Berliner Intensivpfleger an der Corona-Front: „Beim Pflegepersonal brennt es schon lange“
Ricardo Lange berichtet jede Woche aus dem Krankenhaus. Diesmal: Die Sensationslust der Medien und Dauerlauf gegen Jens Spahn. Ein Interview.
Ricardo Lange, 39, arbeitet als Pflegekraft auf Berliner Intensivstationen mit Covid-Schwerpunkt. Hier berichtet er jede Woche von Nachtschichten, Provisorien und Hoffnungsschimmern.
Herr Lange, vergangene Woche saßen Sie mit Jens Spahn und Lothar Wieler auf dem Podium der Bundespressekonferenz, seitdem teilen Prominente Ihr Statement und Sie kriegen Tausende Kontaktanfragen über Social Media. Wie geht es Ihnen mit dem Rummel?
Ich komme kaum hinterher, auf Facebook kann ich schon keine weiteren Freunde mehr annehmen, der Account ist voll. Dauernd klingelt mein Telefon. Journalist:innen wollen mich bei meinem Arbeitsalltag mit der Kamera begleiten. Für mich ist das Sensationslust: Es gibt wahrlich genug Reportagen aus Kliniken, das kennen wir doch alles. Und eine Intensivstation ist keine Peep-Show. Mein Vorschlag nach all den Hashtags: #allemalnichtsmachen.
Am Donnerstag sind Sie bei Markus Lanz zu Gast.
Ich freue mich über die Aufmerksamkeit. Aber noch lieber sind mir die kleinen Begegnungen: Heute habe ich ein verletztes Küken unter einem Busch gefunden und zur Wildtierrettung gebracht – die Frau an der Tür hat mich erkannt und sich bei mir bedankt für meine Dienste an den Covid-Betten. In ihrer Familie sind einige mit Vorerkrankungen.
Auch am Freitag treffen Sie sich mit einer Politikerin.
Ich möchte mich mit Abgeordneten aller Parteien treffen, um abzuklopfen, welche Ideen sie für die Pflege haben – was wir als Pflegende, aber auch als Gesellschaft, von ihnen nach der Bundestagswahl im Herbst erwarten können. Ein Satz von Jens Spahn letzte Woche hat mich im Nachhinein geärgert: Er sagte, er könne nicht in kürzester Zeit aufholen, was in Jahren in der Pflege versäumt wurde. Lustig, denn wer hat in den vergangenen 16 Jahren regiert? Seine CDU!
Er sagte auch, wir müssten uns auf einen Marathon einstellen. Aber, um im Bild zu bleiben, denen, die rennen, nämlich uns Pflegenden, geht langsam die Puste aus. Beim Infektionsschutzgesetz haben wir ja gesehen, wie schnell wir handeln können, wenn es brenzlig wird. Der Personalmangel ist seit Jahren gefährlich für das Wohl der Patient:innen. Es brennt schon lange.
[Weitere Folgen der Kolumne "Außer Atem" mit Ricardo Lange]
- „Wir hatten ihn 16 Stunden auf dem Bauch liegen“
- „Die Leute bekommen weiter Herzinfarkte – Corona hin oder her“
- „An eine frühe Begegnung mit dem Tod denke ich oft“
- „Ich darf keine Fehler machen, auch wenn mein Körper sich im Schlafmodus befindet“
- „Sie japsen als kämen sie vom Joggen“
- „Ich verstehe nicht, was die App bringen soll“
Konnten Sie das bei Ihrer gestrigen Nachtschicht wieder erleben?
Wir merken jedenfalls nichts vom sinkenden Inzidenzwert. Unsere Patient:innen sind derzeit so um die 50 Jahre alt und es ist immer noch sehr stressig. Aber selbst, wenn es bald ruhiger wird, kommen erstmal all jene Fälle zurück, die auf andere Stationen verschoben wurden.
Außerdem nehmen die Kliniken ja den OP-Betrieb schon wieder auf, einfach weil sie in unserem aktuellen System sonst Pleite gehen. Wir brauchen eine Reform unseres Gesundheitswesens! Und ach: Warum muss ich dafür eigentlich unbezahlt in meiner Freizeit werben? Haben wir nicht einen Pflegebevollmächtigten der Bundesregierung, Andreas Westernfellhaus? Der war nicht sonderlich laut in letzter Zeit. Unter meinen Kolleg:innen kennt ihn praktisch niemand.