Zwischen Deutschland und Frankreich: Als das Saarland mit Paris flirtete
Die Flagge blau-weiß-rot, der Franc als Währung. Nach dem Zweiten Weltkrieg war das Saarland unabhängig, stand aber unter französischem Einfluss. Die komplizierte Liebe ist bis heute spürbar.
In der Bahnhofstraße, der zentralen Einkaufsmeile, fühlt es sich manchmal so an, als hätte man die Grenze schon hinter sich gelassen. Zum Beispiel in der „Brasserie Saarbrücken“. Wie an vielen Stellen der saarländischen Hauptstadt trifft man hier auf Tagestouristen aus Lothringen. Sie stehen an der Holztheke, Biergläser in der Hand, und unterhalten sich auf Französisch.
Auf die Nähe zum westlichen Nachbarn sind sie stolz an der Saar. „Le Charme du Saarland“ verspricht ein Prospekt der Tourismuszentrale. Stundenlang vorm Café sitzen und Baguette kaufen, das konnten sie schon, als beides anderswo in Deutschland noch zu den exotischeren Beschäftigungen zählte.
Man gehörte schließlich fast mal zu Frankreich. Erst 1957, vor 60 Jahren, wurde das Saarland Teil Westdeutschlands, als elftes Bundesland (Berlin mit eingerechnet). Davor hatte zehn Jahre lang ein Saarstaat existiert, der pro forma unabhängig war, tatsächlich aber unter starkem französischen Einfluss stand. Seine Flagge war blau, weiß und rot, die Farben der französischen Trikolore. Zwischen Merzig und Kleinblittersdorf zahlte man damals mit Franc-Scheinen, auf den Straßen fuhren Renault 4CV statt VW Käfer, und der 1. FC Saarbrücken spielte zwischendurch in der zweiten französischen Liga.
Was ist geblieben aus dieser Zeit?
Stadtführer Roland Schmitt führt zum „Schmalen Handtuch“. Hoch und schlank steht das Gebäude neben der später errichteten Stadtautobahn, auf der die Autos vorbeidröhnen. Der elegante 50er-Jahre-Bau aus Beton, Stahl und Fertigteilen ragt nicht nur wegen seiner Größe heraus, er ist eine Ikone in einer Stadt mit viel Gebrauchsarchitektur. „Hier war ursprünglich die französische Botschaft untergebracht“, erklärt Schmitt, der für „Geographie ohne Grenzen“ arbeitet, eine Organisation, die alternative Führungen in der Region anbietet.
Später folgte das saarländische Kultusministerium, momentan ist das Gebäude sanierungsbedürftig. „Sein Architekt Georges-Henri Pingusson, wollte eigentlich noch viel mehr, nämlich das durch den Zweiten Weltkrieg schwer zerstörte Saarbrücken komplett neu aufbauen.“ Eine Saar-Metropole im Stile des mouvement moderne hatte der Anhänger von Le Corbusier im Sinn. Die letztlich gescheiterten Pläne waren bereits sehr detailliert. „Mit der Architektur versuchten die Franzosen Zeichen zu setzen: für die Entnazifizierung wie für die Bindung an Frankreich.“
Die Franzosen kamen 1945 im Gefolge der US-Armee an die Saar, zwei Jahre blieben sie als Besatzer, danach wollten sie gerade in dieser Rolle nicht mehr wahrgenommen werden. Man wollte die Herzen der Menschen gewinnen – anders als nach dem Ersten Weltkrieg.
Die Zollunion mit Frankreich brachte ein kleines Wirtschaftswunder
Von 1920 bis 1935 wurde das Saarland schon mal aus Deutschland herausgelöst. Als Mandatsgebiet des Völkerbundes zwar, aber auf Betreiben von Paris, das die örtlichen Kohlevorkommen ausbeuten durfte. Ziel in beiden Fällen: eine Schwächung Deutschlands, besonders seiner Rüstungsindustrie. Nur, dass die Franzosen es nun, beim zweiten Mal, besser und nachhaltiger anstellen wollten.
Es waren gute Jahre, mindestens zu Beginn. Dank der Zollunion mit Frankreich erlebte das Saarland ein kleines Wirtschaftswunder, noch bevor das große im Rest Deutschlands einsetzte. Um das zu begreifen, muss man nur die Ausstellung im „Historischen Museum Saar“ besuchen. Das 1988 eröffnete Haus ist am Schlossplatz, dem Herz von Alt-Saarbrücken, gelegen; ein Teil befindet sich unter dem barocken Schloss.
In der Abteilung über die Zeit nach dem Krieg hängen farbige Plakate, eines wirbt für Urlaub an den Plages de France. Zu sehen sind auch Leica-Kameras, damals speziell für den französischen Markt produziert, ein französischer Reisepass mit dem Eintrag Nationalité sarroise und eine alte Saarbrücker Ampel mit doppeltem Licht: einmal französisch (auf Augenhöhe) und einmal deutsch (weiter oben). Fotos erinnern ans saarländische Team bei Olympia und an die eigene Fußballnationalmannschaft. 1954 unterlag sie der DFB-Auswahl bei einem Länderspiel mit 1:3.
Reiner Jung, stellvertretender Direktor des Museums, ist selbst gebürtiger Saarländer, Jahrgang 1957, die französische Zeit kennt er nur aus Erzählungen. „Aber sie wirkte lange nach“, sagt er. Das lag vor allem an einer Volksabstimmung, die das Land für Jahrzehnte spaltete.
"Das zerriss ganze Familien"
Bundeskanzler Konrad Adenauer, bemüht um Versöhnung und Westintegration, hatte 1954 einen Kompromiss mit Frankreich ausgehandelt. Aus dem zwischen den beiden Staaten umstrittenen Gebiet sollte gemäß dem „Saarstatut“ eine europäische Region werden. Im Innern hätte sich das Saarland selbst regiert, für auswärtige Angelegenheiten und Landesverteidigung wäre ein europäischer Kommissar zuständig gewesen. Einige der Behörden, die jetzt in Brüssel oder Straßburg sitzen, gäbe es heute dann stattdessen in Saarbrücken. „Manche trauern dieser verpassten Chance noch immer nach“, sagt Jung.
Nur darüber, ob sie dem Statut zustimmen, wurden die Saarländer 1955 befragt. Gefühlt ging es eher um eine Entscheidung Richtung Bonn oder Paris. „Das zerriss ganze Familien, an den sonntäglichen Kaffeetafeln wurde heftig gestritten“, erzählt Jung. „In manchen Fällen sprachen Brüder oder Schwestern jahrelang nicht mehr miteinander.“ Als sie beim Museum Anfang der 2000er Jahre eine Diskussionsveranstaltung zum Wahlkampf von damals organisierten, war Jung selber überrascht, dass es nicht mehr zu hitzigen Debatten kam, sondern von allen Seiten Verständnis sowohl für die Ja- als auch für die Neinsager von einst geäußert wurde. „Da dachte ich, endlich hat sich was verändert!“
1935 hatte es ein ähnliches Referendum gegeben, damals sprachen sich mehr als 90 Prozent der Saarländer für die Rückkehr zu Deutschland aus. „Und das, obwohl Emigranten wie Heinrich Mann hierher gekommen waren, um vor Hitler zu warnen.“ Nach dem Zweiten Weltkrieg und den nationalsozialistischen Verbrechen schien die Nation für manche vollständig diskreditiert. Das Mouvement pour le Rattachement de la Sarre à la France, eine Bewegung für den Anschluss an Frankreich, hatte zehntausende Mitglieder. Andererseits gab es viele, die Deutsche bleiben wollten.
Ab 1947 herrschte ein ziemlich autoritäres Regime
Der Raum mit den Plakaten aus dem Wahlkampf von 1955 ist der interessanteste Teil der Saarbrücker Ausstellung. Der Abstimmung ging eine Schlammschlacht voraus, Schlägereien inklusive. Unter dem Schutz der Franzosen hatte Ministerpräsident Johannes Hoffmann, genannt Joho, ab 1947 ein ziemlich autoritäres Regime etabliert. Parteien, die der Linie eines unabhängigen Saarlandes nicht folgen wollten, wurden kurzerhand verboten. Seine Christliche Volkspartei war das saarländisch-separatistische Pendant zur CDU.
Als Journalist hatte der überzeugte Katholik einst gegen die Nazis gekämpft und war vor diesen bis nach Brasilien geflohen. Frankophil, wie er war, verstand er sich bestens mit Frankreichs Mann in Saarbrücken, Gilbert Grandval. Dieser alte Résistance-Kämpfer errichtete sich fern von Paris ein kleines Reich. Er residierte in der Industriellenvilla Schloss Halberg, vom Volksmund „Grandvalhalla“ getauft, wo er regelmäßig Feste gab. Heute sitzt dort die Intendanz des Saarländischen Rundfunks. Außerdem gibt es ein Restaurant. Es bietet, natürlich, gehobene französische Küche.
Als vor der Abstimmung viele Parteien wieder zugelassen werden mussten, brach die angestaute Wut hervor. „Der Dicke muss weg“ ist auf einem Plakat zu lesen, daneben das mit wenigen Strichen skizzierte Gesicht von Joho, der Schnauzer und Hornbrille trug. Dessen Partei schlug zurück, indem sie Hoffmanns großen Gegenspieler Heinrich Schneider, einen früheren Nazi, mit Hitlergruß zeigte. Wer gegen das Statut stimmt, so die Botschaft, wählt deutschen Chauvinismus.
Adenauers Vision von einem vereinten Europa ist Wirklichkeit geworden
Die Saarländer lehnten den Vorschlag trotzdem mit 67,7 Prozent der Stimmen ab, und Joho trat zurück. „Am Status quo hätte sich dadurch nichts ändern müssen“, sagt Jung. Aber Paris verstand das Ergebnis als Votum gegen Frankreich und machte den Weg frei für die „kleine Wiedervereinigung“. Sie wurde am 1. Januar 1957 vollzogen. Einige Saarländer hatten ihre Häuser an diesem Neujahrstag mit einer schwarz-rot-goldenen Flagge geschmückt, und Kanzler Adenauer kam nach Saarbrücken. Der Weg sei nun frei für den Aufbau eines vereinten Europas, erklärte er im Stadttheater, vergangenen Streit solle man begraben.
Über die Jahrzehnte ist aus dieser Vision Wirklichkeit geworden. Es gibt ja nicht nur die französischen Tagestouristen, „die Lothringer kommen auch zum Arbeiten hierher, so wie Saarländer umgekehrt Jobs in Frankreich haben“, erzählt Stadtführer Roland Schmitt. Ins französische Forbach könnte man von Saarbrücken aus laufen, und nach Metz dauert es mit der Bahn nur eine Stunde. Seit 1995 ist das Bundesland Teil der Region Saar-Lor-Lux, zu der unter anderem auch Lothringen (Lorraine) und Luxemburg gehören. Die Luxemburger leben bevorzugt im saarländischen Norden, wo die Grundstücke günstiger sind.
Autonom ist das Saarland zwar nie geworden, eine europäische Region ist es jedoch schon lange.
Reisetipps für Saarland
ANREISE UND ÜBERNACHTUNG
Mit dem Zug braucht man etwa sieben Stunden von Berlin nach Saarbrücken, mit Umstieg in Mannheim (145 Euro). Empfehlenswert unweit des Schlosses ist das Hotel am Triller (hotel-am-triller-saarbruecken.de).
MUSEUM UND TOUR
Das Historische Museum Saar (Schlossstraße 15, historisches-museum.org) ist Dienstag bis Sonntag von 10 bis 18 Uhr geöffnet, Donnerstag bis 20 Uhr. Eine Tour von „Geographie ohne Grenzen“ bucht man online: geographie-ohne-grenzen.de
WEITERE INFORMATIONEN
Mehr über die Geschichte des Saarlandes auf saar-nostalgie.de. Für die Reisevorbereitung im Internet: urlaub.saarland