Vorher-nachher-Vergleich: Der 1. Mai in Kreuzberg mit und ohne Corona-Krise
Wer den Trubel sucht, musste früher nur zum Myfest fahren. 2020 ist davon nichts zu sehen. Unser Fotovergleich zeigt, wie die Pandemie die Straßen verändert hat.
Jahrelang galt am Tag der Arbeit in Kreuzberg nur ein Gesetz: Alle raus zum Myfest! Massen strömten nach "36", drängten sich durch die Oranienstraße, schoben sich vom Kotti in Richtung Bethanien oder suchten ein freies Plätzchen auf den Wiesen am Oranienplatz.
Musik, Düfte und Gelächter erfüllten die Straßen, und wer dem ganzen Trubel einfach nur entfliehen wollte, musste hoffen, dass der Görlitzer Bahnhof nicht längst wegen Überfüllung geschlossen war.
Der Einschnitt, den die Corona-Krise bedeutet, könnte an einem Tag in Berlin im Frühling 2020 kaum deutlicher sichtbar werden als an diesem 1. Mai. Der Himmel war blau wie eh und je am Freitag, vielleicht noch etwas blauer, da längst nicht mehr so viele Autoabgase in der Luft sind wie sonst.
Das Myfest aber: abgesagt. Die Straßen: verlassen. Kreuzberg: irgendwie verloren. Unsere Fotografin Kitty Kleist-Heinrich ist am 1. Mai durch Kreuzberg gezogen und hat die Schauplätze des Myfests fotografiert, wie sie sich an diesem Corona-Tag gezeigt haben. Dem stehen Bilder vergangener Jahre gegenüber - aus annähernd derselben Perspektive. Wenn Sie den Regler in der Bildmitte hin und her schieben, können Sie im Vorher-nachher-Vergleich die Unterschiede sehen.
Nehmen wir zum Beispiel die Oranienstraße. Vor einem Jahr: Flaneure überall, Verzehrstände an den Seiten. Heute: leere Gehwege, geparkte Autos am Straßenrand, ein Polizeibulli, der tagsüber schon für die trotzdem erwarteten autonomen Proteste bereitstand. Kreuzberg bleibt eben doch Kreuzberg.
Vor drei Jahren: der Blick vom Mariannenplatz die Mariannenstraße entlang, Menschen bis zum Horizont, bis zur Hochbahn, so scheint es. Buntes Treiben auf dem Myfest - nicht nur wegen der Luftballons rechts im Bild. Dagegen der 1. Mai 2020: Fast schon traurig steht von allen guten und bösen Geistern verlassen ein Polizeibulli auf halber Strecke.
Seit 2003 gibt es das Myfest. Mit der Zeit wurde es so populär, dass die Leute auswichen, es sich ganz natürlich über den eigentlich abgesperrten Bereich hinaus ausdehnte - etwa in den Görlitzer Park, den der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg 2019 mit dem "MyGörli" offiziell mit einbezog.
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Schon 2018 war hier jedoch so viel los, dass von Mindestabstand kaum die Rede sein konnte. In diesem Jahr war das hingegen kein Problem.
Schlendern und chillen: Blick vom Oranienplatz in die Oranienstraße.
Polizisten zur Durchsetzung von Kita-Schließungen? Nein, das war 2015, sie standen an der Reichenberger Straße bereit für die "Revolutionäre 1.-Mai-Demo" am Abend. Der Kinderladen "Kunterbunt" war damals wie heute dicht (aber nur für einen Tag).
Bei uns natürlich links im Bild: die Autonomen von der Demo im Jahr 2009. Schon damals vorbildlich mit Gesichtsmaske ausgestattet, wobei die Herrschaften sich wahrscheinlich nicht aus Gründen des Infektionsschutzes verhüllt haben. Die Fotos zeigen die Skalitzer Straße, Ecke Mariannenstraße.
Kein Durchkommen: die "Revolutionäre 1.-Mai-Demo" an der Warschauer Straße, also auf Friedrichshainer Seite der Spree, vor genau einem Jahr - am 1. Mai 2019. Polizisten bilden eine feste Kette, vorn drängt sich der "schwarze Block", die ganze Straße ist voller Menschen. Zum Vergleich: 2020 nicht einmal ein Auto unterwegs auf der wichtigen Verkehrsachse. Allerdings müssen wir bei diesem Bildervergleich darauf hinweisen: die Aufnahmen sind zu ganz unterschiedlichen Uhrzeiten entstanden.
Abstandsgebot hin oder her: Am Abend dieses 1. Mai 2020 gab es dann doch noch ein größeres Demo-Geschehen. Die Autonomen wollten sich von der Corona-Krise und den staatlichen Vorschriften zur Eindämmung der Pandemie ihren Protest nicht nehmen lassen und hatten deshalb dazu aufgerufen, sich die Oranienstraße zu "nehmen". Dabei sollten natürlich die Abstandsregeln beachtet werden - was sich bald als illusorisch erwies. Stattdessen gab es stundenlange Spielchen mit der Polizei.
Es ist nicht frei von Ironie, dass erst die Corona-Krise den Linken wieder den Spielraum eröffnete, den ihnen das Myfest einst genommen hatte. In den vergangenen Jahren kam es sogar immer wieder vor, dass die Demo der Revolutionäre schlichtweg in den Menschenmassen steckenblieb. Das war in diesem Jahr tatsächlich anders.