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Auf dem Dach der "Bremer Stadtmusikanten" von Artec-Architekten treffen sich die Bewohner auf der Liegewiese des Pools.
© Margherita Spiluttini/artec

Wohnungsbau in Wien: Das Mieter-Paradies

In Deutschland wurde der soziale Wohnungsbau praktisch eingestellt – in Wien hat man munter weiter gebaut. Die Devise: nicht nur günstig, sondern gut. Eine Exkursion.

Schöne Aussichten. Als sich die Tür des Aufzugs öffnet, fällt der Blick als Erstes durch die Fensterfront ins Grüne. Und dann auf die Gelse, wie die Stechmücke auf österreichisch heißt. Auf 100 Hochhausmetern befinden wir uns. Höher kann das Insekt nicht fliegen, und so haben die Architekten hier ihren Flug markiert.

Citygate Tower heißt das Wiener Projekt, das weit charmanter als sein Name ist. Und zwar schon aus der Ferne. Da die Balkone aus Kostengründen nur eine gewisse Tiefe haben durften, zogen die Architekten wenigstens die Mitte ein wenig heraus, um Platz für einen kleinen Tisch zu schaffen, und brachten so Schwung in die Fassade. Die Brüstung der Balkone erinnert an einen Gartenzaun, bloß dass die Latten aus Aluminium statt Holz sind – eine Lösung, so günstig wie originell. Das kräftige Farbkonzept im Inneren hat der Wiener Künstler Heimo Zobernig beigesteuert, basierend auf einer Umfrage: Wie sieht für Sie Sehnsucht aus?

Waschküche mit Kaffeebar

Als vertikale Dorfstraße beschreiben die Querkraft-Architekten, Jakob Dunkl, Gerd Erhartt und Peter Sapp, das gläserne Vis-à-vis des Lifts. Da Wohnungen, in die ausschließlich Nordlicht fällt, keine Förderung bekommen, setzten die Architekten an diesen zentralen Bereich zum Teil mehrstöckige Gemeinschaftsräume wie Waschküche mit Kaffeebar oder einen Raum zum Feiern. Und auf jedem Stock erfahren Bewohner und Besucher durch witzige kleine Zeichnungen, auf welcher Höhe sie sich befinden. Der der Mücke oder jener der Niagarafälle.

Humor in der Architektur ist eine Rarität. Erst recht beim Thema Wohnungsbau, da denken die meisten panisch an Gentrifizierung, Preisexplosion, Wohnungsnot. Anders in Wien. Dass die österreichische Hauptstadt 2015 zum sechsten Mal in Folge zur lebenswertesten Stadt der Welt gekürt wurde, liegt nicht nur am gut funktionierenden Nahverkehr und dem hinreißenden Apfelstrudel. 62 Prozent aller Einwohner leben in geförderten Wohnungen, von denen 220 000 der Stadt selbst gehören; dort sind die Mieten besonders günstig.

In der Kunst, sparsam, sozial und innovativ zu bauen, hat das meist sozialdemokratisch regierte Wien fast 100 Jahre Erfahrung. Schon in den 20er Jahren entwickelte das „Rote Wien“ Wohnanlagen, in denen die Arbeiter nicht nur ein Dach überm Kopf, sondern Licht, Luft, Grün und ein eigenes Klo bekamen. Berühmtestes Beispiel: der riesige Karl-Marx-Hof, „das Versailles der Arbeiter“.

Humor bringen die Architekten von Querkraft in ihren Citygate Tower.
Humor bringen die Architekten von Querkraft in ihren Citygate Tower.
© Lukas Dostal/Querkraft

Während viele deutsche Gemeinden in den letzten Jahrzehnten kommunale Wohnungen verkauft und den Sozialwohnungsbau praktisch eingestellt haben, hielt die Stadt an der Donau am Besitz wie am Neubau fest. Und an vier Prinzipien: Architektur, Ökologie, Ökonomie und Soziales.

Großgrundbesitzerin Wien

Das sind mehr als wohlfeile Slogans. Als Großgrundbesitzerin verfügt Wien über derzeit 2,3 Millionen Quadratmeter Boden. Die Stadt kauft kontinuierlich potenzielles Bauland auf, um es später unter bestimmten Vorgaben an – meist gemeinnützige – Bauträger zu veräußern; mit den Einnahmen wird neue Fläche eingekauft.

Statt die Stadt sich selbst und profit-orientierten internationalen Investoren zu überlassen, gestaltet man sie lieber selber, mit Hilfe von Bauträger-Wettbewerben. Wohnungsbaugesellschaften oder Genossenschaften bewerben sich zusammen mit einem Architekturbüro; eine unabhängige Jury, deren Mitglieder alle paar Jahre ausgetauscht werden, entscheidet. Der Bauträger ist dafür verantwortlich, dass das strenge Kostenkorsett eingehalten wird. Dazu kommt eine einzigartige Qualitätskontrolle: Die Jury prüft später genau, ob die sozialen, ökologischen oder architektonischen Ideen, mit denen der Wettbewerb gewonnen wurde, auch tatsächlich realisiert werden.

Hochhaus mit Schwung: Die Balkone des Citygate Towers.
Hochhaus mit Schwung: Die Balkone des Citygate Towers.
© Lukas Dostal/Querkraft

Aus Bahnhöfen werden Wohngebiete

In der Seestadt Aspern steht die Wohnanlage von Querkraft, mit Holzfassade und Betonbalkonen.
In der Seestadt Aspern steht die Wohnanlage von Querkraft, mit Holzfassade und Betonbalkonen.
© Hertha Humaus/Querkraft

Kein Wunder, dass die Qualität im geförderten Wohnbau oft höher ist als im frei finanzierten. Die Domizile in den oberen, frei finanzierten Stockwerken des Citygate-Hochhauses haben zwar den besseren Ausblick – aber jener vom Aufzug ist versperrt. Dort, wo unten transparente Gemeinschaftsräume sind, wurden oben geschlossene Abstellkammern reingestopft. Jeder Zentimeter zählt.

In Deutschland, schrieb Laura Weissmüller kürzlich in einem aufrüttelnden Artikel in der „Süddeutschen Zeitung“, wird „gerade die historische Chance auf eine gerechte Stadt verspielt“: indem frei werdende Gelände der Deutschen Bahn einfach an Investoren verscherbelt werden, die dann die üblichen sterilen Pseudo-Luxus-Bauten hochziehen.

Schwimmbad und Kino inklusive

In Wien hat man die Chance ergriffen. Die Sackbahnhöfe des alten Habsburger Reichs wurden peu à peu stillgelegt und nun durch einen (allerdings ziemlich missratenen) Hauptbahnhof ersetzt. Auf den alten Bahngeländen entstehen nun neue Wohnsiedlungen wie das „Sonnwendviertel“ hinterm Hauptbahnhof mit 5000 Wohnungen. Zwischen zum Teil öden Blöcken springt ein Projekt namens „Wohnzimmer“ ins Auge, das besonders großen Wert auf die Gemeinschaft legt. Die locker arrangierten Gebäude sind mit gelben Brücken verbunden, es gibt ein Wellnesscenter mit Schwimmbad und Sauna, ein Kino und einen grünen Innenhof, in dessen Mitte ein gigantischer Holztisch mit Bänken steht.

Im Nordosten, auf dem früheren Flugfeld Aspern entsteht die gleichnamige Seestadt, mit 240 Hektar eins der größten Entwicklungsprojekte Europas, fast so groß wie die Wiener Innenstadt. 10 500 Wohnungen, 20 000 Arbeitsplätze sollen hier entstehen, ein in seinen Dimensionen und seiner extremen Verdichtung gewagtes Projekt. Die Mieter, die schon eingezogen sind, werden noch lange auf einer großen Baustelle wohnen. Erst 2028 soll das Ganze fertig sein. Worauf man aber, zu Recht, stolz ist: Schon die Baustelle hatte einen Gleisanschluss. Die U2 war nach Aspern verlängert worden. Eine gute halbe Stunde braucht man vom Zentrum.

Bei den "Bremer Stadtmusikanten" von Artec-Architekten wurden verschiedene Wohnmodelle aufeinandergestapelt.
Bei den "Bremer Stadtmusikanten" von Artec-Architekten wurden verschiedene Wohnmodelle aufeinandergestapelt.
© Margherita Spiluttini/Artec

In Aspern sind viele Architekten am Werk, gute wie Querkraft, und weniger gute. Stadtplanerisch enttäuschend traditionell, ist die neue Stadt dennoch ein Architektur-Labor. Hier steht zum Beispiel ein mobiles Studentenwohnheim zur Zwischennutzung, wird die erste gemanagte Einkaufsstraße Europas ausprobiert, so dass nicht fünf Handyläden nebeneinander eröffnen, sondern hier ein Bäcker, dort ein Schuster, dazwischen ein Restaurant.

Bauträgerwettbewerbe und Grundstücksfonds sind Erfindungen der Nachwendezeit. Bis zum Fall des Eisernen Vorhangs lag Wien verschlafen im toten Winkel West-Europas. Seitdem wächst die Stadt rasant. 30 000 Menschen kamen allein 2015 hinzu, spätestens 2030 wird Wien wohl zwei Millionen Einwohner haben. Da der Stadtstaat nicht über die eigenen Grenzen hinauswachsen kann, gibt es nur einen Weg – Verdichtung. Zum Beispiel, indem Wohnhäuser auf flache Gewerbegebäude gesetzt werden.

Die Wohnungen schrumpfen

Beim Generationenwohnen am Mühlgrund von Hermann Czech lassen sich Wohnungen miteinander verbinden.
Beim Generationenwohnen am Mühlgrund von Hermann Czech lassen sich Wohnungen miteinander verbinden.
© Foto Katrin Bernsteiner/Czech

Schrumpfen heißt eine andere Devise. „Smart“ lautet das neue Zauberwort: kompakte Wohnungen mit effizienten Grundrissen ohne verschenkten Platz; es gibt sie von der Ein- bis Fünfzimmerwohnung, aber der Schwerpunkt liegt bei 40 Quadratmeter-Appartments für Junge, Singles und Senioren. Ein Drittel der Wiener Förderung geht inzwischen in Smart-Wohnungen. 7,50 Euro Miete pro Quadratmeter. Allerdings müssen die Bewohner wie bei vielen Projekten einen Eigenanteil als Einlage mitbringen, in diesem Fall 60 Euro pro Quadratmeter.

Die „Smart“-Wohnungen sind auch eine Antwort auf jene Kritiker, die bemängeln, dass der Mittelstand am meisten von den Förderungen profitiert, untere Einkommensschichten zu kurz kämen. Aber gerade die soziale Durchmischung ist ein besonderes Anliegen der Stadt. So wie bei der Wohnanlage von Artec-Architekten, das passenderweise „Bremer Stadtmusikanten“ heißt. Dort wurden die verschiedensten Formen, von der kleinen Sozialwohnung über Atelier-Maisonettes bis zum Reihenhaus, einfach aufeinandergestapelt. Und alle Bewohner treffen sich dann am Swimmingpool mit Liegewiese auf dem Dach.

Noch bleiben die Heuschrecken fern

Allerdings: ein öffentlich geförderter Wohnungsbau ist kein Luxusobjekt. Jedes Bonbon bedeutet zugleich Verzicht oder Unbequemlichkeit. Wenn an einer Stelle mehr ausgegeben wird, muss das an anderer Stelle eingespart werden. Bei den „Bremer Stadtmusikanten“ sind die Wohnungen so miteinander verbunden, dass zwei Aufzüge auf einem sehr lang gestreckten Stockwerk reichen. Die Außenwände der Hausflure wurden durch eine Gitterfassade ersetzt, was an einem kalten, nassen Januartag für eine etwas klamme Atmosphäre sorgt.

Auch jenseits der geförderten Wohnungen ist der Mieterschutz so streng, dass Investoren eher abgeschreckt werden. „Bisher haben wir es geschafft, große Heuschrecken fernzuhalten“, so Wohnbaustadtrat Michael Ludwig, die treibende Kraft des sozialen Wiener Wohnungsbaus. Bisher: Es gibt Initiativen in der EU, den geförderten Wohnungsbau drastisch zu reduzieren, nämlich auf die unterste Einkommensschicht. Alles andere sei Wettbewerbsverzerrung.

Ein Projekt wie das Mehrgenerationenwohnen Am Mühlgrund wäre dann nicht mehr möglich. Dort haben Bettina Götz und Richard Manahl von Artec-Architekten ein 90 Meter langes, siebengeschossiges Passivhaus gebaut, das sich nach hinten, zur Hochbahn, verschlossen gibt, während die Wohnungen sich alle nach vorne, gen Süden öffnen. Im Erdgeschoss residiert eine Pflege-Wohngemeinschaft, das knallige Treppenhaus ist wie ein Dschungel bepflanzt. Der Riegel schützt auch die dahinterliegenden kleineren, mit Holz verkleideten Reihenhäuser. Im hinteren Teil hat Hermann Czech spektakuläre, flexible Wohnungen geschaffen, die durch Durchbrüche oder Wendeltreppen miteinander verbunden werden können.

Das knallige Innere des Passivhauses von artec Am Mühlgrund ist wie ein Dschungel bepflanzt.
Das knallige Innere des Passivhauses von artec Am Mühlgrund ist wie ein Dschungel bepflanzt.
© Bruno Klomfar

Aus deutscher Sicht erscheint Wien als gelobtes Land. Die Einheimischen sehen die Entwicklungen kritischer. Gerade angesichts des Drucks, möglichst schnell viele Wohnungen für wenig Geld zu bauen, fürchten Architekten um die Qualität. Statt Fenster zu verkleinern, würden sie lieber die exorbitant gestiegenen Anforderungen an Brand-, Lärm- und Dämmschutz wieder zurückschrauben.

Das Wiener Modell lässt sich nicht eins zu eins auf Berlin übertragen. Als Inspiration aber taugt es vortrefflich, wie Degewo-Vorstand Kristina Jahn, ganz begeistert von ihrer Exkursion an die Donau mit ihrem Team, erzählt. Seit 2015 verwaltet die Berliner Gesellschaft ja nicht mehr nur, sondern baut selber wieder Wohnungen. Was Jahn imponiert hat: die Selbstverständlichkeit, mit der in Wien vieles realisiert wird. Die 41-Jährige muss kräftig lachen. „Was wir experimentell finden, ist für die ganz normal.“ Jetzt werden auch auf Degewo-Dächern Gärten gepflanzt und Abstellräume gebaut, ein Trick, um höher, aber nicht teurer zu werden. Auch kostensparende zentrale Erschließungen wie Laubengänge werden getestet. „Die Reise hat uns unglaublich motiviert, Dinge einfach auszuprobieren, frischer zu werden. Zu sagen: Jawoll, Bauen ist toll! Wachstum ist toll!“

Von den sieben Architekturbüros, die jetzt für die Degewo arbeiten, kommen zwei aus Wien.

Susanne Kippenberger

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