Berliner Intensivpfleger über eine Nachtschicht: „Die Leute bekommen weiter Herzinfarkte – Corona hin oder her“
Der Pfleger Ricardo Lange schreibt über seine Arbeit an der Virus-Front. Doch auch ohne Covid-19 sind Nachtschichten auf der Intensivstation anstrengend.
Ricardo Lange, 38, ist Intensivpfleger in Berlin. Hier berichtet er jede Woche von Schichten an der Corona-Front, Provisorien und Hoffnungsschimmern.
Diese Woche musste ich nach ein paar Spätschichten einen Nachtdienst absagen, weil mein Kreislauf mir Probleme macht. In den vergangenen Jahren habe ich die Folgen meiner Arbeit immer mal wieder in Form von Bluthochdruck, Herzrhythmusstörungen und Rückenschmerzen gespürt. Ich finde, Leute, die im Schichtdienst arbeiten, sollten früher in Rente gehen dürfen.
Heute möchte ich einen gewöhnlichen Nachtdienst aus der letzten Woche schildern. Man liest ja ständig von leeren Krankenhäusern, weil OPs abgesagt wurden. Auf der Intensivstation ist zuverlässig viel los, die Leute bekommen leider weiterhin Herzinfarkte. Und - Corona hin oder her - jedes Leben zählt.
Bis wann hast du geschlafen?
Um 21.40 Uhr betrete ich die Klinik, vorher habe ich einen Energydrink gestürzt, weil ich schon beim Versuch, mein Hörbuch zu hören, weggedämmert bin. In der Umkleide treffe ich zwei Kollegen, typische Frage: „Na, bis wann hast du geschlafen?“ Bis kurz vor knapp, ist meine Antwort.
Ich ziehe meinen weißen Kasack an, dunkelblaue, abwaschbare Gummischuhe, desinfiziere mir die Hände. Um 22 Uhr beginnt die Übergabe im Pausenraum. Wer einen Coronafall betreut, trägt eine FFP-2- oder -3-Maske. Wir besprechen, welcher Patient neu ist und erfahren, wenn einer verstorben ist. Ich betreue heute drei, ich kenne sie schon von der Nacht davor.
Propofol und Insulin
Mein erster Patient hatte eine Hirnblutung und liegt im künstlichen Koma beatmet. Über sogenannte Perfusoren bekommt er ein Blutdruckmedikament, außerdem das Narkosemittel Propofol und Insulin. Je nach Blutdruck muss ich nachjustieren. Zusätzlich hängt er am LiquoGuard, den ich im Blick behalte: Dieses Gerät misst kontinuierlich den Hirndruck und lässt Flüssigkeit ab.
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Mein zweiter Patient, eine Frau Anfang 50, hat ein Glioblastom, einen Hirntumor der schlimmsten Sorte, den man operiert hat, um Lebenszeit zu gewinnen. Sie ist wach und ansprechbar. Das ist bei uns eher selten. Auf Intensiv lernen wir unsere Patienten nicht so gut kennen wie auf anderen Stationen.
Das heißt aber nicht, dass wir weniger um sie kämpfen. Wie gestern streichle ich ihren Kopf und stelle mich vor. Ich bin nicht sicher, ob sie mich erkennt. Ihr Tumor drückt aufs Sprachzentrum, sie gibt unverständliche Laute von sich. Ich versuche, viel Zeit an ihrem Bett zu verbringen.
Mein dritter Patient hat eine Blutung zwischen harter Hirnhaut und Gehirn, ein Subdurales Hämatom, er muss ebenfalls beatmet werden. Ich überprüfe die Absaugung und stelle mir die Alarmgrenzen am Monitor so ein, dass der mich warnt, wenn Werte sich verändern.
Lagerungsrunde und endlich Pinkelpause
Bei Patient Nummer 1 ist heute ein Systemwechsel dran: Aus hygienischen Gründen werden alle Perfusorleitungen und Infusionen nach spätestens drei Tagen getauscht. Mittlerweile schneidet der Gummi meines Mundschutzes ins Ohr, mein Gesicht juckt, die Nase wird trocken.
Ein Uhr, Lagerungsrunde. Um Druckstellen zu vermeiden, drehe ich die Patienten von links nach rechts, oft muss ich das Bettlaken wechseln, eine neue Unterlage einziehen. Dauerhafte Feuchtigkeit macht die Haut empfänglicher für Keime. Ich helfe einer Kollegin mit einem Corona-Verdachtsfall. Wir ziehen uns die komplette Schutzkleidung an.
Zwei Uhr, endlich kann ich auf die Toilette, ich muss schon länger. In der Pause treffen wir uns in der Schwestern-Kanzel. Hier sehen wir jeden Patienten und dessen Vitalzeichen auf dem Überwachungsmonitor, während wir essen und uns unterhalten. Bei mir gibt es Käsebrot und einen Apfel. Corona ist kein Thema, das war es die letzten Tage genug.
Plötzlich piept das Beatmungsgerät
Ich habe zwei Mal abgebissen, da piept ein Beatmungsgerät, sinkende Sauerstoffsättigung beim Patienten einer Kollegin. Ich lege mein Brot zur Seite und helfe ihr. Wir stellen die Sauerstoffzufuhr hoch, erhöhen die Sedierung, rufen die Stationsärztin. Obwohl ich den Beruf schon viele Jahre mache und äußerlich ruhig bleibe, bin ich aufgewühlt. Die Ärztin spiegelt die Lunge - sie ist voller Sekret, das sie nun absaugt. Die Sauerstoffsättigung steigt. Erleichterung.
Um drei Uhr bringt man einen Schlaganfall-Patienten aus der Rettungsstelle zu uns. Wir legen ihm die Monitorkabel an, ziehen die notwendigen Medikamente auf, tragen seine Daten in den Computer. Um vier Uhr letzte Lagerungsrunde, ich wechsle die Drainagebeutel und die Absaugeschläuche.
Blutproben und Bilanzen
Anschließend nehme ich meinen drei Patienten arterielles Blut ab, das mit der Rohrpost ins krankenhauseigene Labor geschickt wird. Um fünf machen wir die Bilanzen, überprüfen also, ob die Patienten genug Flüssigkeit ausgeschieden haben.
Haben sie zu viel verloren, gleichen wir das mit Infusionen aus. Um sechs desinfiziere ich alle Arbeits- und patientennahen Flächen. Die ersten Kollegen vom Frühdienst laufen vorbei und grüßen. Einige lächeln, andere sind noch zu müde.
"Schlafstörungen habe ich regelmäßig"
Die letzte halbe Stunde scheint endlos. Warten bis zur Übergabe. Meine Beine sind schwer, meine Augen fallen zu. Ich freue mich sehr auf mein Bett. Endlich draußen sauge ich die frische Luft ein und bin dankbar, dass dieser Dienst ein normaler war - ohne große Komplikationen.
Im Auto ahne ich, dass ich gleich nicht gut schlafen werde. Schlafstörungen habe ich regelmäßig. Aber vielleicht komme ich stattdessen mit meinem Hörbuch weiter.
Die ersten zwei Folgen von Ricardo Langes Kolumne "Außer Atem" lesen Sie hier.