Schauspieler Jeremy Irons: "Amerikanische Filme sind wie Huren"
Er spielt den Schurken nicht nur: In ihm stecke ein kleiner Bösewicht, sagt Jeremy Irons. Der Oscarpreisträger über sein Leben und das Altwerden.
Mr. Irons, ist es wahr, dass Sie ursprünglich zum Zirkus wollten?
Ja, das stimmt. Ich war auf einem stockkonservativen, sehr strengen Internat, das uns Schüler auf eine Laufbahn beim Militär oder in der Finanzwelt vorbereiten sollte. Aber die Aussicht, eine Karriereleiter hinaufzukriechen und jeden Tag von neun bis fünf zu schuften, bis man tot umfällt, war der Horror für mich. Das kam mir vor wie eine lebenslängliche Haftstrafe. Ich wollte ein freies Leben führen, nicht gefangen sein in irgendeinem Büro.
Und da haben Sie sich beim Zirkus umgesehen?
Ja, ernsthaft! Im Zirkus und auf Jahrmärkten. Als ich jedoch sah, wie erbärmlich die Leute dort hausten, dachte ich: „Dazu bin ich wohl doch zu bourgeois und zu verwöhnt.“ Daraufhin ging ich zum Theater, stellte fest, dass mir die dortigen Unterkünfte wesentlich mehr behagten, und verliebte mich sofort in die Atmosphäre, den Geruch, die Arbeitszeiten, den Menschenschlag, die Mädchen. Ich dachte, vielleicht sollte ich das Schauspielhandwerk erlernen.
Was hat Ihr Vater dazu gesagt?
Er machte sich Sorgen und meinte: „Das scheint mir keine besonders glückliche Zunft zu sein, diese Schauspieler lassen sich doch ständig scheiden! Aber wenn du es nicht wenigstens versuchst, wirst du es ewig bereuen und mich dafür hassen, dass ich dich nicht ermutigt habe.“ Er finanzierte meine Ausbildung an der Bristol Old Vic Theatre School. Während des Studiums zeigte ich übrigens nicht das geringste Talent. Ich konnte in Kostümen ziemlich dekorativ auf der Bühne herumstehen, doch das war’s auch schon. Meine Kollegen waren davon überzeugt, dass aus mir nichts werden würde.
Aber in den Folgejahren bekamen Sie längere Engagements an diversen Theatern.
Ja, und das war die denkbar beste Schule! Da durfte ich etwa innerhalb von zwei Monaten drei verschiedene Shakespeare-Rollen spielen. Seitdem weiß ich, dass man die entscheidenden Fähigkeiten nur in der Praxis erwirbt. Außerdem habe ich am Theater viele köstliche Dinge erlebt. Als Jungspund bei der Royal Shakespeare Company besuchte die belgische Königin Fabiola eine unserer Vorstellungen, und danach warteten wir alle auf sie. Ich hatte auf der Bühne bloß eine Nebenrolle gespielt, einen jungen Monarchen, doch Königin Fabiola kam quer durch den Raum schnurstracks auf mich zu und sprach 20 Minuten lang nur mit mir – vermutlich, weil ich im Stück den ranghöchsten Adeligen verkörpert hatte. Und die berühmten, altgedienten Ensemblemitglieder standen stocksauer herum und warfen mir giftige Blicke zu.
Kein Wunder, dass Sie mal gesagt haben, Sie hätten keine Freunde in der Schauspielerzunft.
Das war kein Witz! In meiner Freizeit bevorzuge ich die Gesellschaft von Musikern, Reitern oder Seglern. Nur mit zwei Kommilitonen von der Schauspielschule treffe ich mich ab und zu. Überhaupt war der Kontakt zu Kollegen in meiner Anfangszeit am Theater viel enger. Ich habe es sehr geschätzt, dass wir einander damals gegenseitig knallhart die Meinung sagen konnten: „Was wir da in der zweiten Szene gemacht haben, war totaler Müll! Das muss besser werden!“ So etwas vermisse ich oft beim Film. Insbesondere amerikanische Akteure reagieren empfindlich, wenn ich unverblümt meine Ansichten äußere. Es gibt löbliche Ausnahmen: Mit Meryl Streep oder Glenn Close, mit denen ich mehrmals gearbeitet habe, konnte ich stets einen ehrlichen Umgang pflegen.
Außer mit David Cronenberg und Bille August haben Sie mit keinem Filmregisseur zweimal gedreht. War das eine bewusste Entscheidung?
Nein, es wollte mich anscheinend bloß niemand ein zweites Mal engagieren! Ich bin ganz froh darüber: Die Arbeit mit einem neuen Regisseur ist meist ähnlich aufregend wie das Kennenlernen einer neuen Geliebten. Ein Fremder kitzelt oft etwas noch nie Dagewesenes aus dir heraus. Und genau das möchte ich: ausbrechen aus der Routine, mich neuen Herausforderungen stellen – auch auf die Gefahr hin, böse auf die Schnauze zu fallen. Denn wer nichts riskiert, wird nie Fortschritte machen. Leider ist das Filmbusiness extrem risikofeindlich.
"In mir steckt ein Schurke"
Hatten Sie das Gefühl, dass man versuchte, Sie auf einen bestimmten Rollentypus festzunageln?
Ja, schrecklich! Das ist der Fluch des Erfolges: Wenn etwas an der Kinokasse funktioniert hat, erwartet man von dir, das Rezept zu reproduzieren. Du liest die Drehbücher, die man dir anbietet, und denkst: „Verdammt, das habe ich doch alles schon gespielt!“ Ohne eine interessante neue Aufgabe ist die Filmerei eine stinklangweilige Angelegenheit. Darum habe ich mich mit Ende 40 eine Weile aus dem Beruf zurückgezogen: Ich fühlte mich unterfordert und angeödet. Sechs Jahre habe ich mein irisches Schloss renoviert.
Immer wieder sah man Sie in der Rolle des Bösewichts. Konnten Sie sich mit all diesen Fieslingen identifizieren?
In mir steckt ein kleiner Schurke – wie in jedem von uns. Wir alle lügen und schwindeln, mogeln uns durchs Leben und reagieren auf die Knüppel, die man uns zwischen die Beine wirft. Und wir alle glauben dabei stets, wir wären im Recht. So spiele ich auch einen sogenannten Bösewicht: wie jemanden, der denkt, er gehöre zu den Guten. Ich tauche gern in fremde Abgründe hinab.
Auf welche Ihrer Rollen sind Sie besonders stolz?
Auf die des Professors, der sich in ein junges Mädchen verliebt – in „Lolita“. Adrian Lynes provokante Romanverfilmung macht das, was jeder gute Film leisten sollte: die Zuschauer aufwühlen, irritieren, zum Nachdenken anregen. Ich hatte schon befürchtet, dass mich diese Rolle in den prüden USA zur Persona non grata machen würde. Darum sagte ich zu meinem Agenten: „Am besten handelst du eine Gage aus, von der ich drei Jahre leben kann, denn danach wird man mir wohl eine Weile nichts Vernünftiges mehr anbieten.“ Und so kam es dann auch.
Welchen Ihrer Filme bereuen Sie am meisten?
„Verhängnis“. Das ist eigentlich eine sehr kraftvolle Amour-fou-Geschichte, und ich meinte damals zu Regisseur Louis Malle: „Bei den Liebesszenen mit Juliette Binoche bin ich zu allen Schandtaten bereit, aber bleib bitte mit der Kamera dicht an uns dran.“ Denn so ist das beim Sex: Zwei Menschen sind einander extrem nah und sehen um sich herum nichts anderes mehr. Und wenn man nahe an den Protagonisten bleibt, kann man den Zuschauer mitten ins Geschehen hineinziehen, so wie bei meinen erotischen Szenen mit Meryl Streep in „Die Geliebte des französischen Leutnants“. Doch Louis ließ mit seiner unterkühlten Inszenierung bei „Verhängnis“ kaum Emotionen zu: Er zog sich mit der Kamera zurück, schaffte Distanz – und aus der Entfernung sieht Sex immer ein bisschen so aus wie ein lächerlicher Ringkampf. Das törnt die Zuschauer eher ab.
Verblüffend, dass dieser Film Sie so sehr reut – und nicht etwa einer jener, die, wie soll ich sagen …
… Sie meinen, eines jener Machwerke, bei denen man sich fragt: Warum zum Teufel hat er da mitgespielt? Ach was! Bei diesen Projekten wusste ich genau, worauf ich mich einlasse. Und ich sage Ihnen: Auch ein geradezu unverschämt mieser Film wie „Dungeons & Dragons“ war es wert – schon allein wegen meiner geradezu unverschämt hohen Gage. So ein irisches Schloss ist verdammt teuer im Unterhalt! Natürlich würde ich mir ein Superhelden-Spektakel wie „Batman v Superman“ nie freiwillig ansehen. Bei solchen Filmen hoffe ich, dass sie meinen Bekanntheitsgrad steigern, ohne meiner künstlerischen Reputation allzu sehr zu schaden. Denn dank meines Star-Status kann ich wieder dabei helfen, interessantere Filme zu finanzieren.
So etwas wie die Dystopie „High-Rise“?
Genau. Ich fragte eines Tages den Produzenten Jeremy Thomas: „Warum bietet mir nie jemand einen Part in einem englischen Independent-Film an?“ Jeremy meinte: „Du bist zu teuer.“ Ich entgegnete: „Das ist bescheuert, wenn mir nur deshalb die schönsten Rollen entgehen!“ Daraufhin schlug er mir die James-G.-Ballard-Adaption „High-Rise“ vor. Dann kam das Angebot zu dem JesseOwens-Biopic „Zeit für Legenden“: gutes Drehbuch, netter Regisseur, schön gefilmt – ich dachte, das könnte sogar ein Erfolg werden, zumal der Film kurz vor den Olympischen Sommerspielen anläuft. Unmittelbar anschließend habe ich „Die Poesie des Unendlichen“ gedreht; da fand ich nicht nur die Story sehr reizvoll, sondern auch, dass ich an der Seite von Dev Patel agieren sollte. Es kann ja nicht schaden, wenn ich dadurch auch in dessen Heimat Indien ein bisschen bekannter werde!
Was ist für Sie der Unterschied zwischen amerikanischem und europäischem Kino?
US-Filme sind wie Huren. Man bekommt, was man will, verschwindet, das war’s. Europäisches Kino ist wie eine große Liebe: Sie macht nicht alles, was du willst, aber wenn du fortgehst, kannst du es kaum erwarten, sie wiederzusehen.
"Älterwerden ist fabelhaft"
Als Sie beim Filmfestival von Marrakesch für Ihr Lebenswerk ausgezeichnet wurden, sagten Sie in Ihrer Dankesrede, das Kino könne zwischen den verschiedenen Kulturen vermitteln.
Das ist meine tiefste Überzeugung. Ich glaube nicht, dass Filme die Konflikte auf der Welt lösen. Aber sie können zum gegenseitigen Verständnis beitragen und Vorurteile abbauen. Voraussetzung ist natürlich, dass man überhaupt dazu bereit ist. Ich war schon dreimal beim Festival in Marrakesch – doch so gut wie nie habe ich dort jemanden aus Hollywood getroffen. Amerikaner haben offenbar eine diffuse Angst vor der arabisch-afrikanischen Welt. Sie sind wie nervöse Schnecken, die sich bei der kleinsten fremden Berührung in ihr Häuschen zurückziehen. Das Weltbild der meisten Amerikaner sieht ungefähr so aus: Sie wissen nicht genau, wo sich Europa befindet, und von Afrika glauben sie nur zu wissen, dass es irgendwie unterhalb von Europa liegt und lebensgefährlich ist, weil es dort von Moslems und Ebolaviren wimmelt.
Hatten Sie keine Vorurteile gegenüber der arabisch-afrikanischen Welt?
Wenn ich je welche hatte, dann habe ich sie spätestens verloren, als ich meinen ersten Film in Marokko drehte: „And now … Ladies and Gentlemen ...“ mit Patricia Kaas. Seitdem liebe ich dieses Land. Besonders genieße ich es, mich durch die Souks treiben zu lassen und dort mit den Händlern zu feilschen. Da kommt es vor, dass ich mit einem Schmuckkästchen, einem Kopfkissenbezug und zwei Teppichen ins Hotel zurückkehre.
Finden sich in Ihrer Garderobe auch traditionelle marokkanische Kleidungsstücke?
In Fez wollte ich mir einmal eine blaue Tuareg-Dschellaba besorgen, doch es gab überall nur welche, die mir viel zu knallig in der Farbe waren. Plötzlich sah ich auf der Straße einen stattlichen Mann in einer ehemals wohl dunkelblauen, aber nun bereits extrem ausgebleichten Dschellaba. Als er an mir vorbeiging und dabei wunderbar nach Orangenöl duftete, fragte ich ihn, ob ich ihm sein Gewand abkaufen dürfte. Er meinte: „Es ist aber schon sehr alt.“ Er verschwand kurz im Gassengewirr, kam zurück in einem weißen Polyester-Gewand und überließ mir, glücklich lächelnd, seine alte Dschellaba.
Haben Sie sie je angezogen? Vielleicht nicht in der Öffentlichkeit, aber in Ihrem irischen Domizil?
Ja, ich habe sie jahrelang getragen, ohne sie je zu waschen, weil ich den Orangenduft so sehr liebte. Schließlich wusch ich sie doch, fand das aber im Nachhinein geradezu beschämend.
Wenn Sie zurückblicken: Inwiefern haben Sie sich seit Ihren beruflichen Anfängen verändert?
Meine äußerliche Verwandlung wurde mir schmerzlich bewusst, als ich jüngst erneut „Mission“ aus dem Jahr 1986 gesehen und mich kaum wiedererkannt habe. Was meine Persönlichkeit betrifft, bin ich heute toleranter als früher. Es fällt mir leichter, die diversen Macken der Menschen zu akzeptieren, weil ich selbst so viele verschiedene Typen mit Fehlern gespielt habe. Ich kann es bloß nicht leiden, wenn Leute die Möglichkeiten nicht nutzen, die ihnen das Leben bietet.
Ihr Sohn Max ist in Ihre Fußstapfen getreten und hat die Schauspiellaufbahn eingeschlagen. Welchen Rat haben Sie ihm gegeben?
Ich habe zu ihm gesagt: „Tu’s nicht. Die meisten Schauspieler finden kaum Arbeit und krebsen am Existenzminimum herum.“ Aber es war stets Max’ große Leidenschaft, und man sollte seine Kinder ermutigen, ihre Träume zu verwirklichen. Als Vater kann ich seine Leistungen nicht objektiv beurteilen, doch viele Leute bestätigen mir, Max sei wirklich gut – und er scheint auch noch glücklich dabei zu sein. Dabei hat er es sicher nicht leichter als ich. Denn ich konnte damals meine Anfängerfehler vor einem relativ kleinen Publikum im Theater machen. Wenn Sie heute als Darsteller vor der Kamera Mist bauen, kriegt das gleich die halbe Welt mit.
Haben Sie Angst vor dem Alter?
Nein, Älterwerden ist fabelhaft – wenn man mal davon absieht, dass einen der Rücken mehr und mehr plagt. Man hat den Erfolgszwang der Jugend abgelegt. Der Tod schreckt mich nicht. Er zeigt bloß, wie wichtig das Hier und Jetzt ist. Das ist auch einer der Hauptgründe für meine Motorradleidenschaft. Motorradfahren schärft die Sinne: Du bist dir ständig der Gefahr bewusst, du darfst nie nachlassen in deiner Konzentration, doch du nimmst auch alles andere um dich herum viel intensiver wahr – die Luft, die Düfte, die Klänge. Risiko ist eine Extraportion Leben!
Marco Schmidt
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