Aufräumberaterin Gunda Borgeest: „Nach vier Wochen darf die Socke in den Müll“
T-Shirts sollte man rollen und Spannbetttücher falten: Gunda Borgeest hilft Menschen beim Aufräumen. Sie hat erlebt, wie eine ordentliche Küche den Geist befreit. Ein Interview.
Frau Borgeest, Sie gehen zu Menschen und räumen dort mit ihnen auf – das ist Ihr Beruf. Wann war es bei Ihnen zuletzt unordentlich?
Als die Kinder klein waren. Besonders meine Tochter fräste sich nach der Schule ihren Weg durch die Wohnung, eine Straße der Verwüstung: Schulranzen in den Flur gepfeffert, Jacke übers Sofa, Kühlschrank auf, Milchtropfen überall. Ich habe sie oft ermahnt, ja ja Mama, konnte mich irgendwann aber selbst nicht mehr hören. Ich kann mit Chaos um mich herum einfach nicht arbeiten.
Das sehen wir. Ihre Wohnung ist der ordentlichste Ort, an dem wir je waren. Wie viel Lebenszeit verschwenden Sie mit Aufräumen?
Keine. Wenn es mir nicht gut geht, und ich die Küche aufräume, ist es danach besser. Das erleben viele Menschen so. Wenn sie eine äußere Ordnung herstellen, sind sie plötzlich viel gelassener. Es hat etwas von Meditation.
War das bei Ihnen schon immer so?
Das klingt jetzt wie bei einem Filmemacher: „Ich habe bereits als Kind Drehbücher geschrieben ...“ Es war wirklich so. Meine Mutter wunderte sich, weil ich mein Spielzeug nach Kategorien geordnet habe, nach Farben, nach Größen. Und dann ihre Schubladen. Mit vier!
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Dennoch haben Sie lange gebraucht, bis Sie professionelle Aufräumerin geworden sind.
Ich bin eigentlich Sinologin und Literaturwissenschaftlerin, habe immer halbtags gearbeitet, als meine Kinder aus dem Haus waren, wollte ich wieder ganztags einsteigen, im Kulturbereich, wie zuvor. Aber ich wurde einfach zu keinem Bewerbungsgespräch eingeladen. Eine Freundin, Personalmanagerin, sagte: Das liegt an deinem Alter. Ich war doch erst 49, wie krass. Ich dachte, entweder ich geh’ jetzt in die Depression, oder ich muss mich neu erfinden. Auf einen Zettel schrieb ich, was mir wichtig ist: Ich möchte mit Menschen arbeiten, ohne Hierarchien, und die Welt schöner machen.
Sie gründeten Ihre Firma: „Schönste Ordnung“.
Eine Freundin hatte sich zum Geburtstag gewünscht, dass ich ihr beim Aussortieren, Ordnen und Einrichten helfe. Ihr Tisch stellte zum Beispiel damals die ganze Küche zu, sie lud schon gar niemanden mehr zum Abendessen ein. Wir fanden einen Platz dafür im Wohnzimmer und – es mag pathetisch klingen – das änderte alles. Sie versöhnte sich mit ihrem Mann, kam ihrem Sohn wieder näher, fand einen besseren Job. Und ich verstand: Das will ich beruflich machen.
Mal ehrlich – doch nicht alles wegen eines Tisches!
Natürlich nicht, aber es war, als hätten wir ein Schwungrad in Bewegung gesetzt. Das erlebe ich immer wieder.
Woran liegt das?
Es geht bei mir nicht nur ums Aufräumen, sondern ums Loslösen. Wer im Außen Raum schafft, schafft auch im Innen welchen. Kundinnen mit Kleidergröße 42 haben oft den Schrank voll 36 hängen, die Mahnung an die Diät. Die machen morgens den Schrank auf und sind frustriert. Ich hatte mal einen Herrn, Mitte 70, das Regal voller Papiere. „Meine Promotionsunterlagen, ich habe aber nie promoviert. Ich höre noch die Stimme meines Vaters, der sagt, du bist gescheitert.“ Der Mann war erfolgreicher Unternehmer.
Wie haben Sie ihm geholfen?
Ich fragte ihn: Können Sie sich vorstellen, dass wir die Akten in einen Umzugskarton räumen? Wir sind dann irgendwann zum Altpapiercontainer, erst wollte er, dass ich es mache. Schließlich hat er sich getraut – und voller Erleichterung geweint.
Für solche Emotionen sind Sie gar nicht ausgebildet.
Ich bin keine Psychologin und würde mir das nie anmaßen. Ich denke jedoch, dass ich mit den Menschen eine Art Verhaltenstherapie mache. Als ehrenamtliche Hospizhelferin habe ich Trauerprozesse begleitet, später eine Ausbildung als Mediatorin gemacht. Das hilft mir auch, mich abzugrenzen.
Sie treffen sich am Tatort. Sofort sind Sie über die Schwelle getreten und beim Intimsten angelangt.
Deshalb bekommt jeder ein Erstgespräch, die Menschen haben sich schließlich überwunden, mich reinzulassen. Zuvor haben sie es meist schon mit Bruder, Ehefrau und Nachbarin versucht, allein sowieso. Und alle Aufräumratgeber gelesen.
Wie gehen Sie vor?
Ich hör’ erstmal nur zu. Stelle viele Fragen. „Seit wann machen Sie Ihre Post nicht mehr auf?“ Das sind Menschen, die wurden lange nichts mehr gefragt. Viele haben jemanden verloren, Krankheit oder Trennung hinter sich. Manche müssen von einem Haus ins Altersheim umziehen, andere haben verlernt, regelmäßig für sich einzukaufen. Ich habe eine Studentin, die hat 500 Euro von ihrer Oma für mich gekriegt, ich helfe aber auch in einem wohlhabenden Unternehmerhaushalt mit fünf Kindern.
"Es kann Spaß machen, gemeinsam Unterhosen zu ordnen"
Schreiben Sie sich Notizen?
Selten. Manchen Kunden erstelle ich Fahrpläne. Ich habe eine Klientin, Sängerin, wenig Geld, die kann sich mich nur alle paar Monate leisten ...
... Sie kosten 45 Euro pro Stunde …
Ja. Sie schickt mir stattdessen ein Bild ihrer aufgetürmten Strumpfhosen und nach ein paar Stunden ein weiteres von den geordneten. Das ist ja überhaupt der größte Fehler: Sich zu viel vorzunehmen. Ich mach dann mal den ganzen Keller am Samstag!
Bei Ihnen klingt Alltägliches wie eine Wissenschaft.
Es gibt einen großen Unterschied zwischen professionellem und hausgemachtem Aufräumen. Die meisten räumen den Schrank auf, indem sie alles rauswerfen und es sauber wieder einsortieren. Echte Tiefenreinigung geht anders. Man versammelt beispielsweise alle Taschen, Beutel und Rucksäcke an einem Ort. Aus Keller, Garage, Dachboden. Dann der heilsame Schock: Ich habe ja wirklich sechs Rucksäcke, das war mir gar nicht klar! .
Sie sitzen dabei und lassen sich alles vorführen?
Ich packe mit an. Meine Kunden sollen Umzugskartons besorgen, die sie nach unserer Session zu karitativen Organisationen bringen. Das müssen sie gleich am nächsten Tag erledigen. Sonst setzt die Befreiungsenergie nicht ein. Es ist entscheidend, dass die Kisten nicht noch vier Monate im Flur geparkt werden. Wenn ich zwei Wochen später wiederkomme, höre ich Ausreden wie „mein Auto war kaputt“. Also fahren wir gemeinsam.
Die japanische Aufräumerin und Bestsellerautorin Marie Kondo kommt immer früh morgens. Sie auch?
Nein, meine Herangehensweise ist individueller. Kondos große Leistung ist, dass sie dieses Thema in die Welt gebracht hat. Aber ihre Methode funktioniert bei vielen Menschen nicht, sie ist aus meiner Sicht zu kategorisch: Es darf nur bleiben, was Freude macht, wenn Sie etwas lange nicht getragen haben, muss es auf den Müll. Da wird’s mir ganz anders. Ist aber aus der japanischen Kultur erklärbar, die haben keine Second-Hands, ein getragenes Kleidungsstück ist beseelt.
Kondo rät dazu, sich bei den Gegenständen streichelnd zu bedanken ...
... ich rede über die Gegenstände mit den Menschen. Diesen Rucksack hatte ich bei meiner ersten Amerikareise, da kann ich mich nicht von trennen. Ich würde nie sagen: Der ist doch zerrissen! Ich sage: Dann brauchen Sie den nicht auch noch in der gleichen Farbe und Größe. Es geht immer um die Geschichten hinter den Dingen.
Sie erinnern sich an alle?
Aktuell habe ich parallel 34 Kunden, manchmal ruft einer an: Frau Borgeest, wo haben wir die Gartenhandschuhe hin? Ich überlege kurz, mein Gehirnjogging, schauen Sie mal in der Garage, oben links, zweiter Karton! Einmal habe ich doch tatsächlich zwei Nagelscheren verwechselt.
Schon mal krachend gescheitert?
Es gibt immer Fortschritt, und sei es, dass wir eine Besteckschublade aufgeräumt haben. Wobei das auch schiefgehen kann. Mit einer Dame habe ich mich auf zwölf Löffel und Gabeln von einem Muster geeinigt, die anderen haben wir weggegeben. Das ist wichtig: Die Dinge müssen noch leben dürfen, so lässt man leichter los. Dann hat bei einer Feier das Besteck nicht gereicht. Bei meinem nächsten Besuch sagte sie: „Meine Freundin Inge wollte die Löffel schon von der Diakonie zurückholen.“
Ihr größtes Erfolgserlebnis?
Ich habe mit einer jungen Frau gearbeitet, die schwer depressiv war, starke Psychopharmaka nahm und seit acht Jahren niemanden mehr in ihre Wohnung gelassen hat. Nicht mal den Heizungsmonteur, so peinlich war ihr die unordentliche Wohnung. Sie lebte lieber im Kalten. Zu ihrem 28. Geburtstag wollte sie wieder jemanden zu sich einladen. Es klappte. Ich gratulierte per SMS, sie schrieb: Ich habe mich in meiner Wohnung und in meinem Leben noch nie so wohl gefühlt wie jetzt.
Wird es Ihnen nie zu intim?
Es kann Spaß machen, gemeinsam Unterhosen zu ordnen. Bei einem schwulen Psychologen habe ich mal eine Schachtel im Schlafzimmer aufgemacht, drin waren Gleitcreme und Kondome. Ich: oh. Er: Lassen Sie uns die doch jetzt nach Farben sortieren!
Es wenden sich mehrheitlich Frauen an Sie. Sind sie unordentlicher?
Im Gegenteil. Aber Männer glauben immer, dass sie alles allein hinkriegen, sie würden dafür kein Geld ausgeben und sich schon gar nicht von einer Frau die Welt erklären lassen. Frauen können sehr viel genauer einschätzen, was sie schaffen und was nicht.
Bitte helfen Sie uns und den Lesern mit ein paar praktischen Tipps. Im Schrank: stapeln oder rollen?
Stapel sind schwierig. Besser man kauft einen Korb, tief wie der Schrank, und stellt die Shirts gerollt hinein. So sieht man alles von oben.
"Ich würde nicht mehr nach Kreuzberg ziehen"
Und was tun mit Spannbetttüchern?
Hab’ ich von einer Kundin gelernt. Sie nehmen zwei Ecken, tun die in die zwei anderen, sodass Sie vier Ecken tragen, das kann man falten. Super!
Dann haben Sie gewiss auch eine Lösung für das Menschheitsproblem Sockenvereinzelung!
Warum das passiert, weiß ich nicht, aber sehr wohl, was man mit den Einzelgängern tut. Die Zweiersocken rollt man immer gleich zusammen, die einzelnen kommen in eine kleine Schachtel daneben. Wenn der Partner vier Wochen nicht auftaucht, darf man die Einzelsocke in den Müll werfen. Selten taucht er noch auf, in irgendeinem Buntwäschestapel. Es lohnt sich nicht, zu warten.
Sind große Keller Segen oder Fluch?
Ein Fluch! Sie verschieben das Problem, besonders schlimm sind diese Storages, die man günstig anmieten kann. Das ist Verdrängung im eigentlichen und übertragenen Sinne. Toll sind aktive Keller: Da lagern die Weinflaschen im Regal, da steht das Schlauchboot in der Ecke und die Skier, für drei Mal im Jahr. Man muss nicht erst irgendwo hin krabbeln, um was rauszuziehen.
Und was tun mit all den Büchern, die man im Laufe seines Lebens ansammelt?
Ich kenne eine super App, Momox, da scannt man den Barcode des Buches und bekommt mal 50 Cent, mal 8 Euro. Und wenn ich alles von Suter und Hesse habe, weil die mein Leben sind? Klar, behalte ich die.
Eine beliebte Aufräumstrategie lautet: Für jedes neue Teil fliegt eins raus.
Ich bin nicht so streng. Ich rate den Leuten, Platz zu lassen, damit nicht wieder dieses verstopfte Gefühl aufkommt. Lassen Sie Raum im Küchenschrank, vielleicht kommt ja irgendwann noch eine Vase dazu?
Ein anderer Aufräumcoach hat seiner Klientin mal Tchibo-Verbot erteilt ... Sie nicken so wissend.
Ich stehe immer wieder vor Kleiderschränken mit unausgepackten Tchibo-Trainingshosen, Föhnen. Aber ich würde nie ein Verbot aussprechen. Ich freue mich, wenn einer berichtet, dass er versucht war, einen Impulskauf zu tätigen und sich dann an seinen ordentlichen Kleiderschrank erinnert hat.
Der durchschnittliche Deutsche besitzt 10 000 Dinge. Warum horten wir überhaupt so viel Kram?
Es gibt drei große Ausreden: Das hat mal viel gekostet, das habe ich mal geschenkt bekommen, das kann ich nochmal gebrauchen. Letzteres ist manchmal richtig, aber es ist eine Frage der Menge. Die Generation unserer Großeltern musste alles behalten, sie hatten ja nichts. Das haben die zum Teil auf ihre Kinder und Kindeskinder übertragen.
In letzter Zeit gibt es einen wahren Aufräum-Hype. Die „Brigitte“ nennt es das neue Wellness.
Seit den 50ern leben wir in einer Überflussgesellschaft, definieren uns über Konsum, über das, was wir uns leisten können. Der Generation meiner Kinder ist anderes wichtig, Erlebnisse, Erfahrungen, die man auf Facebook teilt. Denen ist völlig wurscht, ob die ein Auto haben oder nicht. Zumal sie die Lasten der Alten erben, ganze Hausstände von Ansammlungen. Die wissen gar nicht, wohin mit dem Meißner Porzellan.
Die Menschen fragen sich wieder: Brauche ich das, um glücklich zu sein?
Ja. Wenn wir uns darauf konzentrieren, was wir wirklich brauchen, dann wissen wir, wer wir sind.
Sie meinen Aufräumen als Kampfansage an den Kapitalismus. Wer sein Haus aufräumt, macht gleichzeitig die Welt ein bisschen besser?
Ja! Das Verschenken ist auch eine schöne Bewegung. Ich brauche das alles nicht für mich selbst, ich kann andere damit erfreuen. Es gibt ja diesen Satz: Besitz beschwert. Wir leben in einem ungeheuren Zuviel. Wir sind wie erstickt und zugepackt mit Material, mit Materiellem.
Es gibt auch Argumente für das Chaos. Jeff Bezos soll die Idee, Amazon zu gründen, gehabt haben, als er fast aus einer Tasse mit sieben Tage altem Kaffee von seinem vollgemüllten Schreibtisch getrunken hätte.
Jeff Bezos würde mich nie anrufen. Es gibt Menschen, die sich im Chaos wohlfühlen, die brauchen das aufgeschlagene Buch oder den Stapel Postkarten als Inspiration. Aber manche können sich nicht allein befreien, fühlen sich abgelenkt, unruhig, schlafen schlecht. Die brauchen mich.
Besitzen Sie irgendwas Überflüssiges?
Hmmm…
Sie überlegen sehr lange.
Vielleicht zu viel Geschenkpapier – die Leiche in meinem Keller. Ich habe wenig Klamotten, kaum Kosmetik oder Schmuck. Zum Glück ist mein Mann ähnlich. Ich hätte sonst sicher ein konfliktreicheres Leben.
Sie beide wohnen ausgerechnet in Kreuzberg – da steht der Sperrmüll auf der Straße ...
Ich würde nicht mehr in diese Gegend ziehen. Es ist extrem dreckig, ich finde beim Walken tote Ratten. Am Engelbecken werden beispielsweise die Mülleimer viel zu selten geleert. Das Phänomen kennt man ja, da wo Graffiti ist, kommt Graffiti dazu, wo Müll liegt, kommt Müll dazu. Das habe ich noch in keiner anderen Stadt so schlimm erlebt wie hier.
Berlin sollte Sie anheuern!
Seit ich hier morgens walke, überlege ich, ob ich nicht regelmäßig mit Müllbeutel und Harke aufräume, als meinen ehrenamtlichen Beitrag zum Berliner Chaos. Ich würde mich wohler fühlen.
Trauen Freunde sich noch, Sie einzuladen?
Ja – aber manchmal merke ich, dass der Gastgeber in einen Rechtfertigungsdruck gerät: Also, ähm, ich hab’s nicht mehr geschafft, aufzuräumen.
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