Empty-Nest-Syndrom: Anfang 50 - und plötzlich allein
Mit 21 heiratete sie, zog zwei Töchter groß. Jetzt ist sie 52 Jahre alt. Die Kinder sind aus dem Haus, der Mann verließ sie. Von der schweren Aufgabe, sich in der Mitte des Lebens selbst neu zu finden.
Während ihre Tochter auf dem Weg ans andere Ende der Welt ist, sitzt Christine Tiemann (Name von der Redaktion geändert) am Computer und fliegt mit. Sie weiß die Flugnummer, schaut immer wieder nach, wo ihr Kind ist. Listet der Flughafen in Seoul schon die Maschine? Landet sie pünktlich? Geht der Anschlussflieger in die Luft? Was es wohl bedeutet, wenn nicht. Ob sie nicht mal aufstehen möchte, fragt ihr Mann. Ob das, was sie macht, nicht übertrieben ist. Gut, sagt sie. Beim Zwischenstopp in Südkorea legt sie sich kurz hin.
Das ist jetzt sieben Jahre her. Christine Tiemann, 52, Zahnarzthelferin, sitzt in ihrer Küche und schaut hinaus in den Park. Als sie damals ihr erstes Kind ziehen lassen musste, wohnte sie noch auf der anderen Seite der Bäume. Wo sie für vier Personen die Wäsche gemacht hat und nicht nur für sich. Natürlich, sagt Christine Tiemann, hat sie ihrer Tochter das Abenteuer gegönnt. Damals in Australien, später in Rumänien und Ägypten. Sie freute sich für ihre Einser-Abiturientin. Die Weltenbummlerin. Wie gern hätte sie gesagt, bleib doch. Stattdessen sagte sie: „Geh! Mach deine Erfahrungen!“
Wobei das mit dem Loslassen nicht abrupt kam. Es geschah ganz langsam. Irgendwann machten ihre beiden Töchter beim Telefonieren die Tür zu und flüsterten, wenn sie über den Flur gingen. Sie brachten Jungs mit, die sie ihren Freund nannten, hatten Liebeskummer, verliebten sich wieder. Trotzdem war es hart, als die Älteste den Koffer packte. Und ging. Keine nassen Handtücher lagen mehr über dem Küchenstuhl, kein benutzter Teller stand auf dem Tisch. Christine Tiemann hatte das Gefühl, ihre Rolle als Mutter, ihre Aufgabe verloren zu haben.
"Es sollte normal sein, dass Eltern etwas trauern"
Wenn Kinder das Haus verlassen, genießen manche Eltern die zurückgewonnene Zeit. Andere rutschen in eine Sinnkrise. In den 60er Jahren fanden amerikanische Soziologen einen Begriff dafür: Das Empty-Nest-Syndrom. Die Forscherin Elizabeth Bates Harkins schrieb Anfang der 70er, das Syndrom setze nach dem Auszug des letzten Kindes ein und dauere anderthalb bis zwei Jahre. Familienforscher wie Georgios Papastenfanou differenzierten den Begriff aus. Er spricht vom „Pre-Empty-Nest“, wenn der Ablösungsprozess zu Hause beginnt, vom „Partial-Empty-Nest“, wenn die Kinder in der Nähe studieren und am Wochenende nach Hause kommen, und vom „Post-Empty-Nest“, wenn sie ganz ausgezogen sind. Entwicklungspsychologisch zählt der Auszug des Kindes zu den normalen Übergängen im Leben. Schlafen Eltern deswegen schlecht, werden depressiv, haben sie eine Anpassungsstörung.
Wie viele Frauen und Männer betroffen sind, ist schwer zu sagen. Bei ihren Patienten hört die Heilpraktikerin Bettina Teubert oft Symptome vom Empty-Nest-Syndrom heraus und kennt sie aus eigener Erfahrung. Als ihre Kinder ihr Leben vor ein paar Jahren in Kisten packten, war sie stolz, aber auch traurig. Sie fragte sich, warum es ihr so schlecht ging und gründete in Berlin die erste Selbsthilfegruppe ihrer Art: die Empty Nest Moms. Zwar leiden auch Männer, aber sie reden weniger darüber. „Dabei sollte es normal sein, wenn Eltern etwas trauern“, sagt sie.
Was Christine Tiemann den Abschied bei der ersten Tochter noch erträglich machte, war, dass die Jüngere noch da war. Die, die immer noch nicht weiß, was sie einmal werden will. Die in der Mall einkaufen geht statt im Second-Hand-Laden. Die nicht so rastlos ist, sondern in Berlin bleiben möchte. Als sie vor zwei Jahren auch ging, hatte ihre Mutter einen Nervenzusammenbruch.
Christine Tiemann braucht einen Moment, bis sie weiter spricht. Vermeidet den direkten Blickkontakt. Das Loslassen ihrer Töchter war das eine. Aber es kam noch etwas anderes hinzu. Kurz davor kam Christine Tiemann von einer Kur nach Hause und freute sich, ihren Mann zu sehen. Zum ersten Mal hatte er ihr Blumen geschickt, und ein Gedicht geschrieben, in dem stand, wie sehr er sie vermisst. Einen Tag später wollte er, dass sie sich setzt. Er sagte ihr: „Es tut mir Leid, aber ich habe mich verliebt. Ich möchte die Trennung.“ Nach 28 Jahren.
Das Gefühl, überflüssig zu sein
Für eine Weile fuhr sie zu Freunden nach Magdeburg. Am Telefon sagte ihre jüngere Tochter, sie habe ihrer Mutter einen Brief geschrieben. „Im Brief stand, dass sie mich sehr liebt“, erzählt Christine Tiemann mit bebender Stimme. „Aber dass sie sich entscheiden muss und sie sich für ihren Vater entschieden hat.“ Sie wischt sich mit dem Taschentuch ein paar Tränen von der Wange, schaut wieder aus dem Fenster. Hinüber zum Park, der zwischen ihr und ihrem alten Leben liegt. Das nicht perfekt war, aber sicher schien.
Als ihre jüngere Tochter im vorletzten Spätsommer auszog, war Christine Tiemann nicht da. Es war für sie schon schlimm gewesen, als die erste Tochter ihre Möbel mitgenommen hatte. Nur ein Schrank blieb, ihr Fernseher, ein paar ihrer Bücher und Bilder. Noch einmal wollte sie nicht sehen, wie das Zimmer, in dem ihr Kind erwachsen wurde, leerer und leerer wird. Abends kam Christine Tiemann wieder und war allein in dieser ausgeräumten, stillen Wohnung. Sie musste für niemanden mehr kochen, waschen, aufstehen. Also tat sie es nicht.
So viele Jahre war sie Mutter gewesen, weckte die Kinder morgens, pflegte sie gesund, wenn sie krank waren. Wer war sie jetzt ohne das? Weil dieses Gefühl, überflüssig zu sein, nicht weggehen wollte, ging Christine Tiemann in eine Tagesklinik und später zum Verein „Silberstreif“ in der Kreuzberger Bergmannstraße. Hier treffen sich Frauen wie sie. Die vom Leben überfordert sind.
In der Selbsthilfegruppe lernte Christine Tiemann, ihre Rolle neu zu bestimmen. Besonders schwierig war es für die Teilnehmerinnen, die zu Hause geblieben waren und sich immer nur über die Erziehung der Kinder identifiziert hatten. Wie lange die Frauen zu den Treffen kommen? „Die meisten gehen nach ein bis zwei Jahren“, sagt Karin Blana, Geschäftsführerin des Vereins. Stark genug seien sie, wenn sie zur gleichen Zeit einen Tangokurs gefunden haben, zu dem sie lieber hingehen.
Die Wand in dem Gesprächsraum ist gelb, die Kissen auf dem dunklen Sofa weiß-rot gemustert. Decken liegen gefaltet daneben. Auf dem Tisch steht eine Box mit Papiertüchern. „Viele Frauen haben in dieser Phase Angst, nicht mehr gebraucht zu werden“, sagt Karin Blana. Bei manchen käme hinzu, dass es ihnen zeigt, dass sie älter werden. Oder mit dem Auszug der Kinder scheitert die Ehe. Aus Partnern sind mit der Zeit Elternpaare geworden, die abends, müde vom Tag, nur noch über den Elternsprechtag reden. Dann sitzt man auf einmal wieder zu zweit am Tisch und der andere kommt einem so fremd vor. „Seine freie Zeit zusammen zu genießen, kann schön sein“, sagt Karin Blana. Oder enttäuschend.
Sie hat mit dem Rauchen angefangen
Dazu kommt das Halbzeitdenken: Wo stehe ich im Leben? Wo will ich noch hin? Ich bin um die 50. Hab ich was verpasst?
Christine Tiemann blieb fast ein Jahr in der 120 Quadratmeter großen Eigentumswohnung, in der sie mit ihrer Familie lebte. Dann zog sie aus. Was sollte sie mit so viel Platz? Mit zwei Badezimmern. Mit all diesen verlassenen Räumen. In die einstigen Kinderzimmer ist sie bis zuletzt nie wieder hinein gegangen.
Hier in ihrer neuen Wohnung in Wedding ist es ruhiger, aufgeräumter – aber auch nicht mehr so lebendig. Christine Tiemann fehlt das Kuscheln, das Streiten um den Abwasch, die laute Musik. Wenn ihre Töchter heute kommen, ist es ihr egal, wenn sie etwas liegen lassen. Worüber sie jetzt diskutieren, ist, warum die Mutter raucht.
Es hat sich vieles verändert. Früher saß Christine Tiemann jeden Abend mit ihrer Familie am Küchentisch, am Wochenende auch zum Frühstück. Das war ihr wichtig. Ihr Tag hatte einen Rhythmus, ihre Woche eine Struktur. Am Esstisch sah sie den anderen an, ob es ihnen gut ging oder ob sie nur so taten. „Ich wusste nicht alles, aber ich kannte ihren Alltag und die Freunde, die sie trafen.“ Wenn sie heute mit ihren Töchtern telefoniert, sind da nur irgendwelche Namen.
Hinter Christine Tiemann hängt ein Bild aus dem Fotoautomaten am Kühlschrank. Von ihr und ihren Töchtern. Sie lachen. Schneiden Grimassen. Sehen glücklich aus.
Die neue Mama
Den Raum, den die ausgeflogenen Kinder eingenommen haben, füllen Eltern oft mit einem Haustier oder Projekt. Das Kinderzimmer wird zum Atelier. Christine Tiemann ging nach der Arbeit in der Zahnarztpraxis zur Kosmetikerin und Fußpflege. Wollte ihre Freizeit füllen und sich schön fühlen. Momentan probiert sie das Walken für sich aus, verreist oft, besucht Freunde.
Im Frühjahr lud Christine Tiemann ihre Töchter, die sie „ihre Mädels“ nennt, zu einem Wellness-Wochenende in Warnemünde ein. Sie holt ihr Handy heraus und zeigt ein paar Fotos. In weißen, flauschigen Bademänteln sitzen die drei Frauen gemeinsam auf einem Hotelbett und stoßen mit Sektgläsern an. Es sind Erinnerungen an gute Tage.
Seitdem es Christine Tiemann wieder besser geht, hat sich das Verhältnis zu ihren Töchtern entspannt. Mit ihrer Jüngeren fing sie an, sich einmal die Woche zu treffen, um eine Serie zu schauen. Ihrer älteren Tochter sagte sie, dass die sich keine Sorgen mehr machen muss. Dass sie schon klar kommt, ohne Gezanke und Butterbrotdosen. Statt an dem Wellness-Wochenende mit schwimmen zu gehen, legte sich Christine Tiemann auf eine Liege. Las ein Buch. Das Wasser war ihr zu kalt. In der Scheibe sah sie, wie ihre Töchter sie beobachteten. So wie sie da saß, ganz still. Ob alles in Ordnung sei, wollten sie wissen. So ganz haben sich ihre Töchter noch nicht an die neue Mama gewöhnt.
Nach einem Strandspaziergang sollten ihre Töchter schon einmal zum Hotel vorgehen. Die Mutter wollte noch einen Moment bleiben, aufs Meer gucken, allein. Als Christine Tiemann mit 21 Jahren ihr Zuhause verließ, zog sie direkt zu ihrem Mann. Jetzt, mit über 50, hat sie lernen müssen, allein zu sein.