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Revolution? Nach langem Hin und Her mit den Behörden ist die Straße frei für E-Bikes.
© promo

Ferienziel Kuba: Auf dem E-Bike durch Havanna

Mittagspause, Meer, Mojito. Und dann über Bauschutt und Scherben zu Luxuspools und El Maximo Líder. Kubanische Reifenoper.

Langsam schwingen die Türen auf. In der kubanischen Morgensonne funkeln ein Dutzend tiefergelegte Cruiser-Fahrräder. Weit geschwungene Rahmenform und breite Reifen. Sie zitieren den Protz amerikanischer Straßenkreuzer, die in Havanna schon anzutreffen waren, als Fidel Castro und Che Guevara 1956 auf der Insel in Erscheinung traten. Revolutionen sind die Lokomotiven der Geschichte. Martin Staubs Neuerung aber rollt vollkommen emissionsfrei. „Bike your revolution“ ist der Slogan seiner Firma. Das Angebot: die ersten und einzigen Fahrradtouren mit E-Bikes auf Kuba. Sein Versprechen: „Cuba auténtica“.

Treffpunkt ist Vedado, ein Stadtteil mit Villen im Stile des Art déco. Zusammen mit Frau und Kind lebt Staub hier. Braun gebrannt, langer Bart, schwarze Schirmmütze und eine stets glimmende Zigarre. Optisch erfüllt der 59-Jährige jedes Klischee eines kubanischen Revolutionärs. Fast vergisst man, dass Staub deutscher Unternehmer im sozialistisch regierten Karibikstaat ist. Und den Widerspruch des modernen Kubas personifiziert.

Die ersten Versuche auf dem Rad sind wacklig. Der Sitz ist prollig breitbeinig, die Verstärkung des Tretens durch den Elektromotor ungewohnt. Havannas Straßen bieten ein dankbares Terrain, um sich daran zu gewöhnen. Zwar wurde das staatliche Importverbot für ausländische Autos vor wenigen Jahren aufgehoben, doch noch zuckeln nur wenige Fahrzeuge im gemächlichen Tempo dahin. Eine Wolke aus strengem Tabakrauch umgibt Staub, als er sich in Bewegung setzt.

Piraten, Gangster und Revolutionäre hinterließen ihre Spuren

Eben noch lächelten einige Teilnehmer über die elektrische Unterstützung. Rentnerkram sei das. Doch schon vor dem ersten Anstieg hat der Schweiß die letzten trockenen Stellen auf der Kleidung erobert. Mit ausladenden Armbewegungen navigiert Staub durch den Irrgarten verwinkelter Gassen. Vorbei an tiefen Schlaglöchern, durchgerosteten Gullideckeln und ungesicherten Baustellen.

Havanna begann zwar als kleine spanische Kolonialsiedlung, war aber zwischenzeitlich die drittgrößte Stadt Amerikas – noch vor New York. Piraten, Gangster und Revolutionäre hinterließen ihre Spuren. Ein Spaziergang im 500. Jahr des Bestehens kann die Wahrnehmungsfähigkeit angesichts der Fülle an Eindrücken an die Grenzen bringen – auf dem Rad aber potenziert sich das Erleben bis zur Überforderung. Wie im Schnelldurchlauf schlagen die Kontraste der Stadt auf den Radelnden ein. Sie springen nicht nur ins Auge, sie kriechen in die Nase und bohren sich in die Ohren. Denn in Havanna lösen sich die Klischees von Revolutionsromantik und Karibikflair an jeder Straßenecke ein: Kolonialfassaden, rostige Oldtimer, klapprige Pferdefuhrwerke, Zigarren und Rum. Die allgegenwärtigen Rhythmen von Mambo, Rumba, Cha-Cha-Cha. Die melancholische Musik des Buena Vista Social Club aus einem kleinen Lautsprecher.

Es ist eine Erlösung für die Sinne, als sich der weite Platz der Revolution vor der Gruppe öffnet. Staub zeigt über die Köpfe hinweg auf ein Pult aus weißem Gestein. „Da oben stand er.“ Wer? Natürlich der Maximo Líder, der Comandante en jefe: Fidel Alejandro Castro Ruz. Seit drei Jahren ist er tot. Obwohl sich junge Menschen auf den Straßen Havannas heute offener denn je über die gealterte Revolution beklagen, versammeln sich hier bis zu einer Million Menschen am 26. Juli, dem Nationalfeiertag. Um jenen stundenlangen Reden zu lauschen, die die Befreiung Kubas vor 60 Jahren preisen. Und noch immer bewacht eine überdimensionale Statue Che Guevaras das Geschehen vom gegenüberliegenden Innenministerium aus.

Die Auswirkungen der Krise in Venezuela sind unübersehbar

„Seien wir realistisch, versuchen wir das Unmögliche“, soll Che einst gefordert haben. Als das Rentenalter langsam näher rückte, folgte Staub seinem Ruf. „Einmal noch etwas Aufregendes tun im Leben!“ Anfang der 1990er Jahre besuchte er das erste Mal Kuba. Damals noch als Finanzberater in der Versicherungsbranche. Kurz nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion war das. In einer Phase, die von der kubanischen Regierung bis heute mit dem Euphemismus „Periodo Especial“ bezeichnet wird. „Sonderperiode“ bedeutete in der Realität: Versorgungskrise. Nahrungsmittelknappheit. Hunger. Auf den Straßen seien damals weder Katzen noch Hunde zu sehen gewesen, erinnert sich Staub. Heute vermeidet es die Regierung, von einer neuen „Periodo Especial“ zu sprechen. Doch im Vorbeifahren sind die langen Schlangen vor vielen Läden unübersehbar. Hühnchenfleisch, Reis, Eier, Seife und Zahnpasta – alles stark rationiert. Es sind Auswirkungen der Krise in Venezuela, das bis dahin das dringend benötigte Öl geliefert hat, ohne dessen Weiterverkauf Kuba nicht an ausländische Devisen kommt.

Ursprünglich war Staubs Plan, seine Räder auf der Insel bauen zu lassen. Doch in der Mangelwirtschaft ist das ein unmögliches Unterfangen. Ein Fachhandel für Fahrradzubehör? Eine Ausgeburt des Kapitalismus. Material gäbe es hier nur auf dem Schwarzmarkt. Also gründete er eine Manufaktur in Saarbrücken. Jedes Rad wird dort in Handarbeit gefertigt und muss einzeln importiert werden. „Es hat Jahre gedauert, die bürokratischen Hürden auszuräumen und Bedenken zu zerstreuen.“ Solange musste Staub improvisieren. Die Zeit nutzte er, um Routen auszuarbeiten. Heute weiß er, in welchen Bars Ernest Hemingway seine Cocktails trank (Mojitos im „La Bodeguita“, Daiquiris im „La Floridita“). Wo man die versteckten Buden findet, die ihre Bierpreise im heimischen Peso cubano statt im touristischen Peso convertible angeben. Und wo die verlassenen, zugewucherten Fabrikantenpaläste liegen, deren Wärter seine Gruppen für ein Trinkgeld hineinlassen.

Die Schattenseite der kubanischen Revolution

Besonders beliebt in den Abendstunden: die kilometerlange Uferpromenade Malecón.
Besonders beliebt in den Abendstunden: die kilometerlange Uferpromenade Malecón.
© imago/imagebroker

Jeder Stadtteil Havannas steht für ein bewegtes Jahrhundert. Da ist das im barocken und neoklassizistischen Stil erbaute Althavanna, wo Teile der Straße mit Holz ausgelegt sind, weil der Gouverneur den Hufschlag auf dem steinernen Boden nicht mehr ertrug. Hier, wo Kanonen zu Pollern umfunktioniert wurden und man sich in der Kulisse eines Piratenfilms wähnt, erobern zunehmend Kleinunternehmer die Straßenzüge. Tattoo-Shops und Modeboutiquen gibt es. Oben auf den Dächern planschen Hotelgäste in den Pools der ersten Luxushotels. Unten in den Straßen belagern Pulks junger Kubaner die raren W-Lan-Hotspots. Seit Kurzem gibt es 3G-Internet für Mobiltelefone. Doch die Kosten für einen Vertrag übersteigen das durchschnittliche Monatseinkommen eines Staatsbediensteten, das bei 30 Euro liegt.

Mittagspause. Meer. Mojito. In der prallen Sonne fällt der Blick auf die Schattenseite der kubanischen Revolution, von der die Souvenirhändler lieber schweigen. Fortaleza de San Carlos de la Cabaña – jene Festung, die seit Mitte des 18. Jahrhunderts die enge Einfahrt zur Bucht von Havanna bewacht. Nachdem die Guerillatruppen der „Bewegung des 26. Juli“ sie besetzt hatten, richtete Che Guevara seinen Amtssitz als Oberkommandant der Revolutionstribunale hier ein. Innerhalb der Mauern der Festung ließ er Hunderte mutmaßliche Kollaborateure des alten Regimes erschießen.

Zurück auf dem Sattel geht es vorbei am Taganana-Hügel. Dort, von wo einst Kanonen die Einfahrt in den Hafen schützten, steht seit 1930 das legendäre Hotel Nacional. Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir kehrten ebenso ein wie Frank Sinatra, der hier 1946 auf einer Gala-Party vor Mafia-Bossen sang. Das Nacional ist ein architektonisches Überbleibsel jener Zeit, als Gangster mit Glücksspiel und Prostitution vergnügungssüchtige Amerikaner nach Kuba lockten. In den 50er Jahren produzierte Havanna damit größere Einnahmen als Las Vegas.

Reisende lieben den morbiden Charme der Stadt

Aus dem opulent angelegten Park lassen sich die Oldtimer in knalligen Bonbonfarben und mit offenem Verdeck an der Uferpromenade am besten beobachten. Umgerechnet 80 Euro kostet eine Stunde Nostalgiegefühl auf den weißen Ledersitzen für Touristen – das doppelte Monatsgehalt eines kubanischen Arztes. Es sind solche Verdienste, wegen der Hunderttausende Kubaner mittlerweile im touristischen Sektor aktiv sind, private Unterkünfte eröffnen und Restaurants betreiben. Längst ist Havanna eine Stadt der Kulinarik und Drinks, obwohl sich die meisten Stadtbewohner kein Mineralwasser im Café leisten können. Und das in einer Gesellschaft, deren oberster Anspruch Gleichheit und Gerechtigkeit ist.

Schlussetappe auf dem Rad: Die kilometerlange Küstenstraße, der Malecón, besonders beliebt in den Abendstunden, wenn die Sonnenuntergänge ein violettes Farbenspiel in die Karibik zaubern und Teenager auf der Ufermauer knutschen. Die salzige Meeresluft hat sich in die Bausubstanz gefressen. Halb eingestürzte Häuser, in denen rostige Stahlträger über Schuttberge ragen. Leere Fensterhöhlen starren aufs Meer. Fassaden wie Schneckenhäuser, aus denen das Leben längst gewichen ist. Reisende mit Kameras warten auf einen Schnappschuss vor der morbiden Kulisse. Havanna ist wohl eine der wenigen Städte, deren Weltruf sich mit zunehmendem Verfall verfestigt.

Mühelos rollen die dicken Reifen des Fahrrads über Glasscherben und Bauschutt der Seitenstraßen – über die sozialen Differenzen einer Stadt hinweg. Hier ist das Leben auf die Straße gekehrt. An mancher Stelle reicht der Blick der Passanten durch entglaste Fenster geradewegs bis ins Schlafzimmer.

Zurück nach Vedado. Staubs Zigarrenstummel hat die Tour überstanden. Nicht aber der blasse Teint der westeuropäischen Winterhaut. Der Tag hat sich nicht nur in die Epidermis eingebrannt. Die Lokomotive der Revolution mag auf Kuba entgleist sein. Die Räder der Geschichte Staubs drehen sich weiter. Wenn denn die Akkus am nächsten Morgen wieder geladen sind.

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