woche den Einstiegs- und Abschiedssong der Show. Ihnen ist wenig peinlich, oder?
Das war schon immer so. „Kannst du meine Freundin in einem Smoking mit einem Lied überraschen?“ Muss man mir nicht zweimal sagen. Vor 20 Jahren war jemand wie ich, der sich niemals geniert, ungewöhnlich. Heute nehmen Zwölfjährige an Castingshows teil, probieren sich auf Youtube aus. Sich zu präsentieren ist die Norm und Künstler eine Karriereoption.
Sie hätten ins Fernsehen gehen können!
Ich wünschte, ich hätte das verfolgt! Heute wäre ich gern Journalist. Ich schreibe gern.
Tun Sie es doch einfach.
Ich ärgere mich täglich über meine eigenen prokrastinarischen Tendenzen – deshalb haben meine Bestseller die Buchläden noch nicht geflutet. Fällt mir schwer, mich auf einen Pfad festzulegen. Es würde mich befreien, wenn ich das könnte. Dann wäre viel mehr Platz im Kopf. Ja, ich schreibe. Aber alle schreiben doch.
Auch beim Karaoke dachten Sie anfangs nicht, dass Sie damit berühmt würden.
Ich habe nie gesagt, ich werde Karaokemaster. Ich habe nur mein Fahrrad mit einer Box und einer Autobatterie am Brandenburger Tor aufgestellt und geschaut, ob ich jemanden dazu bringen kann, zu singen. Keine Ankündigung, keine Flyer. Karaoke ist mir eher so dazwischengekommen.
Erinnern Sie sich an Ihr allererstes Mal Karaoke?
Es war in einer Bar in Dublin. Ich hatte meinen Namen auf einen Zettel geschrieben für „I Heard It Through The Grapevine“ von Marvin Gaye. Ich hatte das noch nie gesungen, ein extrem schwieriges Lied. Als es losging, kam zum Glück „Mustang Sally“ – lief gut. Später kam doch noch „Grapevine“, das habe ich ordnungsgemäß vermasselt.
Warum die Holländer so talentiert sind
Wenn sich bei Ihrer Show einer per Handzeichen zum Singen meldet – wissen Sie gleich, ob er es kann?
Bei einem Amerikaner heißt selbstbewusstes Auftreten gar nichts. Normalerweise sind Holländer sehr gut. Die haben eine Art DJ-Gen, wissen, welchen Song die Menge gerade hören will. Außerdem sind sie selten schüchtern. Sie haben diese Kultur des Diskutierens, in der Schule, an den Unis. Für sie ist es keine große Sache, dass da jemand auf der Bühne steht – deshalb ist es auch keine große Sache für sie, vor 1000 Zuschauern im Mauerpark zu singen. Die Idee von Kunst ist doch, jemanden dazu zu kriegen, dass er einen anschaut, ohne dass er merkt, dass man es darauf angelegt hat.
Für Sie ist Karaoke Kunst?
Nein, aber großartiges Entertainment ist besser als schlechte Kunst. Im Mauerpark hat das Publikum einen Deal mit dem Sänger: Es geht nur um Aufmerksamkeit. Wenn der Deal aufgeht, bekommt das Publikum etwas sehr Pures.
Erstaunlicherweise ist diese Massenveranstaltung noch nie eskaliert. Im Gegenteil: Rempelt man jemanden an, lächelt der zurück. Sind alle bekifft?
Karaoke ist eine Abkürzung zur Intimität. Deshalb rate ich Sängern auch, ihre Sonnenbrille abzunehmen. Wenn einer singt, hat der sich vielleicht als Lebensziel gesetzt, einmal die eigene Angst zu überwinden. Das spüren die Zuschauer, schon ist die Stimmung da. Um das stören zu wollen, muss man geistig schon sehr schlecht beieinander sein.
Dann schreiten Sie ein.
Bei mehr als 200 Shows musste ich das vielleicht fünf Mal, wir brauchen weder Polizei noch Security. Einmal musste ich einen bitten zu gehen, er war einer Sängerin unter den Rock gekrabbelt. Ich glaube, er war auf Drogen und wollte witzig sein. Die Konfrontation ist heikel, man riskiert, dass die Situation eskaliert. Und damit meine ich nicht, geschlagen zu werden, das kann ich ab.
Sie waren mal Boxer.
Als Kind wollte ich Boxer werden. Als Erwachsener war mir klar, dass ich nie gut genug wäre. Immer wenn ich merke, dass mich etwas anzieht und ich gut darin werde könnte, hält mich etwas davon ab, es fortzuführen.
Gibt es ein Rezept für einen guten Karaoke-Auftritt?
Die Auftritte stehen im Kontext des Tages. Manchmal freut sich das Publikum über eine mittelmäßige Performance, weil es gerade fünf schreckliche Sänger erlebt hat. Erleichterungsjubel. Dann gibt es Darbietungen, die einfach zu perfekt sind: Karaoke-Bar-Typen, erfahrene Sänger. Die wollen nicht das Publikum erreichen, die wollen abliefern. Das ist schlimmer als jemand, der nicht singen kann. Ein Typ hat mal „The Show Must Go On“ von Queen gesungen, ein echt kniffliges Lied. Er traf jeden Ton. Noch bevor er in die schwierigen Gefilde kam, lehnten sich alle desinteressiert zurück.
Sie haben inzwischen ein richtiges Ensemble: Detlef, der jede Woche seine christliche, deutsche Version von Sinatras „My Way“ singt …
… und der andere Detlef, mit der kratzigen, hohen Stimme. Ich habe nie herausgefunden, ob er absichtlich aus dem Takt und quietschig singt, weil er denkt, dass die Leute es witzig finden. Manchmal tun sie das auch.
Vom Karaoke könnten Sie nicht leben, Sie üben einen ähnlich wetterabhängigen Beruf aus: Fahrradkurier. Wie rast es sich in Berlin?
Besser als in New York und Dublin, wo ich den Job auch gemacht habe. In Dublin hat man bis heute das Gefühl, es sei jemand mit ein paar Steinen und einem Eimer Farbe hingefallen, um diese Radwege zu produzieren. Die gibt es sonst nur in Albanien.
Dabei beschweren sich die Berliner ständig über marode oder fehlende Radwege.
Es macht nie Spaß, auf der Torstraße zu fahren. Schnelle Autos, kaum Platz hin zu den parkenden Wagen. Oder vom Moritzplatz zum Springerhaus, rumpelige Strecke. Aber ich liebe diesen Beruf, die Stadt schrumpft, es gibt so viel zu sehen, ich entscheide selbst, wann ich fahre.
Auch bei Minusgraden?
Eine goldene Kurier-Regel ist: Erlaube niemals dem Wetter zu entscheiden, ob du arbeitest. Um Geld zu verdienen, musst du viele Aufträge annehmen. Kurierfahren ist nah an einer Wörterbuchdefinition von „Arbeit“, das mag ich: etwas von einem Punkt zum anderen zu bewegen, unter Zeitdruck, im Interesse eines anderen. Im Vergleich dazu kommen mir die Moderationsjobs verrückt vor. Leicht gemachtes Geld, irgendwie nicht echt.
Zu Geld haben Sie ein schwieriges Verhältnis.
Deshalb habe ich Irland verlassen. 2003 näherte sich dieses Keltische-Tiger-Ding, also der Wirtschaftsboom, dem Höhepunkt der Verrücktheit. Dublin war ordinär geworden, geschmacklos. Es ging nur noch darum, wie viel dein Haus wert war und wie viel man von der Bank bekommen könnte, um weitere Häuser zu kaufen.
Und Sie?
Ich zog nach Berlin, hier kamen schon immer Leute hin, die herumplumpsen wollten, ohne dass ihnen jemand im Nacken sitzt. Geld und Stress gab es nicht, das brachte einen gewissen melancholischen Vibe. Berlin war immer entfernt vom westlichen Kapitalismus, davon hat es profitiert. Und heute? Wie soll es weitermachen, wenn dieses Versprechen nicht mehr erfüllt wird?
Das ist jetzt aber Berlin-Talk.
Wir sollten sofort aufhören zu sprechen.
Julia Prosinger