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Versunken im Chaos. Die Unordnung im Schrank entspreche der Unordnung im Herzen, predigt Marie Kondo.
© imago/allOver

Pro und Contra zu Marie Kondo: Aufräumen – und der Wahrheit ins Auge sehen

Die eine fühlt sich danach leicht wie im Urlaub, der andere wie tot im Sarg. Ein Pro und Contra zum Aufräumhype, den Marie Kondo durch Netflix ausgelöst hat.

Nantke Garrelts bringt ihr Leben in Ordnung

Zwölf Sporthosen liegen da in meiner Schublade. Nützlich sind sie, teuer waren sie auch, aber tatsächlich notwendig? Die Frage, ob jede einzelne wirklich „Freude entfacht“, wie Aufräumberaterin Marie Kondo aktuell in ihrer Netflix-Serie bei sämtlichen Gegenständen fragt, beantworte ich bei mindestens vier Teilen mit Nein.

Es tut ein bisschen weh, sich von den Dreiviertelleggings aus alten Tagen zu verabschieden, sie waren ein toller Begleiter auf Lauftouren um friedliche dänische Seen. Meinen mit den Jahren stämmiger gewordenen Oberschenkeln aber schmeichelt der Schnitt nicht gerade – also weg damit. Dabei wäre ich doch so gern eine Triathlon-Yoga-Boulder-Göttin, die grünen Tee statt Kaffee trinkt und es schon morgens vor der Arbeit zum Sport schafft. Nur leider habe ich einen Knorpelschaden, viel zu wenig Zeit, und dazu wohne ich in Berlin mit seinen langen Wegen und rennradunfreundlichen Straßen, realistisch gesehen wird das also so bald nichts. Zusammen mit den Hosen werfe ich gleich ein paar Illusionen in die Plastiktüte und bringe sie zum Spendencontainer. Das fühlt sich merkwürdig gut an.

Die Sache mit der Sportkleidung ist trivial und doch symptomatisch für den Ballast, der dort schlummert, wo wir uns entspannen sollten – im eigenen Haus. Nostalgie, Angst vor Knappheit, die Hoffnung auf eine andere, bessere Version unserer selbst: Es gibt viele gute Gründe zu hamstern.

Überfluss ist Sicherheit

Wenn ich aufräume, setze ich mich mit diesen Ängsten und Hoffnungen auseinander und sehe der Wahrheit ins Auge: Nein, ich werde die 50 Postkarten meiner Großmutter aus dem vergangenen Jahr nicht beantworten, werde das Buch über die Numismatik der Spätantike nach Feierabend nicht in die Hand nehmen, weil ich schlicht zu müde bin. Und das ist okay. Dieser Prozess ist nicht immer angenehm, aber verdammt befreiend. Durchs Aufräumen habe ich mich des Drucks entledigt, tausend Dinge sein und machen zu wollen. Sicher, da liegen immer noch unbearbeitete Briefe vom Finanzamt auf meinem Schreibtisch, aber wenigstens verschwinden die nicht unter Triathlonmagazinen, Zeitungen und Fahrradkarten von Masuren.

Mehr ist mehr – das haben wir Kinder der Babyboomer von unseren Eltern gelernt. Die haben oft ein Einfamilienhaus oder wenigstens eine große Wohnung, mindestens ein Auto und massig Stauraum für Bücher, Kleider aus mehreren Jahrzehnten und Tankrechnungen aus der Führerscheinprobezeit. Die Frage „Brauche ich das noch?“ stellen sie sich höchstens im Scheidungsfall, und selbst dann wird eher behalten als weggeworfen.

Überfluss ist Sicherheit, ob im Kleiderschrank, am Supermarktregal oder am Buffet. Was für katastrophale Folgen dieser Turbokapitalismus auf den globalen Süden und auf den ganzen Planeten hat, wissen wir mittlerweile gut genug und machen trotzdem weiter. Dabei kennt doch jeder, der gern unterwegs ist, das Phänomen: Mit nur einem Koffer in der Hand oder dem Rucksack auf dem Rücken reist es sich erstaunlich leicht durch die Welt. Was man anzieht oder liest, ist schnell entschieden, viel Auswahl gibt es nicht. Wenn dieser Umstand auf Reisen eher für Unbeschwertheit sorgt als für Panik, warum das Konzept also nicht auf den Alltag übertragen?

Beruhigend wie Malen oder Stricken

Die Effekte sind nicht nur in Kondos Serie sichtbar: Eine Studie aus der Fachzeitschrift „Personality and Social Psychology Bulletin“ zeigt, dass Menschen, die ihr Haus als unvollkommen und nicht aufgeräumt beschreiben, eine höhere Neigung zu depressiven Stimmungen haben. Bei Probanden, die ihr Haus als geordnet und erholsam beschrieben, war die Anfälligkeit deutlich niedriger.

Und man kann auch klein anfangen: Auf mich hat es schon einen beruhigenden Effekt, Kondo im Fernsehen beim Falten von Krawatten zuzusehen, obwohl ich selbst keine einzige besitze. Die Japanerin diente in ihrer Jugend in einem Shinto-Schrein; bis heute strahlt sie Konzentration und Ruhe aus. Im Selbstversuch umgesetzt, ist Unterwäsche-Origami übrigens mindestens so beruhigend wie Malen oder Stricken – und noch beruhigender für feinmotorisch unbegabte Menschen wie mich, die an Staffelei und Stricknadeln verzweifeln.

Man muss keine Zwangsstörung haben, um einen kurzen Moment des Seelenfriedens in einer nach Bento-Box-Prinzip kompartmentalisierten Socken- und Unterwäscheschublade zu finden. Die Zeit, die ich zum Falten brauche, ist wie Einchecken mit mir selbst. Ich besinne mich auf meine Umgebung, entscheide mich bewusst für oder gegen etwas. Und wenn ich die Kuschelsocken und die Yogaleggings schneller finde, bleibt mehr Zeit für die wirklich wichtigen Dinge. Nantke Garrelts

Unser Hirn ist der Ort größtmöglicher Unordnung

Die Japanerin mit dem Dauerlächeln: Marie Kondo.
Die Japanerin mit dem Dauerlächeln: Marie Kondo.
© imago/Kyodo News

Hannes Soltau braucht das Chaos

Ich weiß noch genau, wie beeindruckt ich war, als ich ihn vor ein paar Jahren das erste Mal in seiner neuen WG besuchte. Das Zimmer leergefegt wie eine Arztpraxis. Die Bücher farblich sortiert. Die Stifte auf dem Schreibtisch akkurat ausgerichtet. Wo einst Bilder hingen, blendete nun die weiße Wand. Erinnerungsstücke hatte er in den Keller verbannt oder gleich entsorgt. Der Name Marie Kondo war meinem Freund noch nicht geläufig. Doch Floskeln wie „Aufräumen als Auseinandersetzung mit sich selbst“ oder „Reduktion auf das Wesentliche“ fielen damals bereits. Jene Wortfetzen der Aufräumpäpstin, die mir heute der halbe Freundeskreis vorkaut. Menschen, bei denen der Bestseller „Magic Cleaning“ auf dem Nachttisch liegt wie einst die Bibel bei den Großeltern.

Apropos. Meine Oma hatte ein grünes Biedermeiersofa. Dort thronten Porzellanpüppchen auf bestickten Kissen und blieben auch da, wenn ich mich an den Kaffeetisch setzte. Nicht zu schwungvoll, weil sonst das Möbelstück die fein drapierten Brokatvorhänge verschieben könnte. Alles war aufeinander abgestimmt. Man hätte eine Kordel vor die Haustür hängen können.

Meine Oma liebte ihren Nippes. Und sie hätte auch Marie Kondo geliebt. Allein wegen des eingefrorenen Dauerlächelns, um das herum jegliches menschliche Mienenspiel unter einer zentimeterdicken Kosmetikschicht verschwindet. „Die Unordnung im Zimmer entspricht der Unordnung im Herzen“, steht im Klappentext von Kondos Bestseller. Auch da hätte meine Oma genickt. Das Leben war für sie in Ordnung, wenn nur die Dinge an ihrem angestammten Platz waren. Hauptsache sortiert oder gefaltet. Dabei hatte sie doch in jungen Jahren erleben müssen, dass absolute Ordnung und Barbarei sich nicht ausschließen. Der formstrenge Charakter ihrer Räume war wohl eher ein Ausdruck von Kompensation als von innerer Ausgeglichenheit.

Selbstoptimierung im Unterwäschefach

Heute verlängert Kondos Denken die Ansprüche der modernen Arbeitswelt über den Feierabend hinaus. Wir müssen stets flexibel sein – und opferbereit. Dass die Selbstoptimierung dabei auch vor den intimsten Sphären nicht Halt macht, ist dem Kapitel „Unterwäschefach“ zu entnehmen: Slips bitte „über den Schritt falten und dann von unten einrollen, sodass die hübsche Verzierung vorne am Bündchen zu sehen ist“. Meinetwegen. Im Anschluss dann aber bitte auch das Hirn herausnehmen, auswringen und dazulegen. Sollte das schwerfallen, unter dem Stichwort „Kann alles weg“ findet sich bestimmt ein guter Ratschlag zum Loslassen.

Wäre die Evolution im Sinne Kondos verlaufen, würde die Menschheit heute noch als Schwarm von Einzellern am Grunde eines Urzeitmeeres vor sich hinvegetieren. Genialität und Chaos sind unzertrennlich, wie Wissenschaftler bestätigen. Man denke an Einsteins Schreibtisch. Oder Picassos Atelier. Der Siegeszug der Antibiotika war nur möglich, weil ein zerstreuter Forscher vergessen hatte, sein Laborfenster zu schließen, bevor er in den Urlaub fuhr. Pilzsporen flogen herein und töteten den Erreger auf einer liegengebliebenen Versuchsplatte. Aber Marie Kondo hätte bestimmt auch Diphterie-, Pest- und Choleraerreger ordentlich verstaut.

Die Gesetze des Chaos

Seit jeher erfinden Menschen Ordnungsprinzipien, um ihre komplexe Lebenswelt zu entwirren. Doch müssen sie deshalb gleich ihre Lebendigkeit mitsamt den Kinderfotos und Liebesbriefen entsorgen? Spiegeln sich darin doch Erinnerungen und Erfahrungen. Und ja, die dürfen auch schmerzhaft sein. Mahnungen aus der Vergangenheit, Verankerungen in der Gegenwart, Wegweiser für die Zukunft. Der geschichtsvergessene Kampf der Kondoianer gegen das vermeintlich Überflüssige ist hingegen Ausdruck einer bemitleidenswerten Selbstunterwerfung. Als könnten sie es kaum erwarten, sich nach einem erstarrten, entleerten Leben endlich selbst in die Kiste zu legen.

Ausgerechnet unser Hirn ist der Ort größtmöglicher Unordnung. 40 000 bis 60 000 Gedanken hat der Mensch am Tag. Ein unbewusstes, unkontrollierbares, unproduktives Rauschen. Hier entsteht der ganze irrationale Blödsinn und der emotionale Aufruhr, der das Menschsein erst ausmacht. Der Sternenhimmel, jede Blumenwiese, die Polarlichter und das tosende Meer gehorchen den Gesetzen des Chaos.

Mein akkurater Freund ist heute depressiv. Besucht hat er mich schon lange nicht mehr, saß noch nie auf meinem geerbten, grünen Biedermeiersofa. Zugegeben, er hätte auch keinen Platz zwischen den Wäschebergen und Dokumentenstapeln gefunden, die die Weinflecken im Stoff kaschieren.

Ähm – ups. Ich war’s nicht, Oma. Es war das Leben. Hannes Soltau

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