Vladimir Nabokov: Lolita bleibt die Beste
Roman-Puzzle in 138 Teilen: „Das Modell für Laura“, Vladimir Nabokovs unvollendetes letztes Werk.
Hilfe, ich heiße Lolita“. Mit diesem Klageruf beginnt ein Artikel der BBC-News über die Nöte von Frauen, die mit Vladimir Nabokovs berühmter Romanfigur den Vornamen teilen. Anzügliche Komplimente, missbilligende Blicke: Wer seine Tochter Lolita nennt, tut ihr wahrlich keinen Gefallen. Ob als Männerfantasie oder Leidensikone – seit Nabokovs skandalträchtigem Roman ist Lolita zum Synonym für die verbotene Sexualisierung junger Mädchen geworden. Erst kürzlich musste die Kaufhauskette Woolworth das Kinderbett „Lolita“ aus dem Verkehr ziehen, nachdem empörte Eltern Sturm gelaufen waren. In den USA, wo die Angst vor dem Kindsmissbrauch zur nationalen Obsession geworden ist, wird der einst beliebte Name heute kaum noch vergeben.
Müssen nach den Lolitas nun auch die Lauras fürchten, dass ihr Name durch eine von Nabokov geschaffene Heldin in Misskredit gebracht wird? Unter dem Titel „Das Modell für Laura“ ist jetzt Nabokovs unvollendetes letztes Werk erschienen, und das Getöse, das der Publikation vorausging, ließ in der Tat vermuten, dass uns der Meister nach seinem Jahrhundertroman postum auch noch den Roman fürs neue Millennium bescheren würde. Ein heißeres Eisen als Lolita, noch skandalöser, was den Sex betrifft, raunten die Feuilletons. Auch sonst wurde mit Superlativen nicht gespart. Nirgends sei Nabokovs Virtuosität in destillierterer Form zu bewundern, schwärmte sein Sohn Dmitri; sein Biograf Brian Boyd verhieß ein Werk, kühner als alles zuvor, mit noch nie da gewesenen Kunstgriffen.
Und erst die Geschichte von Lauras Beinahe-Vernichtung! Der todkranke Autor gibt den Befehl zur Zerstörung des Manuskripts. Der Sohn lässt es in einem Schweizer Banksafe verschwinden. Den Ort kennen nur er und ein Ungenannter. Doch in Lauras Gruft kehrt keine Ruhe ein. Dmitri Nabokov führt sie aus, gibt unerwartete Einblicke in ihre Schönheit, gewährt Auserwählten für ein Stündchen Zutritt. Mal verspricht er Laura endlich freizulassen, mal droht er sie anzuzünden. Die Gemeinde der Nabokovianer verfolgt es gebannt. Kurzum, ein Literaturagententhriller, vor dem Lolitas Schicksal (vom Autor fast verbrannt, vom Publikum als Schmuddelkind verkannt) jäh verblasst.
Nun ist es also in der Welt, Nabokovs letztes Werk, und vorab sei gesagt: Eltern können ihre Töchter ruhig weiter Laura nennen. Die Aufregung um „Das Modell für Laura“ wird rasch verpuffen. Vielleicht war der Roman, den der sterbende Nabokov fertig in seinem Kopf trug, wirklich ein Meisterwerk von der Sprengkraft einer „Lolita“. Das, was uns nun auf 138 Karteikarten und ein paar Notizzetteln vorliegt, ist es nicht. Es ist auch kein Roman, wie der Verlag auf dem Umschlag behauptet, ja nicht einmal ein „Roman in Fragmenten“, wie die amerikanische Ausgabe vorsichtiger formuliert.
Eingefleischten Nabokov-Fans mag die umrisshaft zu erahnende Geschichte vom fetten Neurologen Philip Wild und seiner mageren Gattin Flora freudiges Wiedererkennen bereiten. Es ist alles dabei: die Ehemisere eines sensiblen Mannes (Philip) mit kalter, notorisch treuloser Gattin (Flora), Kindsmissbrauch und Selbstzitat (die Nymphomanin Flora war als Mädchen eine Nymphette und wurde von einem lüsternen Hubert H. Hubert betastet), das Buch im Buch (ein Ex-Geliebter macht Flora zur Heldin seines Schlüsselromans) und natürlich Schach (Floras Miniaturbrett wird von Steckfiguren penetriert). Kurzum: Der Karteikasten bietet genug Material, um daraus gleich einen Nabokov im Quadrat zu basteln. Titelvorschlag: „Lushins fahle Verteidigung“ oder „Einladung zur Enthauptung Lolitas“.
Genau zu solcher Bosselei regt der Verlag an. Neben der Leseausgabe bringt Rowohlt auch eine „Luxusedition“ auf den Markt, der die 138 Karteikarten als Faksimiles beiliegen. Zitat: „Was läge näher, als sich seine eigene Laura zusammenzupuzzeln? Die Karten sind verteilt, das Spiel kann beginnen. Do it yourself!“
Vladimir Nabokov wäre solch plattes Marketing zuwider gewesen – schon bei „Lolita“ verbat er sich ausdrücklich jede reißerische Aufmachung. Das Angebot eines Roman-Puzzles in 138 Teilen, das geschickt zusammengesetzt einen echten Nabokov ergibt, schlägt der Kunstauffassung dieses Autors ins Gesicht. Im Roman „Das Bastardzeichen“ schildert Nabokov den Aufstieg des Diktators Paduk, für den der Mensch nicht mehr ist als die Summe austauschbarer Teile. Entsprechend auch der Kunstgeschmack des sinistren Herrschers: Am liebsten liest er eine beliebig reproduzierbare Comic-Serie über die Familie Jedermann. Und schon als Kind betreibt Paduk eine Kopiermaschine, die jede individuelle Handschrift perfekt zu imitieren vermag: Vorbotin einer Welt, aus der alle Originalität endgültig vertrieben ist.
Der Baukasten für Laura wäre das ideale Weihnachtsgeschenk für Herrn Paduk! Aber zum Glück bietet „Das Modell für Laura“ doch etwas mehr, als es ein „Do it yourself“-Nabokov zuwege brächte. Stellenweise blitzt auch hier jene unnachahmliche Sprachkunst auf, die wir aus Nabokovs großen Werken kennen. Wie er den Weg eines Romans auf der Bestsellerliste als alpine Kletter- bzw. Rutschpartie beschreibt, wie er den Liebesakt der Eheleute Wild schildert (eine freudlose Prozedur!) oder Philips Abscheu vor seinem Bauch, diesem „Koffer voller Gedärme“ – solche Karteikarten möchte man in der Tat heraustrennen und wiederlesen. Auch die Passagen, in denen der Held mit dem körperlichen Verfall ringt, sind von beklemmender Intensität. Durch eine Technik mentaler Selbstauslöschung will Philip Wild dem Tod selbst das Heft aus der Hand nehmen: ein Pyrrhussieg des Bewusstseins, das am Ende den Kürzeren ziehen muss.
Dem sterbenskranken Nabokov lag viel an seinem letzten Roman: Im Krankenhaus zu Lausanne trug er ihn immer wieder einem „Traumpublikum“ vor, zu dem neben seinen toten Eltern auch Pfauen, Tauben und zwei Zypressen zählten. Dass Dmitri Nabokov den Wunsch seines Vaters, die Entwürfe zu zerstören, sollte er das Buch nicht mehr zu Ende bringen, missachtete, ist verständlich. Aber wozu der Etikettenschwindel vom großen, fast vollendeten Werk? Das hat Nabokov ins Grab mitgenommen. Wie eifrig wir an Laura herumpuzzeln mögen, an das Original kommen wir nicht heran.
Vladimir Nabokov: Das Modell für Laura. Romanfragment. Hrsg. von Dmitri Nabokov. Aus dem Englischen von Dieter E. Zimmer, Ludger Tolksdorf. Rowohlt, 2009. 319 Seiten, 19,90 €.
Bettina Kaibach
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