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Der Schlüssel gehört seit Jahrhunderten zum Allerheiligsten. Sein Verlust kommt einer kleinen Katastrophe gleich.
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Kulturgeschichte trifft Technik: Das ist die Zukunft des Schlüssels

Er war mal ein Rohling, tritt gerne im Rudel auf: Der Haustürschlüssel steckt in jedermanns Tasche – noch.

Max Waldmann trägt eine Last mit sich herum: die Hausschlüssel in seiner Tasche. Dass er die noch braucht, ärgert ihn schon. Und zu seinem Bedauern will sein Kreuzberger Hauseigentümer daran auch nichts ändern. Was nicht so bleiben muss. Schließlich hat der 25-Jährige mit dem gepflegten Sechstagebart schon einmal eine Geschäftsidee darauf gegründet, dass er etwas unbequem fand.

In Waldmanns Unbehagen kündigt sich eine Art Systemwechsel an. Nicht umsonst spricht man von Schlüsselfunktionen oder Schlüsselpositionen, wenn etwas von zentraler Bedeutung ist. Manch einer sah sogar ein Statussymbol darin, einen besonders dicken Schlüsselbund zu besitzen, gern auch an einem Karabinerhaken offen am Hosengurt getragen. Wer die Hoheit über derartig viele Türen hat, muss ja wichtig sein. Oder Gefängniswärter. Vielleicht gehört er aber auch wie seine Schlüssel zum alten Eisen.

Waldmann ist Geschäftsführer der Hotel Beacons GmbH, die mit „Conichi“, einer Smartphone-App, Hotelrezeptionen überflüssig machen will – vom Einchecken bis zur Schlüsselausgabe. Klingt bis hierhin noch nicht so revolutionär, schließlich hat zumindest in den großen Hotels die Chipkarte längst den Schlüssel abgelöst. „Aber wie oft passiert es Ihnen, dass Sie in der Hotellobby rumstehen und darauf warten, dass der Rezeptionist Ihnen diese Karte aushändigt?“

Die Tür per Bluetooth mit dem Smartphone öffnen

Einem mobilen Menschen wie Waldmann ziemlich oft. Seine erste Firma gründete er mit 14 im heimischen Frankfurt: Die Helping Hands, eine Arbeitsvermittlung für Schüler. Später heuerte er bei Google Asia an. Nun also das eigene Unternehmen.

Die Hotelkette Ramada rüstet bereits auf sein System um, demnächst im Berliner Ableger am Alexanderplatz. Mehr als ein neuer Chip im Schloss ist dafür nicht nötig, dann lässt sich die Tür per Bluetooth mit dem Mobiltelefon öffnen. Niemand soll an der Rezeption warten müssen. Die Branche könnte einmal mehr zum Katalysator werden für die schlüssellose Gesellschaft.

Denn die nahm vor 25 Jahren mit den Keycards in den Hotels ihren Anfang. Heute hat sie sich in privaten Haushalten noch nicht durchgesetzt, angekommen ist sie dort schon. Selbst wenn das Smartphone ausgerechnet bei Waldmann zu Hause noch nicht zum Türöffner taugt, in seiner erweiterten Nachbarschaft gibt es Beispiele. Die Degewo, mit 75 000 Wohnungen einer der größten Vermieter in Berlin, setzt bereits in knapp 800 ihrer 5350 Häuser auf ein schlüsselloses System des Berliner Start-up-Unternehmens Kiwiki. Zunächst funktioniert das nur bei den Haustüren. Doch weil Kiwiki inzwischen auch ein Schloss für Wohnungstüren anbietet, prüft man bei der Degewo nun die erweiterten Möglichkeiten.

Kiwiki. Das Kiwi-System lässt sich sowohl mit einem Transponder öffnen, als auch mit der Smartphone-App.
Kiwiki. Das Kiwi-System lässt sich sowohl mit einem Transponder öffnen, als auch mit der Smartphone-App.
© imago/Thomas Lebie

Das Kiwi-System lässt sich sowohl mit einem kleinen Transponder öffnen, als auch mit der Smartphone-App. Die Vorteile sind abgesehen von der Bequemlichkeit eindeutig: In großen Mehrfamilienhäusern fordern täglich unzählige Personen Einlass, neben den Mietern auch der Zeitungsbote, der Briefträger, der Handwerker oder der Schornsteinfeger. Dafür wird bisher ein aufwändiges Schlüsselmanagement benötigt.

Schlüssel verloren? Das kann teuer werden

Doch was geschieht, wenn in diesem Hin und Her ein Haustürschlüssel verloren geht? Die Frage beschäftigte bereits den Bundesgerichtshof. Der urteilte 2014, dass der Verlierer den Austausch der Schließanlage bezahlen muss, wenn dies aus Sicherheitsgründen erforderlich ist.

Das kann teuer werden. In Potsdam etwa verstörte vor einem Jahr ein Ansinnen der Polizei Anwohner der Innenstadt: Man möge bitte vorsichtshalber die Schlösser austauschen, wurden die Besitzer von knapp 100 Häusern aufgefordert. Bei einem Einbruch ins Potsdamer Postverteilzentrum seien etliche mit Adressen versehene Hausschlüssel entwendet worden. Veranschlagt man den Aufwand bei jeder Tür mit handelsüblichen 400 Euro – da sind die nötigen Mieter-Schlüssel noch nicht enthalten – war der Schaden immens. Und die Postboten hatten nun auch keinen Zugang mehr zu den Briefkästen der Mieter.

Muss nicht sein, versprechen die Anbieter diverser elektronischer Schließanlagen. Ein verlorener Transponder etwa könne bei den meisten Systemen einfach gesperrt werden. Zahlencodes, auch solche Schlösser gibt es längst für den Hausgebrauch, können ebenso umprogrammiert werden. Noch mehr Sicherheit sollen Fingerprintsysteme gewährleisten, Finger verliert man in der Regel nicht.

Dabei ist der Hausschlüssel mehr als ein Stück Blech. Er hat die Kulturgeschichte des Menschen über einen langen Zeitraum geprägt.

Einwohner Pompejis trugen ihren Hausschlüssel immer bei sich

Die Archäologen fanden bei den Opfern des Vulkanausbruchs in Pompeji neben Schmuck auch Hausschlüssel.
Die Archäologen fanden bei den Opfern des Vulkanausbruchs in Pompeji neben Schmuck auch Hausschlüssel.
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Im Mannheimer Reiss-Engelhorn Museum war vor ein paar Jahren eine Ausstellung zu sehen, in der unter anderem gezeigt wurde, was die Einwohner Pompejis auf ihrer Flucht mitnahmen. Jedenfalls diejenigen, die vor 2000 Jahren rechtzeitig erkannten, dass ihre Stadt nach dem Ausbruch des Vulkans Vesuv dem Untergang geweiht war. Sie griffen keineswegs zu den Götterstatuen, die in vielen römischen Haushalten auf kleinen Altären bereitstanden, um sich damit überirdischen Beistand zu sichern.

Sie entschieden sich für Dinge, die ihnen jetzt hilfreicher erschienen. Die Archäologen fanden bei den Opfern Geld und Schmuck. Überraschend viele aber trugen ihren Hausschlüssel bei sich, der ihnen nicht mehr viel nutzen würde, wenn das Heim von der Lava oder dem Ascheregen verschlungen war.

Der Schlüssel, so hat es den Anschein, gehörte schon vor 2000 Jahren zum Allerheiligsten. Allein sein Verlust kam einer kleinen Katastrophe gleich. Eine Symbolik, die sich seitdem verfestigt hat. Selbst im Computerzeitalter spricht man noch von Verschlüsselung.

Berlin hat in dieser Historie sogar eine besondere Position erlangt. Gemeint sind nicht die Schlüsselkinder, die das gute Stück an einer Schnur um den Hals tragen und damit jedermann zeigen, dass zu Hause niemand auf ihr Klingeln wartet. Die gibt es anderswo auch.

Der Berliner Schlüssel ist eine Kreuzberger Erfindung

Gemeint ist der Berliner Schlüssel. Der Soziologe Bruno Latour hat ein kleines Buch über diese Spezialität geschrieben, geschaffen zur Disziplinierung der Berliner. Erfunden wurde er 1912 vom Schlossermeister Johann Schweiger in der Kreuzberger Adalbertstraße. Im Ostteil wurde er nach dem Mauerbau rar, doch wer in den 1980er Jahren eine Altbauwohnung in Wedding oder Moabit, Schöneberg, Tiergarten, Kreuzberg oder Neukölln bezog, hatte alle Chancen, das System kennenzulernen.

Der Berliner Schlüssel hatte an seinen beiden Enden je einen Bart. War die Haustür nach 20 Uhr verschlossen, konnte man sie mit diesem Ding zwar öffnen, doch der Schlüssel saß fest. Man bekam ihn erst frei, wenn man ihn mit einer Drehung durch das Schloss hindurchschob und die Tür auf der anderen Seite wieder verriegelte.

Der Sinn des Ganzen? Nachts sollte das Haus verschlossen bleiben. Was auch ein bisschen ungesellig war. Weil Berliner Altbauten in aller Regel keine Gegensprechanlage hatten, es außerhalb des Hauses keine Klingelanlage gab, konnten späte spontane Besucher sich abends nur telefonisch bemerkbar machen. Das war vor Einführung des Handys komplizierter als heute. Besonders schwierig wurde es, wenn der Besuchte im Hinterhaus wohnte und kein Telefon erreichbar war. Im Vorderhaus bestand immerhin die Möglichkeit, sich schreiend zu verständigen und gegebenenfalls den Schlüssel aus dem Fenster zu werfen. Dabei gab es zuweilen Verletzte, oder der Schlüssel blieb an einer Stuckverzierung der Fassade hängen. Beides Fälle, die der Autor dieser Zeilen persönlich erlebt hat.

Nur eine einzige Firma in Biesdorf baut den Schlüssel heute

Heute findet man den Berliner Schlüssel vielleicht noch in ein paar tausend Altbauten. Sagt Daniel Kannengießer, der 36-jährige gelernte Metallbauer muss es wissen. Kannengießer ist Chef der Firma Zingler und hat vor ein paar Jahren jenen Betrieb erworben, in dem 1912 der Berliner Schlüssel erfunden wurde. Kannengießers Firma hat ihren Sitz in Biesdorf und baut Berliner Schloss und Schlüssel bis heute, als einziger in Berlin.

Das System wird noch verlangt, etwa für Gewerbehöfe, bei denen man sicherstellen will, dass sie stets verschlossen bleiben. Kannengießer reagiert entspannt auf die Frage, ob er das Ende des Schlüssels – wie wir ihn kennen – gekommen sieht. Natürlich würden elektronische Systeme heute häufig nachgefragt, aber sie machten bei Einfamilienhäusern nach seiner Schätzung keine 20 Prozent des Marktes aus, im klassischen Wohnungsbau deutlich weniger. Die Tendenz ist allerdings steigend.

Doch selbst wenn der Schlüssel verschwände, „die Mechanik dahinter bleibt ja“. Für seine Branche sei also noch genug zu tun, vielleicht sogar mehr. Schon für herkömmliche Schlüssel galt, dass schnell veraltet, was gestern für sicher gehalten wurde. Moderne Schlüssel würden mit magnetischen Komponenten oder beweglichen Teilen ausgerüstet, um die Schlösser noch raffinierter und schwerer knackbar zu machen.

Der durchschnittliche Einbrecher greift zur Gewalt

Gleiches gilt für elektronische Systeme. Bei denen muss zunächst einmal sicher sein, dass immer Strom fließt. Und was gestern für unüberwindlich gehalten wurde, wird heute gehackt. Der Fingerabdruck? Wurde auch schon gefälscht. Und hat seine Tücken. Was passiert, wenn man sich ausgerechnet an dem Finger verletzt, der einem die häusliche Tür öffnen soll? Dann muss ein anderes System als backup herhalten.

Transpondersignale können aufgefangen und entschlüsselt werden, Beispiele aus der Autoindustrie gibt es reichlich – selbst wenn die Verschlüsselung von Haustürschlössern sicherer sein soll. Und Zahlencodes? Es soll Experten geben, die ziehen aus den Gebrauchsspuren auf der Tastatur Rückschlüsse auf die Ziffernfolge. Im Übrigen kostet ein elektronisches Schloss heute noch schnell das Doppelte von einem herkömmlichen System.

Doch das ist alles müßig, denn der durchschnittliche Einbrecher wird sich nicht lange mit kniffligen Schlössern abgeben, der greift zur Gewalt. Ein mit einem Transponder ausgerüsteter Türknauf schließt in den seltensten Fällen bündig mit dem Schloss ab, wie man das von herkömmlichen Schließzylindern erwartet. Ist das Ding nicht außerordentlich stabil, kann das hervorstehende Stück abgetrennt werden. Dann liegt der Mechanismus dahinter frei.

Nein, Kannengießer glaubt an die Zukunft des Schlüssels. Auch wenn er bei sich zu Hause – und das hat er Max Waldmann voraus – die Tür längst elektronisch öffnet, mit seinem Smartphone. „Das ist halt praktischer.“

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