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Ralf Richter, 59, erlebte seinen Durchbruch 1981 mit einer Rolle in Wolfgang Petersens "Das Boot".
© Carsten Sander

Ralf Richter über das Ruhrgebiet: "Der Proll brüllt gleich los"

Ralf Richter, Schauspieler und NRW-Versteher, über Malocher-Ästhetik und das Einmaleins des Prolls. Das Interview - jetzt in voller Länge.

Ralf Richter, 59, sitzt schon vor der verabredeten Zeit in einem Kölner Café gegenüber des Millowitsch-Theaters und blättert in einer Boulevardzeitung. „War nicht weit für mich“, sagt er. Er wohnt 20 Minuten zu Fuß entfernt. Mit den Worten, „Kann ich bitte, du Liebreizendes, noch einen Espresso bekommen?“ bestellt er bei der lachenden Kellnerin Nachschub, dann kann es losgehen. Beim Sprechen schaut Richter gerne zur Decke, um dann urplötzlich, wenn er vom Erzählen ins Nachspielen der Anekdoten wechselt, sein Gegenüber am Arm zu packen. Ab und an muss er sich entschuldigen, weil ein Hustenanfall ihn schüttelt. „Fiese Erkältung“, sagt er.

Herr Richter, Sie waren der cholerische Bergmann aus dem Film „Superstau“, der zotenreißende Maat in „Das Boot“, der manische Gangster Kalle Grabowski von „Bang Boom Bang“. Allesamt Prolls. Was zeichnet diesen Typ Mensch aus?

Fehlende Impulskontrolle ist ganz wichtig. Ein Proll filtert die Dinge nicht lange, sondern spricht sie sofort aus. Er brüllt gleich los. Man könnte auch sagen: Ein Proll ist ehrlich.

Er ist ein Typ, der mit dem Ruhrgebiet verwachsen ist. So wie Götz Georges Horst Schimanski.

Stimmt, der war auch ein Proll.

George oder Schimanski?

Schimanski sowieso. Der Götz auch. Ich hab’ den gemocht, aber ich hab’ ihn gerne auflaufen lassen. Als wir 1984 „Abwärts“ drehten …

… einen deutschen Thriller, der zum Großteil in einem steckengebliebenen Aufzug spielt …

… war ’ne Hundertschaft am Set. Und Götz aalt sich darin, wie cool ihn diese Supermänner alle finden. Wir beide im Kostüm, er Maßanzug, ich Jogginghose. „Mann“, sag’ ich, „wie das wieder aussieht, ich lauf’ hier rum wie ein Penner, und er wieder schön im Maßanzug.“ Und da kommt auch schon Götz’ Kommentar: „Ja, Ralf, das ist der Unterschied zwischen Schauspieler und Star!“ Die Polizisten haben sich allesamt fremdgeschämt. Doch Götz war immer sehr ernsthaft bei der Arbeit. Deshalb war er auch ein so guter Schauspieler.

Warum stirbt der Ruhrgebiet-Proll trotz Strukturwandels nicht aus?

Der Pott ist Arbeiterland. Dieses Am-Fließband-Stehen, oder eben unter Tage, wo derart viele Menschen aufeinanderhocken – wenn man da müde ist, ist man auch richtig müde. Oder wenn man Mittagspause hat, dann hat man auch richtig Hunger. Wer hat da Lust und Zeit, lange zu überlegen, wie er dies oder jenes formulieren sollte? Da heißt es einfach: „Gib’ dat. Weil is’ essbar.“

Also existiert kein Unterschied zwischen Proll und Proletarier?

Da fällt mir Peer Steinbrück ein. Den hab’ ich hier in Köln mal bei einem Edelitaliener erlebt. Der kommt rein, pflanzt sich breitbeinig hin, macht einen auf extrem lässig, während seine drei Bodyguards die Tische um ihn herum blockieren. Man muss weder dumm sein noch arm oder ungebildet, um Proll zu sein.

Sie stammen ebenfalls aus durchaus gutbürgerlichem Bochumer Elternhaus.

Mein Vater war Architekt, der hat große Wohnsiedlungen gebaut. Wir waren wohlhabend. Als ich eine Schreinerlehre anfing, empfand er das als sozialen Abstieg.

Sie wollten rebellieren?

Ich war vor allem neugierig. In unserer Siedlung gab es eine Familie, die galt als extrem asi – aber die Leute waren auch unheimlich lustig, am Wochenende spielten sie mit dem Schifferklavier, ladadi … Das war richtig laut, die Nachbarn haben sich aufgeregt, da war Leben in der Bude. Seitdem habe ich ein Faible fürs Prollige.

Man kann also lernen, so zu sein?

In erster Linie musst du erst mal alles, was du gelernt hat, vergessen. Dann ist das ganz einfach.

Warum Ralf Richter jeden ins Obdachlosenhotel lassen würde

Selbst anpacken. Der Schauspieler engagiert sich für Obdachlose und sagt, dass man im Zweifelsfall selbst aktiv werden sollte, statt auf die Politik zu warten.
Selbst anpacken. Der Schauspieler engagiert sich für Obdachlose und sagt, dass man im Zweifelsfall selbst aktiv werden sollte, statt auf die Politik zu warten.
© dpa

Auf der einen Seite drehen Bildungsbürger durch, wenn ihre Kinder kein korrektes Deutsch mehr sprechen, lachen aber gleichzeitig über die Witze des studierten Germanisten Tom Gerhardt, einem anderen großen Proll.

In Filmen und im Theater ist es so: Interessant sind die Kaputten. Wer will schon jemandem 90 Minuten beim Bügeln zugucken? Und weil man ungern selbst als primitiv gesehen werden will, ist man dankbar, wenn das ein anderer für einen macht.

Steckt dahinter ein Wunsch nach Unverfälschtheit?

Selbstverständlich. Sich anzubiedern ist immer eine Lüge. Aber so sind eben viele. Die Gesellschaft verlangt das ja auch oft. Gerade der Politik wird häufig Verlogenheit unterstellt. Da wundert es nicht, wenn der Wahlkampf hier in NRW mit dieser Arbeiterästhetik geführt wird: die erhobene Faust auf den Postern der Linken, die SPD mit ihrem „NRWir Malocher“, bei der CDU sprühen Funken wie auf Montage.

Vor wenigen Wochen war der AfD-Parteitag in Köln. Es gab große Proteste. Gehen Sie auf Demonstrationen?

Offen gesagt, mir bringt das zu wenig. Ich hab kürzlich ein Poster gesehen, da stand drauf: „Den Namen Petry wieder positiv besetzen“, dazu ein Bild von Schlagersänger Wolfgang Petry. Klar, das ist absurd. Aber wie sonst willst du diesem Scheiß begegnen? Die AfD kann man nicht verbieten, einfach so, erschießen darfst du sie auch nicht. Und immer wieder das Offensichtliche zu wiederholen – das ist ungerecht, das ist ungerecht – da wirst du selber irgendwann als Idiot wahrgenommen. Da finde ich besser, das Ganze der Lächerlichkeit preiszugeben.

Erwarten die Menschen zu viel von der Politik?

Oft ist es tatsächlich lohnender, selbst zuzupacken. Das Thema Wohnungslosigkeit zum Beispiel. Ich engagiere mich jetzt seit Jahren für ein Obdachlosenhotel in Köln. Da hatte keiner der Beteiligten die Illusion, dass die Politiker sich darum kümmern. Das Hotel gibt es immer noch nicht, weil wir den Hochbunker, in dem das entstehen soll, nicht bekommen. Die Stadt hat ein Vorkaufsrecht, und es passiert nichts. Manche Dinge kann die Politik aber vielleicht auch gar nicht so leisten, wenn kein Geld da ist. Die Stadt Köln ist verschuldet, wie fast jede Stadt in Deutschland.

Ihre Tochter Aline hat mal in einem TV-Interview gesagt: „Mein Papa ist zu gutmütig.“

Ich würde jeden ins Obdachlosenhotel lassen, aber es können dort nur 50 bis 60 Leute unterkommen. Für mich wäre das ganz schwer, irgendwann die Tür zuzumachen. Das würde wohl wirklich im Chaos enden.

Ist die Hilfsbereitschaft das katholische Erbe Ihres Vaters?

Womöglich, meine Eltern waren aber vor allem total lieb. Mein Vater ist sogar pleitegegangen, weil er so treuherzig war. Zwei Bauunternehmer haben den dermaßen abgezogen, dass er drei Offenbarungseide leisten musste. Wobei er selbst hinterher gar nicht so unglücklich darüber gewesen ist. So hatte er endlich mal Ruhe zum Malen und Zeichnen.

Ein Vorbild?

Manchmal auch nicht. Mein Vater hatte damals zwölf Mietshäuser, und ich hab ihn mal gefragt: „Warum gehst du denn nicht hin und überschreibst die einfach? Mir eins, meinen Brüdern, meiner Schwester jeweils eins.“ Die hätte ihm keiner mehr nehmen können. Er hat gesagt, nein, das wäre eine Sünde, ich darf dem Staat nichts vorenthalten. Das habe ich bis heute nicht eingesehen. Wir leben in einer Kultur, wo ohne Geld gar nix geht. Da sehe ich nicht ein, dass man sich alles wegnehmen lässt, statt zuzusehen, dass man vernünftig leben kann.

Deshalb sind Sie dann aus der Kirche ausgetreten?

Das kam so: Beim Drehen von Krimis erschienen früher immer ein paar Waffenexperten am Set. Wenn die dabei waren, durfte man auch mit scharfer Munition schießen. Irgendwann kam der Chef, der Pisser, zu mir und fragte: „Hör mal, willst du richtig Geld machen?“. Dann packte er einen Katalog aus, so dicke Pappe, Hochglanz, das fing an bei einer Patrone und ging bis zum Panzer. Da konntest du dich an Waffengeschäften beteiligen. Und er sagte: „Innerhalb von drei Monaten 25 Prozent Gewinn.“ Mir stand der Mund offen. Also legte er mir ’ne Liste hin: „Guck’ mal, wer alles mitmacht“. An erster Stelle ’ne Versicherung, an zweiter Stelle die Katholische Kirche. Am nächsten Tag bin ich ausgetreten. Ich glaube trotzdem noch, dass es mehr gibt, als nur unser tumbes Rumgekrieche hier.

Sie waren das zweitälteste von acht Kindern. Ein verantwortungsvoller Posten?

Ach, das kann man so nicht sagen. Weil wir halt mehr oder weniger immer machen konnten, was wir wollten. Bei den anderen Familien hieß es oft: „Oh, heute ist Sonntag, da darf ich mich nicht schmutzig machen!“ Das gab es bei uns nicht. Wir hatten ständig Freunde zu Besuch. Einer hat mal mehr als zwei Monate bei uns gewohnt, bis meine Mutter das überhaupt mitbekommen hat. Die war heillos überfordert.

Und das haben Sie ausgenutzt.

Klar. Wir konnten abends auch einfach abhauen. Wir hatten bei „Flipper“ gesehen, wie das geht. Ein paar Kopfkissen unter die Decke, fertig. Bei acht Kindern kannst du nicht jedes ständig kontrollieren.

Klingt nach Abenteuer.

Ich habe viel mit Menschen über Kindheit geredet, und meine war offensichtlich wirklich eine ganz besonders glückliche. Aus der Zeit kommt wohl dieses Urvertrauen, dass ich die Dinge oft auf mich zukommen lasse. Wird schon! Ich bin ja auch nur Schauspieler geworden, weil ich in dem Moment zufällig anwesend war, als in Bochum die Aufnahmeprüfung stattfand.

Sie geben offen zu, dass diese Lebenseinstellung nicht die beste Voraussetzung ist, um ein guter Vater zu sein. Ihr Sohn ist heute Mitte 30 und sagte mal: „Erziehen kann mein Papa nicht.“

Ich hab’ halt immer gedacht, wenn ich so viel durfte, kann ich es den Kindern ja schlecht verbieten. Ich hätte meinen Sohn wohl mehr dazu anhalten sollen, sein Leben aktiv anzugehen. Da hat er es jetzt etwas schwieriger.

Sie haben auch bereut, sich manchmal zu viel Zeit für den Job und zu wenig für die Familie genommen zu haben. Bringt der Beruf das zwangsläufig mit sich?

Um 1980 herum war ich in Berlin am Theater. Das war ’ne wirklich wilde Zeit damals. Jede Nacht unterwegs. Viel getrunken, viel gekifft. Aus der Wohnung, in der ich damals mit Kumpels gewohnt habe, sind wir nach drei Monaten rausgeflogen, weil die komplett verwüstet war. Im Nachhinein betrachtet ist das natürlich ein Fehler gewesen, die Kinder nicht an erste Stelle zu setzen.

Wie baut man aus einer Konserve und einer Zahnpastatube einen Kocher?

Über die Jahrtausendwende saß Richter ein paar Monate wegen Kokainhandels im Gefängnis.
Über die Jahrtausendwende saß Richter ein paar Monate wegen Kokainhandels im Gefängnis.
© dpa

Manches versuchen Sie heute nachzuholen. Mit Ihrem Sohn haben Sie jetzt ein Drehbuch für die Gangsterkomödie „Grabowski – Alles für die Familie“ geschrieben, in dem Sie Ihre beliebtesten Figuren wieder auferstehen lassen. Die Anschubfinanzierung lief über Crowdfunding. Befreiungsschlag oder Notwendigkeit?

Ich wüsste gar nicht, welche Möglichkeiten mir blieben, wenn ich mir nicht selbst was ausdenken würde. Die Aufträge sind ja enorm zurückgegangen. Zum einen hat sich die Branche krass gewandelt: Früher hatte das Fernsehen 100 Serien gleichzeitig. Heute gibt es nur noch Pseudo-Reality-TV, bei dem die Darsteller mit Minigagen abgespeist werden. Und nun ist es bei mir ja auch so, dass mich mancher Produzent meidet, weil ich mal im Knast saß. Das scheint Menschen Angst zu machen. Also musste ich mir was überlegen. Im Herbst wollen wir anfangen zu drehen.

Sie saßen über die Jahrtausendwende neun Monate wegen Kokainhandels im Gefängnis.

Nach meiner zweiten Scheidung bin ich in ein Loch gefallen. Ich hab’ gedacht, das Leben ist vorbei, habe die Wohnung gar nicht mehr verlassen. In einer Disko hat mir dann einer Kokain gegeben und zoooomm. Ich fühlte mich immun gegen den ganzen seelischen Schmerz. Später hat mir dann jemand gezeigt, wie man Kokain aufkocht und raucht. Das war ganz dreckig. Ungefähr wie Crack. Das endete jedes Mal damit, dass du die ganze Nacht durchgemacht hast und morgens auf dem Boden rumgekrochen bist, auf der Suche nach ein paar übrig gebliebenen Krümeln. Du hast dir zwei-, dreimal einen runtergeholt und konntest immer noch nicht schlafen. Kalter Schweiß. Widerlich. Irgendwann habe ich mich belabern lassen, jemandem Kokain zu besorgen. Zweimal 100 Gramm. Als der dann wegen Dealerei geschnappt wurde, hat er mich hingehängt. Da hatte ich schon Jahre nichts mehr angefasst.

Was haben Sie im Knast gelernt?

Erst mal praktische Sachen. Wie du aus einer Fischkonserve und einer Zahnpastatube einen Kocher baust. Oder wie man eine Einzelzelle bekommt. Man muss in Absprache mit seinem Zellengenossen sagen: „Du, ich werde hier aggressiv, ich hing ihm gestern schon wieder an der Gurgel.“ Dann muss der andere sagen: „Ja stimmt. Ich kann den Typen einfach nicht ab.“ So klappt das.

Konnten Sie feststellen, dass der Knast die Menschen besser macht?

Da drinnen erinnert dich doch alles nur daran, dass du der letzte Dreck bist. In der Bücherei gab es kein Buch, das nicht aus den 70ern war. Die meisten Insassen sagen nur: „Ich muss hier raus, ich muss hier raus.“ Was bitte soll das bringen?

Wie haben Sie das ausgehalten?

Eingesperrtsein ist eine so schwerwiegende Erfahrung, das kann man schlecht beschreiben. Ich hab’ jede Nacht Albträume gehabt, dass ich im Knast geboren wurde, dass ich im Knast sterbe. Irgendwann willst du nur noch deinen Kopf gegen die Tür schlagen. Ich hab’ das aber nicht gemacht, weil ich wusste, das wird nix nützen. Ich würde mich nur verausgaben, und dann würde es mir schlechter gehen. Also: ruhig durchatmen. Mich hat der Knast geduldiger gemacht.

Ralf Richter machte eine Schreinerlehre, studierte zwei Jahre an der Schauspielschule in Bochum und erlebte seinen Durchbruch mit Wolfgang Petersens „Das Boot“ (1981). Kultstatus erlangte seine Rolle als Ausbrecher Kalle Grabowski in Peter Thorwalds Liebeserklärung an den Ruhrpott „Bang Boom Bang“ (1999). Richter wuchs mit sieben Geschwistern in Bochum auf. Sein jüngerer Bruder ist der Künstler und Musiker FM Einheit. Derzeit arbeitet Richter an der Produktion des Films „Grabowski – Alles für die Familie“, den er gemeinsam mit seinem Sohn Maxwell geschrieben hat. Außerdem überlegt er, in Bochum eine Pommesbude aufzumachen.

Dieses Interview erschien zuerst am 14. Mai 2017 und war online zunächst nur über den Digital-Kiosk Blendle erhältlich.

Moritz Honert

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