Stararchitekt Arno Brandlhuber: Wie wir in Berlin in Zukunft wohnen werden
Zu wenig billige Wohnungen? Kein Problem, sagt Stararchitekt Arno Brandlhuber. Er will ganz Berlin um eine Etage aufstocken. Ein Gespräch über die Stadt der Zukunft.
Arno Brandlhuber, 51, arbeitete in Köln, bevor er vor neun Jahren nach Berlin zog. Das Stadthaus, das der Architekt 2009 auf einer Bauruine in der Brunnenstraße in Mitte errichtete, gilt auch aufgrund seiner günstigen Beton-Bauweise als Vorzeigeobjekt. Brandlhuber mischt sich in die Politik ein, er druckte Plakate, mit denen er Berlins Liegenschaftspolitik kritisierte. Außerdem ist er Professor für Stadtforschung in Nürnberg.
Herr Brandlhuber, um Berlins Wohnungsnot zu lindern, schlagen Sie unter anderem vor, den Flughafen Tempelhof um acht Geschosse aufzustocken. Erklären Sie uns das bitte genauer.
In einem Modell haben wir das Bikini-Haus auf das Flughafengebäude montiert. Uns geht es um das freie Geschoss, das das Bikini-Haus ursprünglich hatte, um einen Durchblick in den Zoo zu ermöglichen. Die Lücke wurde vor vielen Jahren geschlossen und jetzt bei der Renovierung nicht mehr geöffnet. So ein Bikini-Geschoss wäre im Fall von Tempelhof besonders sinnvoll, weil das Flughafendach als Tribüne geplant war. Es trägt zigtausend Menschen. Und darüber könnten in sechs bis acht zusätzlichen Geschossen insgesamt 3500 Wohnungen entstehen. So viel Wohnraum, wie ursprünglich für die Randbebauung des Tempelhofer Feldes vorgesehen war.
Bei den Denkmalschutzämtern haben Sie damit keine Chance.
Doch, durchaus. Bedingung für jeden Umbau ist, dass das historische Gebäude geachtet wird. Durch das freie Geschoss wäre ein gebührender Abstand zwischen dem historischen Flughafengebäude und dem Aufbau gegeben. Und unten im Flughafen könnten die Wohnfolgeeinrichtungen untergebracht werden – vom Kindergarten bis zum Lebensmittelmarkt. Damit wäre auch die Frage gelöst, was ins Flughafengebäude hinein soll. Das Schlimmste für ein Denkmal ist, wenn es nicht genutzt wird und Stück für Stück verfällt.
Ihr Wohnriegel wäre zehnmal so lang wie das Hochhaus „Unité d'Habitation“, das Le Corbusier nach dem Zweiten Weltkrieg in Marseille baute.
Le Corbusier wollte eine komplett funktionierende Nachbarschaft in einem Gebäude unterbringen. Der Flughafen Tempelhof wäre dagegen nach außen hin offen, schon weil sich die Bedürfnisse der Menschen stark ausdifferenziert haben. In der Versorgungsetage der „Unité“ gab es beispielsweise nur einen Supermarkt. Heute kaufen manche bei Aldi und andere bei der Bio Company. Sollte also im Flughafengebäude ein Bio-Supermarkt entstehen, würden auch Bewohner aus der Umgebung hingehen. Und natürlich würde der Ableger der Volksbühne, den der künftige Intendant Chris Dercon in einem Hangar aufmachen will, nicht nur von den Bewohnern der oberen Stockwerke genutzt.
Zunächst könnten nun zwei Hangars des Flughafens zu Notunterkünften für Flüchtlinge gemacht werden. Was halten Sie davon?
Ich finde es richtig, ungenutzte Gebäude für Flüchtlinge zu öffnen und sie nicht in Containern unterzubringen.
Haben Sie mal überlegt, ein Flüchtlingsheim zu bauen?
Nein, das Thema Flüchtlinge ist keine architektonische Frage. Ich bin dafür, Schengen aufzugeben. Dann gibt es keine Menschen mit dem Status Asylbewerber mehr, sondern nur noch Ankommende.
Die müssen aber auch irgendwo wohnen. Ikea hat Flüchtlingsmodule gebaut.
Flüchtlinge sollten in ganz normale Wohnungen rein. Und der Staat kommt für die Miete auf, so wie er es auch für deutsche Transfergeldempfänger tut. Kurz nach der Ankunft kann es sinnvoll sein, relativ nah bei anderen zu leben, die die eigene Kultur teilen. In eine andere Gesellschaft einzutreten, braucht Zeit und Rückversicherung. Aber es gibt ja auch Großsiedlungen, in denen viele leer stehende Wohnungen dicht beieinanderliegen. Insgesamt sind in Deutschland knapp zwei Millionen Wohnungen unvermietet. Warum gibt man die nicht an Ankommende?
Sehen Sie sich als politischen Architekten?
Als ganz normalen Architekten. Vereinfacht gesagt gibt es in meinem Beruf zwei Tendenzen: Die einen formulieren eigene Aussagen in ihrer Arbeit mit. Die anderen verstehen sich als reine Dienstleister. Viele Kollegen operieren allerdings wirtschaftlich derart prekär, dass sich für sie die Frage nicht stellt. Sie müssen jeden Auftrag annehmen.
Sie mischen sich als Person in die Politik ein.
Ich interessiere mich für Baugesetzgebung und für Bauruinen. Meine Kollegen und ich fahren oft durch die Stadt, suchen nach Objekten, die unfertig geblieben sind. Wir haben ein großes Archiv davon. Dabei habe ich die fragwürdige Praxis der städtischen Liegenschaftspolitik zu spüren bekommen, die jahrelang alles, was gerade nicht genutzt wurde, meistbietend verkauft hat.
Haben Sie ein Beispiel?
Als vor fünf Jahren der Wettbewerb für die „Temporäre Kunsthalle“ am Humboldthafen ausgeschrieben war, fiel mir dieses wunderbare Gebäude im Humboldthain ein. Es lag hinter dem alten Vereinsheim von Hertha BSC, stammte aus den 80ern und befand sich im Besitz des Bezirks. Es sollte mal ein Sporthotel werden. Bis zur Erdoberfläche war alles fertig. Und weil zum Teil unterirdische Squashhallen geplant waren, gab es dort hohe Räume, die sich für Ausstellungen sehr gut geeignet hätten. Gerade als wir beim Kultursenat vorfühlten, wie es wäre, diese Immobilie vielleicht sogar dauerhaft zur Kunsthalle zu entwickeln, hatte der Liegenschaftsfonds sie verkauft. Damit hatte sich unser Vorschlag erübrigt.
Was ist dort heute?
Eine Autowaschanlage.
Was waren Ihrer Ansicht nach die größten Versäumnisse von Berlins Stadtplanern?
Dass durch den pauschalen Verkauf städtischer Liegenschaften Gestaltungsspielräume zugunsten eines Einmalgewinns aufgegeben wurden. Zu langsam setzte sich das Selbstverständnis durch, dass Berlin wächst.
Sie haben zusammen mit den Urbanisten Florian Hertweck und Thomas Mayfried ein Zukunftsszenario für das wachsende Berlin entwickelt.
Der letzte Versuch dieser Art liegt 40 Jahre zurück. Damals nahmen Architekten um Oswald M. Ungers Berlin als Role Model für schrumpfende Städte. Damit die Stadt nicht ausdünnt, wollten die Autoren Gebiete mit homogener Architektur erhalten: etwa den Mehringplatz, Neu-Westend. Andere Gebiete sollten dem Verfall überantwortet werden. Urbane Inseln inmitten von Wald. Berlin als grünes Archipel.
"Mehr Penthäuser nach Marzahn!"
Stattdessen wird in den Innenstadtbezirken jetzt jede Baulücke gefüllt.
Berlin entwickelt sich mehr und mehr zu einer pyramidalen Stadt: mit einer goldenen Mitte und Rändern, die suburban abfallen. Historisch ist die Stadt aber um mehrere Zentren herum entstanden. Zum Beispiel waren Charlottenburg, Schöneberg und Neukölln noch bis 1920 eigene Städte. Bis heute haben Berlins Bezirke recht große Autonomie. In der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts kam noch die Teilung hinzu. Diese Polyzentralität steht zurzeit auf dem Spiel und damit auch die soziale Mischung. Daher mein Plädoyer: Mehr Penthäuser nach Marzahn!
Sind Sie manchmal in Marzahn?
Ja, im Botanischen Garten.
Und Sie finden es ganz in Ordnung da draußen?
In Marzahn sind die Mieten noch recht günstig, und es gibt sehr viele angestammte Bewohner. So weit ist es in Ordnung dort. Das bestehende Gefüge gilt es zu stützen und zu stärken. Und wenn neue Kultureinrichtungen gebaut werden, sollte das an genau diesen Orten passieren.
Und doch strahlen die Großsiedlungen im Osten wie im Westen der Stadt auch immer etwas Zugiges, Unwirtliches aus.
Das müssen Sie ausprobieren: Ziehen Sie hin! Wir sollten nicht immer nur in die noch hipperen Bereiche reingehen.
Sie selbst wohnen in Mitte, in der Brunnenstraße.
In meiner Gegend gibt es kaum noch Altmieter, die Heterogenität ist weg. Damit ich will ich gar nicht sagen, dass es keinerlei Veränderungen geben darf: Es braucht Wanderungsbewegungen, sofern die nicht nur zulasten der sozial Schwachen gehen. Genauso wie es in der Peripherie, der Banlieue, wie die Franzosen sagen, Höherwertiges geben muss, muss es in der Mitte Angebote für Bewohner und Wohnungssuchende geben, die sich das auf dem freien Markt eigentlich nicht mehr leisten können.
In Berlins Immobilienbranche fließt Kapital aus der ganzen Welt. Ist Stadtentwicklung überhaupt noch steuerbar?
Natürlich. Weil Berlin ein Stadtstaat ist, kann die Politik gesetzgeberisch tätig werden. Beispielsweise könnte erlaubt werden, dass auf alle Gebäude über die bisherige Höhenbeschränkung hinaus ein weiteres Geschoss gebaut werden darf, wenn dafür die gleiche Fläche in einem darunterliegenden Stockwerk dauerhaft als Sozialwohnung abgegeben wird. Natürlich darf nur dort ein Zusatzgeschoss gebaut werden, wo die Nachbarn noch genügend Licht und Luft haben. Das neue Geschoss wäre ökonomisch relativ wertvoll, weil Penthäuser Höchstrendite bringen. Das Ganze würde sich also rechnen. Das Modell verbindet persönliche Gewinnmaximierung und gemeinwohlorientierte Anforderungen. Außerdem entstehen so sozial gemischte Nachbarschaften.
Verzerrt das Zusatzgeschoss nicht die Proportionen der Häuser?
Nein, denn in den letzten 20 Jahren wurden Gebäude ohnehin nicht nach Proportionen gebaut, sondern nach der maximalen Traufhöhe von 22 Metern.
Warum ist eigentlich ein Großteil der Architektur, die in den letzten Jahrzehnten entstanden ist, so mittelmäßig? Die Hotelkästen um den Hauptbahnhof, die Townhouse-Siedlungen am Stadtrand ...
Das liegt nicht nur am Architekten, sondern auch an den anderen Mitspielern, die sich nur das Bewährte vorstellen konnten und keine neuen Grundrisse, die neuen Lebens- und Arbeitsbedingungen gerecht werden, keine neuen Eigentumsformen.
Berlins Nachwende-Architektur folgte zumeist den Vorgaben der sogenannten kritischen Rekonstruktion, mit denen der ehemalige Senatsbaudirektor Hans Stimmann Neubauten an die Ästhetik der Gründerzeithäuser angleichen wollte. Das ist nicht Ihr Stil.
Natürlich nicht. Auch in der Architektur geht es um Zeitgenossenschaft. Wenn sich eine Gesellschaft nur noch Gebäude vorstellen kann, die vor 100 Jahren gebaut worden sind, heißt das, dass sie am Ende ihrer Vorstellungskraft angekommen ist. Dann ist sie eine dekadente Gesellschaft.
Ist gute Architektur mitunter Kunst?
Nie. Weil die Produktionsbedingungen andere sind. Weil es einen Auftraggeber gibt, weil der Nutzwert viel stärker zählt als der Erkenntniswert. Im besten Fall ist Kunst dem Erkenntniswert geschuldet.
Für Ihr Haus in der Brunnenstraße, das Sie 2009 unter anderem für Ihr eigenes Büro gebaut haben, hatten Sie keinen Auftraggeber.
Dabei ging es mir unter anderem auch um Erkenntnis: Anhand dieses Hauses wollte ich Wohnstandards hinterfragen, im Eigenversuch rausfinden, inwieweit sie notwendig sind. Und viele der Standards sind tatsächlich für eine Nutzung nicht notwendig. Es gibt in meinem Haus beispielsweise keine Trittschalldämmung. Aber die hat man in Altbauten auch nicht.
In ihrem Haus gibt es auch keine Fußbodenbeläge, keine Tapeten. Sie haben es quasi im Rohbauzustand belassen, der pure Beton. Die Fassade ist aus einem milchigen Plastik, das sonst für Gewächshäuser verwendet wird. In der Architekturkritik wird Ihr Haus häufig als Vorzeigeobjekt herausgehoben.
Das große Echo hat aber nichts damit zu tun, dass mein Haus architektonisch so bedeutend ist, sondern dass es heraussticht aus Berlins übrigen Neubauten mit ihren immer gleichen Fassaden: Steintapeten mit Lochfenstern.
In London sind zurzeit 230 Hochhäuser im Bau oder in Planung. Ist das besser?
In der Frage schwingt die Unterstellung mit, dass die niedrigere Stadt lebenswerter ist. Ich habe nichts dagegen, dass sich viele Leute in Altbauten wohlfühlen. Aber es gibt auch Menschen, die sich in Hochhäusern wohlfühlen. Vielleicht liegt das auch daran, dass die Miete in den Hochhäusern der 60er und 70er Jahre oft relativ günstig ist, was als Wohlfühlmoment durchaus eine Rolle spielt.
Gehört zum Wohnen nicht auch eine gewisse Gemütlichkeit?
Sie meinen eine Mischung aus Gelsenkirchener Barock und Kohls Saumagen?
Heute wird Gemütlichkeit oft als abwertender Begriff verwendet, aber man muss ihn nicht mit Gardinen oder Bauernmöbeln verbinden.
Wenn Gemütlichkeit heißt, dass man mit anderen Zeit verbringt, die nicht zweckgebunden ist, kann ich etwas mit dem Begriff anfangen. Ich bin ein großer Freund der Betongemütlichkeit!
"Die Piazza Navona ist nicht schöner als das ICC"
Wie sah Ihr Elternhaus aus?
Ein klassisches 60er-Jahre-Einfamilienhaus, das noch nicht mal von zwei Familien bewohnt werden kann, wenn die Kinder aus dem Haus sind.
Sie kommen vom Land, aus der nordbayerischen Provinz. Vermissen Sie in Berlin manchmal etwas?
Nein. Stadt ist eine riesige Kulturleistung. Sie kann unterschiedlichste Milieus auf konzentriertem Raum gut beherbergen. Alle Formen der Zersiedlung in die Landschaft hinein sind energetisch Unsinn. Warum sollten wir erst viele Straßen bauen, um rauszufahren, dann auf viel Fläche ein kleines Haus setzen, das nur Außenwände hat, die wiederum alle gedämmt werden müssen?
In Ihrem Lebenslauf steht auch ein Stipendium in Florenz, als Stadt das Gegenmodell zu Berlin. Wie lebt es sich in einer so perfekten Architektur?
Ich stellte fest, dass die praktizierenden Architekten in Florenz unglaublich frustriert waren. Sie mussten sich auf Innenraumumgestaltung beschränken. Es war auffällig dort, zu erleben, wie eine Stadt, die fertig gebaut ist, kaum mehr in der Lage ist, sich selbst zu erneuern.
Sind Sie nicht empfänglich für die Schönheit italienischer Plätze?
Ich stehe jedenfalls nicht vor dem ICC und frage mich, ob das jetzt besser oder schlechter ist als die Piazza Navona in Rom. Es handelt sich um verschiedene Formen von architektonischem Raum. In beiden liegen Qualitäten. An das Dogma, dass nur die südländische Stadt in der Lage sei, eine Gemeinschaft von Stadtbürgern herzustellen, glaube ich nicht.
Berlins Plätze sind oft besonders hässlich. Der Richard-Wagner-Platz, der Adenauerplatz, der Innsbrucker Platz und viele andere sind im Grunde nichts als umtoste Kreuzungen.
Dass ein Platz so auszusehen hat wie in Rom, ist offenbar ein Import von Fremdideen, die wir nicht zu füllen in der Lage sind. Und obwohl ich persönlich Einkaufszentren wie das Alexa in ihrer reinen Kommerzialität ablehne, sind sie für Jugendliche von Marzahn bis Spandau ein wichtiger Treffpunkt. Und darum geht es: dass Menschen sich treffen, austauschen. Wenn eine Kopie des Platzes von Siena dabei hilft, wäre es mir auch recht.
Rem Koolhaas wendete sich gegen das Wort „gefallen“. Geschmack sei für ihn keine Kategorie.
Ich glaube auch, dass Städtebau nur zu einem geringen Teil ästhetisch motiviert sein sollte, sondern durch Nutzungsfragen. Und wenn viele Leute in eine Stadt ziehen und absehbar ist, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen verdrängt werden, ist es sinnvoll, dass mehr gebaut wird. Und zwar besser viel und günstig als wenig und teuer.
Koolhaas sagte, dass er aufgrund seiner Prominenz für sozialen Wohnungsbau nicht gefragt würde, dabei interessiere es ihn. Wie ist es bei Ihnen?
In Berlin gibt es den klassischen sozialen Wohnungsbau nicht mehr.
Nennen wir es öffentlichen Wohnungsbau.
Ich würde dabei gerne mitarbeiten. Nur habe ich kein Interesse daran, das Pflichtenheft der Wohnungsbaugesellschaften unverändert abzuarbeiten. Alles, was irgendwie einen schlechten Beigeschmack hat, wird ausgeschlossen. Zum Beispiel sind Laubengänge diskreditiert, weil sie mit Sozialer-Wohnungsbau-Wüsten der 60er Jahre verbunden werden. Alle irgendwie schlecht beleumundeten Stil- und Bauelemente sollen vermieden werden. Dabei wird das vermeintlich Harmloseste abgefragt, und es entsteht Mittelmaß.
Man kann Sozialwohnungen nicht einfach aus Beton gießen wie Ihr Haus in der Brunnenstraße. Dann würde es heißen: Transferleistungsempfänger kriegen noch nicht mal einen Fußbodenbelag.
Es gibt Transferleistungsempfänger, die sehr wohl auf das Laminat-Parkett und die Tapete verzichten würden, wenn die Wohnung dafür einen Euro pro Quadratmeter günstiger wäre. Andere würden sagen: Ich brauche diese Ausstattung, um mich beheimatet zu fühlen. Es müssten viel unterschiedlichere Wohnungen gebaut werden. Stattdessen wird die immer gleiche Familienwohnung abgefragt, obwohl die Menschen nur noch in der Minderheit als Kernfamilie zusammenleben.
Die städtischen Wohnungsbaugesellschaften ermitteln die Architekten für Ihre Bauprojekte über Wettbewerbe. Beteiligen Sie sich daran?
Gerade arbeiten wir an einem. Aber wir halten das Verfahren für nicht besonders sinnvoll. Architekten haben für ihre Beiträge etwa sechs Wochen Zeit. Das reicht nicht. Man kann nur so tun, als hätte man einen Entwurf abgeschlossen. Man gibt eine Simulation ab, von der man sich verspricht, dass sie die Vorstellung der Jury am ehesten befriedigt. So werden in der Regel bewährte Wettbewerbsbeiträge der letzten Jahre variiert. Dabei müssten neue Wohntypologien entwickelt werden, die den heutigen Lebensmodellen gerecht werden. Das ist in der kurzen Zeit nicht zu leisten.
"Vier Balkone für 6,50 Euro pro Quadratmeter"
Haben Sie ein Beispiel?
Viele Menschen arbeiten als Freelancer von zu Hause aus. Wir haben einen Wohnungstypus entwickelt, in dem sich Wohnen und Arbeiten gut verbinden lässt. Und obwohl er nur 55 Quadratmeter groß ist, können drei Zimmer abgetrennt werden, sodass man auch mal zu dritt oder zu viert darin wohnen kann. Wir nennen es Vier-Richtungs-Modul, weil jede Wohnung nach allen vier Himmelsrichtungen hin ausgerichtet ist. Wir haben unser Modul auf Berlins neue Wohnungsbauförderung zugeschnitten. Dabei werden nahezu kostenfreie Kredite gewährt, wenn die Wohnungen später für durchschnittlich 6,50 Euro pro Quadratmeter vermietet werden. Unser Gebäude lässt sich auf dieser prognostizierten Einnahmebasis kostendeckend produzieren.
Wie sind die Wohnungen ausgestattet? Gibt es nur Beton für 6,50 Euro?
Das Ganze wäre aus Holzfertigbauteilen: Holzwände, Holzfußboden. Nur die vier Außenbalkone jeder Wohnung sind aus Beton. Es gibt keine Hausflure. Die einzelnen Wohnungen erreicht man über einen Steg. Heimarbeiter können sich draußen ein Schild anbringen. Es sind Maisonetten, man kann ein Stockwerk betrieblich nutzen, das zweite privater halten.
Müsste Ihr Vier-Richtungs-Modul auf dem freien Feld gebaut werden?
Ja, und in bestehenden Großsiedlungen. Dort gibt es viel Freiraum, den man nachverdichten kann. Auch manche innerstädtisch gelegenen Flächen, die noch industriell oder gewerblich genutzt werden, würden sich eignen.
Wie hoch soll Ihr Haus werden?
Es ist in der Höhe erst mal unbegrenzt: Wir haben es in der 6,50-Euro-Variante als Viergeschosser durchgespielt. Wenn man höher baut, wird es teurer, und die Durchschnittsmiete müsste steigen. Unser Vorschlag wäre dabei, dass die Stadt die zinsgünstigen Kredite nicht nach außen vergibt, sondern selbst baut, um ihren eigenen Bestand zu vergrößern. Über einen 20-Jahres-Zeitraum würden sich die Investitionen refinanzieren.
Sind Sie mal bei der Politik vorstellig geworden?
Die Senatsbaudirektorin Regula Lüscher zeigte sich offen. Ihr Interesse fürs Thema bewies sie vor ein paar Monaten bei dem Wettbewerb „Urban Living“, den sie initiierte und bei dem es um neue Wohnformen ging. Aber schließlich konnte sie bei den stadteigenen Wohnungsbaugesellschaften nicht durchsetzen, dass wenigstens ein paar Prototypen gebaut werden.
Stehen Sie sonst im Kontakt zu Politikern?
Als Michael Müller noch Stadtentwicklungssenator war, gehörte ich einem Zirkel an, der sich alle sechs bis acht Wochen in der Friedrich-Ebert-Stiftung traf. Müller war sehr interessiert an Einschätzungen außerhalb seiner Verwaltung. Damals merkte ich, wie sehr Politiker von Vermittlungserfordernissen geleitet sind. Jede ihrer Positionen muss auch als Dreisekünder und Dreiminüter funktionieren. Zum Beispiel zur Frage, ob Berlins historische Mitte am Roten Rathaus als Rekonstruktion wiederbebaut werden soll oder nicht. Ein vielschichtiger Entscheidungsprozess. Doch auf die griffige Formel gebracht lautet die Antwort so: „Die Mitte ist für alle da und deshalb lassen wir die erst mal frei.“
In Ihrer Ausstellung, die von Mitte September an in der Berlinischen Galerie zu sehen ist, bezeichnen Sie Berlin als „Dialogic City“. Was soll das sein?
Uns geht es um ein neues Verständnis und neue Verständigungsformen zwischen Verwaltung und Stadtgesellschaft, um zu Lösungen zu kommen, die verschiedenen Interessen gerecht werden. Bislang wird in der Stadtentwicklung zumeist nach dem Prinzip Entweder/Oder entschieden. Der Volksentscheid zum Tempelhofer Feld beschränkte sich auf zwei Wahlmöglichkeiten: Entweder es wird dort gebaut, und zwar genau so, wie die Pläne es vorsehen. Oder es wird nicht gebaut und das Feld bleibt komplett frei. Im Grunde war beides falsch. Die Frage hätte lauten können: Wie kann man das Tempelhofer Feld frei halten und trotzdem Wohnungen bauen?
Was gibt es in der Ausstellung zu sehen?
Die Ausstellung basiert auf unserem Buch „Dialogic City“, das Besucher mit Abstempeln der Eintrittskarte bekommen. Das Kapitel „Fiktion und Realität“ arbeiten wir auf, indem wir Architekturmodelle archivieren. Das Land Berlin hat die Preisträger von allen öffentlichen Architekturwettbewerben seit 1989 eingelagert. Tausende Modelle sind im Keller des Tempelhofer Ullsteinhauses in Schwerlastregalen gestapelt, aber noch nicht archiviert. Während die Ausstellung läuft, bringt ein Laster jeden Dienstag eine Fuhre mit neuen Modellen in die Berlinische Galerie. In den darauffolgenden Tagen werden sie im Beisein der Besucher ausgepackt und archiviert. Hier wird es fiktional: Wie hätte Berlin werden können, wenn der Zweit- oder Drittplatzierte gewonnen hätte?
Angeblich soll auch Berlin in einigen Jahrzehnten wieder schrumpfen. Denken Sie darüber nach, wie sich Ihre Architektur wieder abbauen lässt?
Ich würde den Langzeitprognosen nicht trauen. Wenn wir in der Lage sind, Migranten großzügig zu integrieren, werden wir wachsen. Und wenn wir uns nicht in der Lage sehen, Migranten großzügig zu integrieren, werden sie trotzdem kommen.
Die Ausstellung „Brandhuber + Hertweck, Mayfried. The Dialogic City: Berlin wird Berlin“, vom 16. September 2015 bis 21. März 2016 täglich außer dienstags in der Berlinischen Galerie, Alte Jakobstraße 124–128, Kreuzberg.
Rollende Bürgersteige und ein Hochhaus für zehntausende Menschen: Lesen Sie hier, welche Berliner Stadt-Utopien niemals umgesetzt wurden.
Dieser Text erschien zunächst in unserer gedruckten Samstagsbeilage Mehr Berlin.