Immobilien: Mehrnationenhäuser als kommunale Pflichtaufgabe
Integration und Stadtentwicklung gehören zusammen – Quoten könnten helfen. Das zeigen Beispiele aus Österreich und Singapur.
Wenn die Nachbarskinder Linus, Jake, Marie-Lou und Alexandra zusammen im Hof spielen, sprechen sie deutsch. Zu Hause ist das anders. Da wird finnisch, englisch, französisch und russisch gesprochen. Typisch Berlin, könnte man sagen. Ob in Kreuzberg, Wilmersdorf oder Prenzlauer Berg, überall findet man das Phänomen Multikulti. Kaum ein Wohnhaus, in dem nicht verschiedene Sprachen gesprochen und unterschiedliche Traditionen gelebt werden, Menschen unterschiedlicher Herkunft friedlich Tür an Tür leben.
Und trotzdem bleibt der Eindruck haften, dass das Zusammenleben in Deutschland von Ressentiments geprägt ist und Menschen mit Migrationshintergrund kulturell, sprachlich und beruflich schlecht integriert sind. Eine Beobachtung, die drei Schüler aus dem hessischen Betzdorf inspirierte, bei einem Bürgerdialog mit Bundeskanzlerin Angela Merkel vorzuschlagen, Mehrnationenhäuser analog den Mehrgenerationenhäusern einzurichten. „Wir haben uns ganz einfach die Frage gestellt, wie die Kommunikation, Interaktion und die gegenseitigen Völkerbilder unseres multikulturellen und multinationalen Landes verbessert werden können und rassistisches, von Vorurteilen geprägtes Denken effektiv bekämpft werden kann“, erläutert einer der Schüler, Jonas Aurand. Der Kerngedanke der drei Gymnasiasten, die selbst unterschiedlicher Herkunft sind, sei, dass Menschen, die sich täglich in ihren vier Wänden begegnen, schnell lernen, friedlich und respektvoll miteinander umzugehen und so Vorurteile abbauen.
„Die Idee von Mehrnationenhäusern als Begegnungsorte ist grundsätzlich begrüßenswert“, sagt Sabine Mehwald, Sprecherin des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung. Der überwiegende Teil der Städte, Gemeinden und Landkreise messe der Integration von Menschen mit Migrationshintergrund als kommunale Aufgabe eine sehr hohe oder hohe Bedeutung bei, so das Ergebnis einer aktuellen Studie zum „Stand der kommunalen Integrationspolitik“. Die interkulturelle Öffnung von Einrichtungen und die Etablierung einer Willkommenskultur seien dabei wichtige Aspekte. „Dabei zeigt sich, dass Integration und Stadtentwicklung untrennbar miteinander verbunden sind“, so Mehwald. „Dies betrifft zum Beispiel den öffentlichen Raum als Ort des Aufeinandertreffens von Menschen unterschiedlicher Lebenssituationen und Herkunft.“
Dabei ist die Idee der Mehrnationenhäuser nicht ganz neu. In Wien spricht man von interkulturellen Wohnprojekten oder interethnischen Nachbarschaften, die das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft stärken sollen. So entsteht bis 2025 rund um den Nordbahnhof ein neues Quartier mit rund 10 000 Wohnungen, wovon ein Teil als „interkulturelles Wohnen“ in einem Bauträgerwettbewerb ausgeschrieben wurde.
„In Wien haben – im Gegensatz zu anderen Metropolen – alle Bevölkerungsgruppen Zugang zu qualitätsvollen und erschwinglichen Wohnungen“, sagt Vizebürgermeister Michael Ludwig. „Damit trägt der geförderte Wiener Wohnbau nicht nur maßgeblich zur ausgezeichneten Lebensqualität, sondern auch zum friedlichen Zusammenleben in unserer Stadt bei.“ Ziel sei es hier, existierende Wohnmodelle weiterzuentwickeln und innovative Ideen in die Praxis umzusetzen. „Das Zusammenleben von Bewohnerinnen und Bewohnern unterschiedlicher kultureller Herkunft bereichert und schafft kreativen Spielraum. Die neuen Wohnbauten bieten ein maßgeschneidertes Angebot für all jene Wienerinnen und Wiener, die Vielfalt und ein lebendiges Miteinander verschiedener Kulturen schätzen“, sagt Ludwig.
In Singapur dagegen, das seit seiner Staatsgründung 1965 um eine nationale Identität ringt, gehört das verordnete, streng nach Quoten verteilte Zusammenleben zum Alltag. „Singapurische Staatsbürger sind erfasst nach dem Merkmal Ethnie, das in vier Ausprägungen vorliegt: Chinese, Malaie, Inder und andere“, erklärt Ulrich zur Lienen, der ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördertes Projekt zur residenziellen Integration in Singapur betreut hat. „Der Staat bietet im öffentlichen Wohnungsbau, wo rund 86 Prozent der Bevölkerung lebt, nur Wohnhäuser und Wohnviertel an, die nur bis zu einem vorgegebenen Prozentsatz mit eben diesen vier Ethnien ‚aufgefüllt' werden können. Die Limits entsprechen dem Anteil des prozentualen Anteils an der Gesamtbevölkerung.“ Das Ergebnis sei aber keineswegs die Herausbildung einer gemeinsamen Identität, sondern eher ein Tolerieren des Anderen bei gleichzeitiger Betonung des Eigenen.
„Das Verstehenwollen des Anderen, das Aufeinanderzugehen, das aktive Abgleichen von Gemeinsamkeiten oder aktive Übernehmen von Elementen des Anderen ist extrem gering“, sagt zur Lienen. Das sei in Deutschland anders. Denn Deutschland zieht aufgrund seiner Mittellage in Europa seit Generationen Menschen unterschiedlicher Herkunft an. Der kulturelle Austausch zwischen Zuwanderern und Ansässigen ist so zum Teil des Deutschen geworden. Wichtiger als die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Ethnie sei für die Integration des Einzelnen die sozioökonomische Position. „Der entscheidende Konflikt besteht zwischen Arm und Reich, nicht zwischen Menschen unterschiedlicher kultureller Herkunft“, sagt zur Lienen. Mehrnationenhäuser seien überhaupt nicht nötig.
Das meinen auch die kommunalen Wohnungsbauunternehmen in Berlin. So strebt etwa die Gesobau an, die „Berliner Mischung“ aus unterschiedlichen sozialen Schichten in ihren Beständen zu erhalten. „In unseren Quartieren leben Menschen vieler Nationen zusammen“, sagt Kirsten Huthmann, Sprecherin der Gesobau. „Dass sich manche Häuser nicht zu Einethnienhäusern entwickeln, dafür tragen wir im Rahmen geltender politischer und gesetzlicher Vorgaben Sorge.“ Außerdem fördert das Unternehmen seit 2006 den Zusammenhalt dieser diversen Nachbarschaften und die Integration von Migranten mit einem eigenen Projekt namens „Gut miteinander wohnen“. Zu dessen Initiativen zählen Sprachkurse, Job- Qualifizierungen und Wohnen-im-Alter-Services sowie Mietergärten, Nachbarschaftsfeste und Bildungskooperationen. „Es gibt in der Wohnungswirtschaft eine Vielzahl von Aktionsfeldern für Integration, auch des Alters, der Bildungs- und sozialen Schicht, wozu strikte Programme für bestimmte Wohnungsbelegungen zurzeit noch nicht gehören, zumal die Menschen auch weitestgehend frei entscheiden wollen sollten, wie, wo und mit wem sie in enger Nachbarschaft leben“, weiß Huthmann. „Wir können als Vermieter ein bestimmtes soziales Toleranzklima aufbauen helfen, daran arbeiten wir.“
Ihre Kollegin von der Gewobag bringt es auf den Punkt. „Berlin ist multikulti“, sagt Gabriele Mittag. „Wir haben daher Mehrnationenhäuser en masse. Denn: In vielen Quartieren leben viele Nationen unter einem Dach. Ein Multikulti-Wohnintegrationsprojekt ist nicht notwendig.“
Tong-Jin Smith
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