Gedränge auf den Straßen am 1. Mai: Wird Kreuzberg das Berliner Ischgl?
Demos und Myfest fielen am 1. Mai aus. Dennoch gab es dichtes Gedränge Tausender Menschen. Innensenator Geisel gibt zu, dass der Infektionsschutz nicht komplett durchgesetzt werden konnte.
Früher wurden am 2. Mai immer die Scherben in Kreuzberg zusammengekehrt, und dann wurde Bilanz gezogen. Wie viele Autos brannten? Wie viele Festnahmen? Wie viele verletzte Beamte? Wie war die Taktik auf Seiten der Polizei und der Autonomen?
Scherben müssen schon seit einigen Jahren nicht mehr zusammengekehrt werden, mangels Krawall. In diesem Jahr muss erstmals auch die Bilanz am 2. Mai ausfallen. Sie kann erst in zwei Wochen gezogen werden, und zwar an Hand von Infektionszahlen.
Wird Kreuzberg 36 das Ischgl an der Spree? Doch solch dicht gedrängte Menschenmengen hat die Stadt seit Ausbruch der Pandemie nicht gesehen. Abstand? Fehlanzeige.
Innensenator Andreas Geisel hatte bereits am Montag zuvor im Innenausschuss gesagt: „Der 1. Mai darf nicht zum Ischgl von Berlin werden.“ Im Tiroler Skiort Ischgl hatten sich beim Après-Ski sehr viele Menschen mit dem Coronavirus infiziert - und das Virus anschließend über Europa verteilt. Innensenator Geisel hatte im Vorfeld angekündigt, dass beim Einsatz "alles dem Infektionsschutz untergeordnet" werde. Statt Deeskalation und Toleranz müssten die Regeln „in diesem Jahr strenger ausgelegt werden“. In den vergangenen beiden Monaten hatten sich die Berliner an die 1,5 Meter gewöhnt, so schien es. Am Abend des 1. Mai war das bei vielen in Kreuzberg vergessen. 1000 vermummte Autonome spielten zwei Stunden lang Katz und Maus mit der Polizei, sie hetzten im Zickzack und im Laufschritt durch ihren Kiez. In normalen Jahren wäre das nicht weiter bemerkenswert. Doch dieses ist kein normales Jahr.
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Hinzu kam das Kreuzberger Feierpublikum, also die Mischung aus überwiegend bezirkseigenem Publikum, Gaffern, Trinkern und Partyfreudigen. Nur die Touristen fehlten dieses Jahr, und die "erlebnisorientierten Jugendlichen" waren nur wenige da. Während die Autonomen den Mundschutz schon wegen der Vermummungsfunktion angelegt hatten, fielen die Masken der Feiernden am Abend weitgehend. Sie sind ja auch unpraktisch beim Biertrinken, rauchen, kiffen.
Aus Spätis und aus Kneipen drang Musik, das Bier floss. War der Späti leer gekauft, wurde mit dem Auto Nachschub geholt, ein lauwarmes Sternburg für 1,50, direkt aus dem Kofferraum. „Die geballte Unvernunft, das ärgert mich“, kommentierte Innensenator Andreas Geisel (SPD) bereits am frühen Abend. Am Sonnabend legte der SPD-Politiker nach: "Offenbar meinten mehrere tausend Demo-Schaulustige, es gäbe keine Pandemie und man müsse sich das Geschehen in Kreuzberg aus nächster Nähe anschauen. Das ist kopfloser Aktionismus. Hier konnte der Infektionsschutz wegen der schieren Masse von Menschen nicht in der Form durchgesetzt werden, wie ich es mir gewünscht hätte." Ansonsten sei der 1. Mai "gewaltfrei und friedlich" verlaufen: "Es ist der Polizei gelungen, dass Linksautonome nicht mit mehreren hundert Menschen geschlossen durch die Straßen ziehen konnten. Sie hat Versammlungen konsequent unterbunden und es den Autonomen unmöglich gemacht, ihre Ziele zu erreichen.
Der SPD-Abgeordnete Tom Schreiber äußerte sich bei Twitter wesentlich kritischer. Schreiber sieht ein zweites Ischgl kommen und kritisierte: "Schlichtweg Verantwortungslos."
Die Menschen saßen dicht an dicht
Die Polizei wird sich fragen lassen müssen, spätestens im nächsten Innenausschuss, wieso sie das Abstandsgebot nicht stärker durchgesetz hat. Am Nachmittag waren im Görlitzer Park oder auf dem Oranienplatz Polizisten von Grüppchen zu Grüppchen gezogen und hatten die 1,50 Meter durchgesetzt. Freundlich, aber bestimmt. Am Abend war das vorbei. Vor den Spätis standen oder saßen die Menschen dicht an dicht.
Dabei war reichlich Polizei präsent. 5000 Beamte, darunter 1400 aus anderen Bundesländern und von der Bundespolizei, waren im Einsatz. Das sind nur wenige Hundert weniger als in den Vorjahren – ohne die Corona-Beschränkungen. Und es gab viel weniger zu tun.
Das Myfest fiel aus, die großen Demonstrationen ebenfalls. Die über den Twitter-Account „Revolutionärer 1. Mai Berlin“ gesteuerte Autonomendemo (Motto: „Der 1. Mai lässt sich nicht verbieten“) war für die Polizei weder neu noch problematisch. Solche „Spontan“-Aufzüge hatte es in den Vorjahren regelmäßig ab 18 Uhr gegeben.
Aus dem Hubschrauber lässt sich prima verfolgen, wohin die Demonstranten rennen, dieses taktische Mittel der Polizei unterschätzen offenbar selbst altgediente Autonome. Der Corona-Abstand von 1,50 Meter lässt sich weitaus schwieriger verfolgen.
[Wer den Trubel sucht, musste früher nur zum Myfest fahren. 2020 ist davon nichts zu sehen. Unser Fotovergleich vom 1. Mai in Kreuzberg mit und ohne Corona-Krise zeigt, wie die Pandemie die Straßen verändert hat.]
Polizeipräsidentin Barbara Slowik hatte am späten Abend gesagt: „Die Personen, die sich in Kreuzberg zu einer größeren Demonstration formieren wollten, haben ein klares Statement gegen den Infektionsschutz, gegen den Schutz anderer gesetzt, unverantwortlich gehandelt.“ Am Sonnnabend hieß es im Präsidium, dass sich Straßen voll mit feiernden Menschen nicht einfach "auflösen" lassen. Auch die Gewerkschaft der Polizei wies Vorwürfe zurück, dass die Polizei nicht genügend durchgegriffen habe beim Abstandsgebot: „Aussagen, dass unsere Kräfte Verstöße gegen die Corona-Verordnung bewusst zugelassen haben, sind mehr als anmaßend. Die Polizei hat gestern den ganzen Tag über versucht, den Infektionsschutz bestmöglich zu gewährleisten", sagte GdP-Landeschef Norbert Cioma am Sonnabend. Die linke Szene warf der Polizei vor, weitgehend auf Masken im Einsatz verzichtet zu haben. Tatsächlich hat nur ein kleinerer Teil der Beamten am 1. Mai eine Maske getragen. Dies dürfte intern angeordnet worden sein. Innensenator Geisel hatte, wie berichtet, gesagt, dass jeder Beamte selbst entscheiden könne, ob er eine Maske trägt oder nicht. Wenn Menschenmengen aufgehalten werden müssen oder bei der Identitätsfeststellung von Tatverdächtigen lasse sich kein Abstand einhalten, so der Senator. Die Hundertschaft, die am Abend den Rasen vor dem Bethanien sicherte, trug vollständig einheitliche professionelle Schutzmasken - eine Ausnahme.
Die von der linksextremistischen Szene angekündigte Abschlusskundgebung auf dem Mariannenplatz fiel aus, die Polizei hatte alle Zugänge einfach gesperrt. Und auch die Oberbaumbrücke nach Friedrichshain blockierte die Polizei, um ein Ausweichen in die Rigaer Straße zu verhindern. Durch die gesperrten Straßen
Viele Festnahmen: Die Polizei hatte die Lage im Griff
Und sonst? Sachbeschädigungen gab es kaum, in der Mariannenstraße wurden einige Farbtöpfe auf den Asphalt gekippt. Angekündigt waren „dezentrale Aktionen“ – doch die linksextremistische Szene hielt sich nicht daran. Es wurde eine Art gemeinsames Rennen durch den Kiez organisiert, Abstand halten ist bei dieser Protestform natürlich nicht möglich. Die Aggressivität der Demonstranten war deutlich geringer als in den Vorjahren, es wurden keine schweren Böller gezündet, es blieb bei etwas Feuerwerk.
Dass die Polizei die politische Lage im Griff hatte, zeigt die hohe Zahl von Festnahmen. Bereits am Abend waren es gut 50, selbst kleine Straftaten, zum Beispiel bei einigen Rangeleien in der Skalitzer Straße, wurden konsequent verfolgt und die Verdächtigen aus der Menge geholt.