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Gesamtkunstwerk. Die Berliner Band Die tödliche Doris beim Festival „Geniale Dilletanten“ 1981 im Tempodrom.
© H. Blohm

Die westdeutschen 80er in Minsk: Diktatur mit Dilettanten

Fremde Nähe: Die Ausstellung "Geniale Dilletanten" stellt die westdeutsche Subkultur der 80er Jahre vor - ausgerechnet in der weißrussischen Hauptstadt Minsk.

„Sonnenstadt der Träume“ nennt der Künstler Artur Klinau die belarussische Hauptstadt Minsk in seinem 2006 erschienen gleichnamigen Roman. Die meisten Westeuropäer haben Weißrussland allerdings eher als finstere Diktatur abgespeichert. Ende April jedenfalls hatten die Bewohner der Sonnenstadt zwei Tage frei, eine Art Allerheiligen-Fest, die Menschen tragen noch dicke Mäntel beim Besuch der Gräber ihrer Verstorbenen. Am nächsten Tag laufen die Minsker Frauen, die Orchideen, wie Klinau sie in seinem Buch nennt, mit Sonnenbrillen im Haar durch die breiten Straßen. In Minsk ist der Frühling ausgebrochen. Ganz plötzlich. Willkürliche Wechsel sind durchaus typisch für das Land, das seit 1994 von Präsident Alexander Lukaschenko regiert wird.

An diesem ersten Frühlingstag eröffnet am Abend im Zentrum für zeitgenössische Kunst an der Nekrasowa Straße, unweit der Zentrale von Gazprom, eine Ausstellung zur westdeutschen Subkultur der 80er Jahre. Auf Fotos sieht man, wie FM Einheit auf ein Blech hämmert. Ein Punk mit Lederjacke geht Straßen in Prenzlauer Berg entlang. „Geniale Dilletanten“ heißt die Schau, in der Schreibweise des legendären Festivals im Tempodrom 1981, bei dem Noise-Bands wie Einstürzenden Neubauten, experimentelle Formationen aus dem Kunstbereich wie Die tödliche Doris oder Techno-Vorbereiter wie Westbam eine Mischung aus Musik und Kunst ausprobierten. Dass diese Musiker im Zuge des 80er-Jahre-Revivals in Deutschland wiederentdeckt werden, ist eine Sache. Aber in Minsk?

Ausstellungen in Minsk können unbehelligt ablaufen - oder jederzeit beendet werden

Im Foyer des Ausstellungshauses riecht es nach Heizöl, die Kälte des Winters hängt noch in den Räumen. Natalja Scharangowisch, Direktorin des Hauses, begrüßt die Gäste auch auf Weißrussisch. Noch vor einer Weile hätte sie es auf Geheiß des Staates strikt auf Russisch tun müssen. Nun aber ist Belarus, wie Weißrussland auch genannt wird, auf der Suche nach einer eigenen Identität. Auch eine Ausstellung, die davon handelt, wie Künstler das herrschende System mit dem Hammer zertrümmern, ist im Moment möglich. Sie kann unbehelligt ablaufen – oder jederzeit beendet werden. Was in Sachen Kultur geduldet wird und was nicht, weiß in Minsk niemand so genau. Im Herbst diesen Jahres stehen Präsidentschaftswahlen an, die Behörden reagierten bereits nervös, heißt es. Lukaschenko will nach 21 Jahren Regierungszeit wiedergewählt werden. Doch die blutige Niederschlagung der Proteste gegen die Wahlmanipulation im Jahr 2010 sind noch nicht vergessen.

„Wirklichkeit kommt“ krakelt Sänger Gabi Delgado von der Düsseldorfer Band D.A.F in einem der gezeigten Videos, bei Palais Schaumburg brüllen sie „Blumenhalter, Telefon“. Die in Berlin, Düsseldorf und München erprobten Krawall-Gesten der Band reichen von ernsten, mit Witz und Ironie vorgetragen Wirklichkeitsanalysen bis zu Nonsens, vom Krach bis zum elektronischen Schlager. Die Kostüme und Masken, aufwändigen Bühnenbilder, selbstgebastelte Instrumente von Bands wie Der Plan, Freiwillige Selbstkontrolle, Einstürzende Neubauten und Ornament und Verbrechen werden in Videos, Interview-Filmen, Fotos und Konzertmitschnitten präsentiert, ein so umfassender Überblick dürfte selbst in Deutschland noch nicht zu sehen gewesen sein. Im Sommer zeigt das Münchner Haus der Kunst die Schau. In Minsk kennt so gut wie keiner der Gäste die deutschen Bands.

Der Blick auf die jüngste Vergangenheit dient in Minsk dazu, zu definieren, was belarussische Kultur eigentlich ist

Gesamtkunstwerk. Die Berliner Band Die tödliche Doris beim Festival „Geniale Dilletanten“ 1981 im Tempodrom.
Gesamtkunstwerk. Die Berliner Band Die tödliche Doris beim Festival „Geniale Dilletanten“ 1981 im Tempodrom.
© H. Blohm

„Geniale Dilletanten“ wurde vom Goethe-Institut konzipiert, sie soll weltweit touren von Nowosibirsk bis Sydney. Minsk ist die erste Station, was auch daran liegt, dass Frank Baumann, hiesiger Leiter des Instituts, die Ausstellung unbedingt haben wollte. Denn die 80er Jahre sind derzeit auch in Minsk ein Thema. Nicht aus nostalgischen Gründen wie in Berlin, wo man sich wehmütig an die Kneipen im Westteil der Stadt erinnert. In Minsk ist der Blick auf die jüngste Vergangenheit ein Versuch von Künstlern, erstmals selbst zu definieren, was belarussische Kultur eigentlich ist. Das offizielle Kulturverständnis im Lukaschenko-Staat kann man an den Werbepostern entlang der breiten Prospekte ablesen: Popkonzerte von den Scorpions und der Band Linkin Park, Festivals mit belarussischer Folklore. Außerdem laufen die Vorbereitungen für den 9. Mai. Der so genannte „Siegestag“ ist in Weißrussland eine große Sache. Jeden Abend um elf Uhr finden vor dem neu eröffneten Kriegsmuseum Übungsmärsche für die große Militärparade statt.

Die Kunstszene fühlt sich nach wie vor abgeschottet

Das Zusammenarbeiten verschiedener Kunstrichtungen und den Hang zum Do-it-Yourself gab es ab der ersten Phase der Perestroika auch in Minsk. In dieser Zeit kamen neue Impulse vor allem aus den Reihen der Kunststudenten, die begannen ihre Grenzen auszutesten. Das zeigt eine Ausstellung in der privaten Galerie Y, einer der Orte der Stadt, an dem seit 2009 subversive Kunst zu sehen ist. Die Ausstellung zur belarussische Avantgarde der 80er Jahre findet nicht umsonst zeitgleich zur „Geniale Dilletanten“-Schau statt. Für die belarussische Kunstszene ist der Blick auf die eigene Geschichte im Moment mindestens genauso wichtig wie der Blick ins Ausland. An der Kunstakademie fehlt das Fach Kunstgeschichte, Veröffentlichungen über die nonkonformistischen Kunstbewegungen des Landes gibt es so gut wie gar nicht. Dabei sind die Themen aus dieser Zeit unverändert relevant. Die Künstlerin Mila Russowa befreite damals in einer oft zitierten Performance ihr Land und sich selbst aus einem Sarg. Das sich die weißrussische Kunstszene abgeschottet fühlt, daran hat sich wenig geändert.

Zur Eröffnung im Y sind viele der damaligen Protagonisten gekommen. „Jedes Gemälde, das wir malten, gehörte dem Staat“, sagt der Maler und Schriftsteller Artur Hlobus. „Wir haben deshalb angefangen, unsere Bilder bei illegalen Aktionen für ein paar Rubel an Freunde zu versteigern.“ Auf einem Foto sieht man Hlobus mit Hut und Auktionshammer im Minsker Institut für Kunst und Theater. Andere Fotos zeigen Studenten bei nicht angemeldeten Ausstellungen. Solche Aktionen reichten aus, um als Künstler nie wieder einen Auftrag vom Staat zu bekommen. Das letzte Mal, dass Hlobus eine Karikatur von Lukaschenko angefertigt hat war 1994, als dieser erstmals an die Macht kam. Damals wurde die Zeichnung sogar in einer Zeitschrift gedruckt. Das würde im Moment eher nicht passieren. Seit 1994 herrscht für die Kultur ein ständiges Auf und Ab. Es gibt in Minsk zwar mittlerweile einige unabhängige Ausstellungs- und Kunstorte wie die Galerie Y und es werden mehr, zum Beispiel in ehemaligen, zu Kreativquartieren umfunktionierten Industriearealen. Doch im Gegensatz zu den 80er Jahren arbeiten Künstler wieder eher für sich. Kollektive und Netzwerke zu bilden, das ist wohl die größte Inspiration der Subkultur der 80er Jahre. Einige Künstler der jüngeren Generation arbeiten derzeit an Archiven zur nonkonformen weißrussischen Kunstgeschichte. Dazu gehört auch Kurator Aleksei Borisionok. Er ist Anfang 20 und einer derjenigen, die einer Ausstellung wie „Geniale Dilletanten“, noch dazu im staatlich finanzierten Zentrum für zeitgenössische Kunst, eher mißtrauen. Eine Ausstellung über deutsche Subkultur ist zwar interessant, aber eigentlich bräuchte es einen Ort, an dem man ohne Umwege über Politik und die Zukunft sprechen kann.

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