Orangenmarmelade: Bitter, süß!
Sie ist die Krönung des Full English Breakfast: Marmalade aus Pomeranzen, auf Buttertoast. Für Paddington birgt die orangefarbene Masse sogar Zauberkräfte.
Paddington schmeckt’s nicht. Kein Wunder, der kleine Bär sitzt gerade im Knast. Unschuldig natürlich, Paddington ist ein sanfter Gentleman. Keiner seiner harten Mitgefangenen traut sich, über das grässliche Essen zu meckern, alle zittern vor dem Koch, einem brutalen Mithäftling. Allein Paddington stellt sich vor den bulligen Knuckles und beschwert sich. Bevor er von diesem zermalmt wird, zückt er seine Wunderwaffe: Orangenmarmeladensandwiches. Die trägt der Bär nämlich immer unter dem Schlapphut, für alle Notfälle. Hat ihm schon im ersten Film geholfen. Und nun wieder in der Fortsetzung, die am Donnerstag in die deutschen Kinos kommt. Knuckles ist verzückt, die beiden steigen in die Orangenmarmeladenproduktion ein – und machen alle Gefangenen glücklich.
Paddington, der liebenswerte Bär, der als blinder Passagier aus dem dunkelsten Peru nach London kam (mit einem Koffer voller Orangenmarmelade als Reiseproviant) und dort von der Familie Brown aufgenommen wurde, ist ein Held nicht nur der Kinder und aller, die es geblieben sind – sondern auch der britischen Orangenmarmeladenindustrie. Mit der ging’s nach dem ersten Film von 2014 zum ersten Mal seit Jahren wieder bergauf. Seit Langem war der Absatz gesunken, die Jungen rühren das urbritische Produkt praktisch nicht mehr an. Im Februar berichtete der „Guardian“, dass 60 Prozent der Produktion von Menschen über 60 konsumiert werden. Und nur ein einziges Prozent von unter 28-Jährigen.
Denn Marmalade, wie sie im Original heißt, ist ihnen zu bitter. Von klein auf haben sie süße Limonaden wie Muttermilch aufgesaugt, gezuckerte Fertignahrung zu sich genommen und alles Bittere verschmäht. Weswegen auch Gemüsesorten wie Chicorée und Radicchio gern die herbe Note weggezüchtet wurde.
Churchill hielt sie für die Moral seiner Landsleute für unerlässlich
Britische Marmalade aber wird nun mal aus Bitterorangen hergestellt, hierzulande auch Pomeranzen genannt, im Englischen als Seville Oranges bekannt. Und zwar nicht allein aus Fruchtfleisch und Saft, auch Schalen und Kerne kommen mit in den Topf. In dieser Form wurde der Aufstrich zum Inbegriff der Britishness: der herbe Nachtisch, den man sich nach Eiern, Würstchen und Speck auf den knusprigen Toast mit gesalzener Butter strich. Kolonialisten nahmen sie mit in die fernen Ecken des Empire, Edmund Hillary schleppte sie auf den Mount Everest, Scott auf die Expedition zum Südpol, Churchill hielt sie für die Moral seiner Landsleute im Zweiten Weltkrieg für unerlässlich.
Anfangs war Marmalade ein Luxusprodukt für die Upper Class, wer sonst konnte sich schon importierte Apfelsinen leisten. Natürlich wurde sie auch in den zahlreichen Frühstücksszenen der Aristokratenserie „Downton Abbey“ kredenzt. Andere Konfitüre kam dort nicht auf die Tafel, wie Hugh Bonneville beim Interview in Berlin erzählt. In der Serie spielte der 54-Jährige das Familienoberhaupt Earl Grantham; in „Paddington“ ist er Mr. Brown, der Gastvater des Bären.
Schon als Jugendlicher war Bonneville selbst auf Limettenmarmelade umgeschwenkt. „Da rümpfen viele die Nase, it’s not the real thing.“ Aber gerade das Exotische hat ihn gereizt. Bei den Dreharbeiten zu „Downton Abbey“ war er dankbar für die Orangenmarmelade. Morgens griff er in den Frühstücksszenen noch hungrig zum Rührei. Nachmittags, insbesondere bei der fünften Wiederholung, war er froh, wenn er nur noch ein paar Bissen Toast zu sich nehmen musste.
Wobei auch der Toast eine Erfindung der Upper Class ist, wie Kaori O’Connor in ihrem Buch „The English Breakfast“ schreibt: Weil es in den Herrenhäusern, diesen riesigen Kästen, so eisekalt war, rösteten die Bewohner die Brotscheiben, auf denen sie die harte Butter sonst gar nicht hätten verstreichen können.
Das Bittere erlebt gerade eine Renaissance
Auch wenn heute jedermann Orangenmarmelade im Supermarkt kaufen kann, gibt es noch immer Klassenunterschiede in puncto Geschmack. Zumindest behauptet das die Anthropologin Kate Fox – dass die Upper Class die dunkle Variante mit dicken Schalenstücken bevorzugt, die Unterschicht dagegen die helle, mit dünnen oder gar keinen Schalenstreifen liebt. Eine These, die Bonneville anzweifelt.
Eins aber scheint sicher. Dass so ein Toast mit Orangenmarmelade, egal ob dick oder dünn, einen Hauch von Herrenhausfeeling vermittelt, auf jeden Fall von good old England. Wahrscheinlich ist es gerade das, was viele jüngere Briten abschreckt, die auch eher Kaffee- als Teetrinker sind. Wenn sie überhaupt noch frühstücken, greifen sie lieber zur gezuckerten Konkurrenz, Nutella & Co, Erdnussbutter, Lemon Curd, der süß-sauren cremig-buttrigen Marmalade-Alternative, oder einfach zu jam, der Fruchtkonfitüre. Die übrigens, jetzt kommt’s, auch in Deutschland nur als Marmelade verkauft werden darf, wenn sie mindestens 20 Prozent Zitrusfrüchte enthält. Da haben die Briten sich bei der EU durchgesetzt. Im Zuge des Brexit-Scheidungsprozesses verlangen nun Kritiker vom Kontinent, dass diese Verordnung auch wieder abgeschafft wird.
Wobei das Wort Marmalade kein englisches ist. Es kommt aus dem Portugiesischen, dort heißt Quitte Marmelo. Denn ursprünglich wurden die Apfelsinen wohl im Mörser zu einer dicken Paste gequetscht, ähnlich der Quittenpaste. Hugh Bonneville weist darauf hin, dass malade darin steckt, krank, die bittersüße Creme ursprünglich als Heilmittel verabreicht wurde. Wer sie überhaupt erfunden hat, dazu gibt es verschiedene Geschichten. Die Schotten erheben Anspruch aufs Urheberrecht; verbürgt ist jedoch nur, dass in Dundee 1797 der erste Orangenmarmeladenbetrieb der Welt eröffnet wurde.
Warum liebt Paddington Orangenmarmelade?
Aber der wahre Liebhaber macht sie natürlich selber. Damit endet der erste Paddington-Film, dass die Browns sich am Orangenkochtopf zusammenfinden: „Marmalade Day!“ In der Tat ist das Einkochen für viele Briten ein Ritual, sobald im Januar die ersten Pomeranzen in die Läden kommen. Die Saison ist kurz, im Februar ist sie schon wieder vorbei.
Warum der kleine Bär überhaupt Orangenmarmelade liebt? Honig war seinem Schöpfer Michael Bond zu banal; außerdem steckte der andere berühmte Kinderbuchbär, Pu, ja schon ständig mit einem Finger im Honigtopf. Und der Schriftsteller liebte seine Marmalade.
Hugh Bonnevilles Vorratsschränke sind voll davon. Nach dem ersten Film fanden Freunde und Verwandte es alle lustig, ihm welche zu schenken. Vorräte für Jahre. Macht nichts, Experten wissen: Sie muss reifen wie guter Wein. Robert Burgmeier, Chefkoch der Britischen Botschaft in Berlin, meint: „Mit drei Jahren befindet sie sich auf dem Höhepunkt.“
Der Bayer hat auch schon welche für Prinz Charles und Lady Di angerührt, damals im Hotel in Klosters, wo die Royals Ski fuhren; das Rezept (das er unten verrät) hat er dann mit nach Berlin gebracht. Natürlich schneidet er die Schale der Früchte – je zur Hälfte marokkanische Apfelsinen und italienische Pomeranzen – mit der Hand und dreht sie nicht wie die Fabriken durch den Wolf.
Unter Feinschmeckern und Spitzenköchen wie Burgmeier erlebt das Bittere gerade eine Renaissance. Junge Manufakturen produzieren inzwischen feine Marmalade- Sorten, seit 2005 gibt es ein eigenes Festival mit internationalem Wettbewerb. Und Kenner wissen, dass man weit mehr damit machen kann, als sie auf Toast zu streichen: in Joghurt rühren, Kuchen und Plätzchen damit füllen, mit Schokolade kombinieren, sie auch bei herzhaften Speisen einsetzen. Botschaftskoch Burgmeier etwa serviert seine Marmalade nicht nur zu Scones, sondern auch zu gereiftem Camembert, glasiert die Rehschulter damit und karamellisiert Chicorée.
Inzwischen gibt es sogar ein Orangenmarmalade-Kochbuch und einen Marmalade-Wodka, den auch Hugh Bonneville geschenkt bekam. Von all seinen Präsenten hat der ihm am besten geschmeckt.
Susanne Kippenberger
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