Beziehungen in Berlin: Gemeinsam einsam
Sie sind Mitte 20, klug und schön. Trotzdem bleiben sie alleine, freiwillig oder aus Überforderung. Lieben in Berlin – ein Krisenreport.
Baris, 24, hat ein Profilfoto, auf dem er seinen Hund küsst. „Nee“, sagt Hannah und wischt das Bild auf ihrem Smartphone nach links weg, abgelehnt. Mustafa, 24, gestutzter Bart, gezupfte Augenbrauen. Unsexy. Wisch nach links. Hannah seufzt, legt das Smartphone zur Seite. Mit einer Freundin sitzt sie in einem Sushi-Restaurant in Mitte, Hannah trägt weiße Bluse, graue Hose, roten Lippenstift. Ihr Tag war gut, die 26-Jährige arbeitet in der Medienbranche, heute hat sie einen wichtigen Kontakt geknüpft. Jetzt ist Feierabend. Hannah nippt am Wein, zückt dann wieder das Telefon und beugt sich mit ihrer Freundin über die Dating-App. Berliner Männer gucken, Zeitvertreib. Kevin, 24, trägt drei Sonnenbrillen übereinander. „Wenn man schon Kevin heißt.“ Wisch nach links. Rafa, 25, ist mit einer Frau zu sehen. Wisch nach links, der ist ja schon versorgt. Ablehnung im Sekundentakt.
Wer in Berlin jung ist und auf der Suche nach Zweisamkeit jeglicher Art, dem eröffnet die Stadt jede Menge Möglichkeiten. Nach London und New York ist Berlin für Menschen zwischen 15 und 29 am attraktivsten, stellte kürzlich der „Youthful Cities Index“ fest. Die Stadt gilt als deutsche Hochburg der mobilen Dating-Apps, als Epizentrum des Nachtlebens sowieso. Perfekte Bedingungen für alle, die Liebe suchen. Eigentlich. Denn Statistiken erzählen eine andere Geschichte. Im Vergleich zu anderen deutschen Städten gibt es in Berlin überdurchschnittlich viele Singles, jeder Zweite hier ist ledig, geschieden oder anderweitig unverpartnert. Und wer sich unter jüngeren Berlinern umhört, bekommt allzu oft zu hören, dass es mit der Liebe hier alles andere als leicht sei.
"Bist du poly?"
Manche sagen: Romantische Zweierbeziehungen, das passt nicht zu Berlin. Sich dauerhaft auf einen Menschen festlegen, treu sein, viel Zeit zu zweit verbringen – all das widerspreche dem Geist dieser Stadt. Von „offenen“ Beziehungen hört man hier oft, vor allem in der feierwütigen Szene, wo auch die Frage „Bist du poly?“ verbreitet ist, anders ausgedrückt: Fährst du mehrgleisig? Man will sich nicht festlegen, muss es auch nicht, bei der Abendplanung so wenig wie beim Partner. Ist Berlin einfach nicht für die große Liebe gemacht?
Aus Neugier meldet sich Hannah im April 2014 bei Tinder an, einer App, die in der Öffentlichkeit noch relativ unbekannt ist, auch wenn sie in Berlin bereits tausende Nutzer hat. Kontaktsuchende stellen bei Tinder eine Handvoll Profilbilder ein, um ihrerseits Bilder potenzieller Partner angezeigt zu bekommen. Wer die nach rechts wischt, signalisiert Interesse, nach links bedeutet Ablehnung. Finden sich zwei Nutzer gegenseitig interessant, können sie einander schreiben. Hannah gefällt die Idee, das spielerische Prinzip. Sie stellt Bilder ein, die sie mit strahlendem Lächeln zeigen, mit großer Sonnenbrille, honigfarbenem Haar. Hannah wischt und wischt, mit ein paar Männern chattet sie, an persönlichen Treffen hat sie eigentlich kein Interesse. Bis ihr Ben angezeigt wird. Auf seinem Bild hat er dunkelblonde Locken, ein freches Grinsen, er ist Hannahs Typ. „It’s a match!“, sagt Tinder, als Hannah nach rechts wischt. Es folgt ein zweiwöchiger Dauer-Chat, dann das erste Treffen in einer Bar am Lausitzer Platz. Es ist Frühsommer, die Kastanien blühen. Die beiden reden die halbe Nacht, trinken zu viel Wein. Am Ende verbringt Hannah die Nacht bei Ben. Danach ist alles offen. „Wenn er sich nicht mehr gemeldet hätte, das wäre okay gewesen“, sagt sie im Rückblick. Doch es folgt ein zweites Date, intimer, mit Frühstück am Morgen. Hannah ist verliebt.
Gleichzeitig aber ahnt sie, dass es nicht gut gehen wird. Denn gut geht es selten. Und weil eine Geschichte über die Liebe in Berlin auch eine über das Scheitern ist, heißt Hannah in Wirklichkeit anders, wie auch die anderen Hauptpersonen dieser Geschichte, die nicht über sich urteilen lassen möchten. Liebe ist schließlich Privatsache.
Beim dritten Date gehen Hannah und Ben ins Theater. Doch etwas stimmt nicht, Hannah merkt es. Sie hat Ben viele SMS geschrieben vor diesem Treffen, hat ihre anfängliche Zurückhaltung aufgegeben. Wirkt sie aufdringlich? Als sie Ben darauf anspricht, erfährt sie: Er will etwas Lockeres, keine Beziehung, will sich nicht festlegen. Der Kontakt bricht ab.
Die Drei-Monats-Regel
Die Liebe in Berlin scheint eigenen Gesetzen zu folgen. Wer hier über sie spricht, hört oft von der Drei-Monats-Regel. Nach drei Monaten, heißt es, flachen die Gefühle ab, stellt sich Routine ein, nicht selten endet an dieser Stelle die Beziehung. Einer lässt den Kontakt abflauen oder teilt am Telefon mit, dass er sich etwas Festes nicht vorstellen kann. Manchmal gibt es einen letzten Spaziergang mit versöhnlichen Abschiedsworten.
Lars kennt das. Auch wenn es bei ihm eher zwei Monate sind, nach denen seine Beziehungen in die Brüche gehen. Wenn der 23-Jährige davon erzählt, klingt es nicht nach einer Regel, an die er sich aus freien Stücken hält. Eher schwingt Verwunderung mit, wie über ein Naturphänomen, an dem sich nicht rütteln lässt.
Lars sitzt in Ringelshirt und schwarzer Jeans auf dem Tempelhofer Feld, mit dem Rücken zum alten Flughafengebäude. Er kommt gerade aus der Uni, Lars studiert Politikwissenschaft, engagiert sich in seiner Freizeit in einer Partei. Die Liebe? Lars streicht sich durch die braunen Haare, fängt ganz von vorne an. Sein erster Freund. Arrogant sei der gewesen, „teilweise enorm scheiße“, sagt Lars. „Er ließ mich auf Partys stehen, griff meine Freunde an, war unfreundlich zu Verkäuferinnen.“ Aufregend war er, gleichzeitig unberechenbar, und es war Lars’ erste Beziehung zu einem Mann. Kennengelernt hatten sie sich 2010 in einer anderen Stadt, bevor Lars nach Berlin zurückging. Die Fernbeziehung funktionierte nicht, aber wenn Lars heute über die Liebe spricht, kommt er immer wieder auf jenen ersten Mann zurück.
Lars hat Freunde, die in stabilen, langjährigen Beziehungen sind. Doch die meisten sind wie er hier geboren, kommen aus demselben Berliner Randbezirk. Innerhalb des S-Bahn-Rings, in Kreuzberg, Neukölln, Mitte oder Friedrichshain, kennt er wenige Leute mit Partner. In der Mitte der Stadt, zwischen Studium und Party, scheint für Bleibendes keine Zeit zu sein. Am Rand, wo man Häuser kaufen und in Elternzeit gehen kann, dreht sich die Welt vielleicht langsamer, man kann erwachsen werden, alt werden, auch gemeinsam. Ein Klischee? Für viele scheint es zu stimmen.
Lars kann sich trotzdem nicht erklären, warum er es nicht schafft, länger als zwei Monate mit einem Mann zusammenzubleiben. Denn im Grunde ist er auf der Suche nach einer festen Beziehung, einer mit Vertrauen und ohne Verfallsdatum. Er will sich auf jemanden einlassen, nicht fragen müssen, wie lange es noch gut geht. Lars meint es ernst. Er ist nicht auf Grindr oder Gay Romeo, Datingplattformen für schwule Männer, die im Ruf stehen, vor allem unverbindliche Sexkontakte zu vermitteln. Danach sucht Lars nicht. Er will jemanden finden, mit dem er sein Leben teilen kann.
Mit 19 hat er sich bei „Du bist nicht allein“ angemeldet, kurz „dbna“, einem Portal, das junge schwule Aufklärungsarbeit betreibt, aber gleichzeitig eine Art Kontaktbörse ist. Wenn Lars hier jemanden kennenlernt, braucht er viel Vorlauf, bis er einem Treffen zustimmt. Er zeigt aufrichtiges Interesse und erwartet es von seinem Gegenüber, bei Sprüchen wie „Hey, wie geht’s?“ steigt er aus. Lars liest die Profile seiner Kontakte, sieht sich ihre Fotos an, wenn ihm etwas gefällt – eine Aufnahme in der Wüste, eine radikale Aussage im Profil –, schreibt er sie an. „Banale Sachen eigentlich, die aber zeigen, dass man Interesse hat“, sagt Lars. „Nur aufs Aussehen zu achten, deprimiert mich.“
Er verliebt sich schnell. Lange vor dem ersten Treffen, schon wenn neue Nachrichten in der Inbox aufpoppen, klopft sein Herz, ihm wird flau im Magen. Schwerer fällt ihm der Übergang vom digitalen zum analogen Umgang. Im Sommer schlägt er Pizzerien oder Parks als erste Treffpunkte vor, im Winter manchmal auch seine Wohnung, zum Kochen, Reden, Musikhören. Sex beim ersten Date hat er selten. Trotzdem verlaufen die Treffen oft nach demselben Schema: Die anderen sind begeistert, Lars enttäuscht. Online war das Gespräch spannend, offline nicht mehr. Vielleicht wirkt die Realität entzaubernd, Lars kann nicht genau sagen, was da passiert. Oft ist ihm schon in der ersten Minute klar: In dich kann ich mich nicht verlieben. Trotzdem bleibt er nett, er versucht nur, nicht zu viel Nähe aufzubauen. Und hofft, dass der andere das merkt. Sich auf etwas einzulassen, auch wenn es nicht perfekt wirkt, das schafft er nicht.
I love you but I've chosen disco
Mit solchen Problemen muss sich natürlich nur herumschlagen, wer wirklich auf der Suche nach einem Partner ist. „Für viele Menschen ist die Liebe der zentrale Baustein im Leben. Für mich nicht“, sagt Matze. Der 28-Jährige hat sich in seiner Kreuzberger WG-Küche gerade die dritte Zigarette angezündet. Am Vorabend war er bei Freunden, alle waren ganz schön dicht. Jetzt müsste Matze eigentlich für eine Klausur an der Uni lernen, einen Multiple-Choice-Test.
2011 kam er nach Berlin, wegen der „beruflichen Möglichkeiten“. Matze ist es damals noch gewohnt, seinen Alltag und die Freizeit an anderen auszurichten. Ihm ist es wichtiger, in der Gruppe etwas zu unternehmen, als den eigenen Kopf durchzusetzen. Das hat sich geändert. „Die Stadt hat mir eröffnet, was ich selber mag“, sagt er. In Berlin hat er das Gefühl, frei zu sein, seine Vorlieben ausleben zu können, von Theater über Ballsport bis zu Elektroclubs. Matze weiß nun, was er will. Auch allein kann er jetzt sein, ohne sich unwohl zu fühlen. „Das war ein Lernprozess.“ Feiern, trinken, weggehen, nur um jemanden kennenzulernen? Das macht er nicht mehr. „Ich muss nicht mehr auf Partys mit irgendwelchen Mädels rummachen.“ Früher, als er gerade bei den Eltern ausgezogen war, am Anfang des Studiums, habe ihn das schon gereizt. Jetzt aber hält er Clubs nicht mehr für die Orte, wo sich herausfinden lässt, ob eine Frau die richtige ist. Viel geredet werde ja dort eh nicht. Feiern geht Matze jetzt wegen der Musik, wegen der Locations, der DJs.
„Es gibt viele Möglichkeiten, Glück zu empfinden, dazu brauche ich nicht unbedingt eine Frau“, sagt er. So mancher Partyabend mit Freunden ersetzt ihm das gute Gefühl, das andere in Beziehungen suchen. Musik, ein interessanter Ort, viele neue Leute – das macht ihn glücklich. „Da denke ich nie: Jetzt noch ’ne Frau, das wär’s.“ Er will nicht zwanghaft eine Freundin finden, will nichts gewaltsam in sein Leben drängen. „Beziehungen erfordern Kompromisse. Die müssen es auch wert sein.“ Matze zündet sich noch eine Zigarette an.
Das Liebesleben der Hyäne
Feiern und trinken, um eine Frau abzuschleppen? Das ist genau Gabriels Ding. Er sitzt entspannt, mit überkreuzten Beinen und hinter dem Kopf verschränkten Armen, auf der Dachterrasse eines Berliner Hotels. Enge Jeans, nicht zu enges Hemd, Haare nach hinten gekämmt, leichte Geheimratsecken. Es ist Abend, der Himmel schon dunkel, hinter dem Geländer glüht die Stadt nach. Gabriel mag die Bar. Klare Linien dominieren die Einrichtung, kein Schnickschnack. „Stilvoll“, sagt er. Sein Smartphone vibriert, Instagram, irgendjemand hat einen Spruch gepostet: „Manchmal braucht man einfach Liebe und eine Umarmung. Und Sex und 10 000 Euro.“ Gabriel lacht. Er klingt ein bisschen wie ein Hyäne.
2009 ist Gabriel aus einer Kleinstadt in Bayern nach Berlin gezogen. Es ist ihm zu eng dort, er sucht die Weite der Großstadt, beginnt ein BWL-Studium. Gabriel will reich werden – das sagt er auch ganz genau so. Berlin vermittelt ihm das Gefühl, sein zu können, was er sein will – auch in der Liebe. Als Ende 2014 mit seiner letzten Freundin Schluss ist, beschließt Gabriel, sich erst einmal nicht mehr zu verlieben. Der 25-Jährige, der mittlerweile für ein Start-up arbeitet, meldet sich auf Datingplattformen an. „Offen für alles Neue“, schreibt er in seine Profile bei Lovoo und Tinder. Er meint: Sex. Gabriel sucht Affären, „halb emotionale, halb praktische“ Beziehungen zu Frauen, die für ihn im Idealfall ablaufen „wie eine Transaktion zwischen zwei Vertragspartnern“. Immer wieder schleicht sich BWL-Sprech in seine Sätze: Verhandlung, Vertrag, Erfolg, Misserfolg. Klare Ansagen.
Deshalb meldet sich Gabriel nicht nur bei den Standard-Datingplattformen an. Ein Bekannter erzählt ihm von Joyclub, einem Erotikportal. Die Seite gefällt ihm auf Anhieb, denn anders als bei Tinder ist dort von vornherein klar, worum es geht. 160 Euro zahlt Gabriel im Jahr für das Portal, die sich selbst als „Community für stilvolle Erotik“ bezeichnet und auf der Startseite mit 1,9 Millionen „realen Mitgliedern“ in Deutschland wirbt, Spam-frei und TÜV-geprüft. Das Motto: „Bereichere dein Sexleben“.
Und Gabriel bereichert sich. Fast täglich besucht er die Seite, schreibt Nachrichten an Frauen, wird bald routiniert. „Du schaust dir das Profil genau an, gehst in der Nachricht darauf ein, machst ein Kompliment und wartest auf Antworten.“ Die Seite macht ihm die Auswahl leicht. Gabriel vergleicht sie mit dem Gebrauchtwagenportal mobile.de: So, wie dort Autos nach PS-Zahl und Farbe geordnet werden, filtert Joyclub seine Mitglieder nach Eigenschaften und Vorlieben. Kuschelsex und Küssen, Fußerotik und Kamasutra, Ältere, Jüngere, Augen verbinden: Für 59 Vorlieben lassen sich ein bis fünf Herzchen vergeben. Gabriel findet das gut. „So kann man Misserfolge minimieren“, sagt er. Am Anfang hat er an manchen Tagen Sex mit mehreren Frauen. „Es gab welche, denen habe ich geschrieben und bin dann direkt zum Ficken hingefahren.“ Nach zwei Monaten fährt er etwas zurück. „Immer nur Sex, Sex, Sex, das war einfach zu viel.“ Reizüberflutung. Für zwei Wochen bleibt er abgemeldet. Dann schaut er mal wieder vorbei. Es warten ja Nachrichten.
Keine Dramen mehr
Auch Matze geht ab und an mit einer Frau nach Hause. Wenn es sich ergibt. Manchmal, in durchfeierten Nächte, spricht ihn eine an, will ihn mitnehmen. Matze steht dann im Club, Mate in der Hand, die lockigen Haare verschwitzt, ein Grinsen im Gesicht. Er wägt ab und entscheidet: Jetzt schon die Party verlassen, das ist es ihm nicht wert. Tanzen, mit den Freunden was erleben, das ist jetzt wichtiger als Sex. „I love you but I’ve chosen disco“ – in Berlin gibt es eine Partyreihe, die so heißt. Es könnte auch Matzes Motto sein. Nicht immer hält er sich daran, manchmal geht er auch mit. Dann will er, dass sich die Frau wohlfühlt, er gibt ihr das Gefühl, dass er ein bisschen verliebt, dass sie etwas Besonderes ist. Es macht ihn glücklich, andere glücklich zu machen. In den letzten zwei Jahren hat sich mit keiner Frau mehr ergeben als eine Reihe von Treffen. Nichts Nachhaltiges, nichts, was geblieben ist. „Im Bachelorstudium habe ich mir die Hörner abgestoßen“, sagt Matze. Da hat er es mit Frauen versucht, bei denen er eigentlich von vornherein wusste: Das passt nicht zusammen. Da war etwa die Frau, die sehr viel Nähe brauchte, während Matze es freier mochte, Zeit für sich wollte. Als er die Sache beendete, flossen Tränen. „Danach wollte ich keine Dramen mehr.“
Gleichzeitig betont Matze, dass er sich nicht gegen die Liebe sperrt. In seinem Freundeskreis gibt es ein Pärchen, das schon seit einem Jahrzehnt zusammen ist. Die beiden machen alles gemeinsam, führen das typische Berliner Doppelleben: Unter der Woche sind sie eingespannt im Job, am Wochenende durchtanzen sie zusammen die Nächte. Noch nie ist einer der beiden ohne den anderen nach Hause gegangen. Matze findet das schön. Aber er sagt auch: Eine Seelenverwandtschaft, wie die beiden sie haben – gleiche Interessen, gleicher Humor, ähnlicher Charakter –, so etwas kann man nicht suchen, man findet es nur, wenn man sehr viel Glück hat. Und Matze will, anders als viele seiner Bekannten, nicht suchen. Um am Ende dann doch die Nächstbeste nehmen.
Das beste Match
Hannah wechselt nach der Enttäuschung mit Ben im Juli 2014 die App. Sie ist jetzt bei OkCupid, der Dienst ist ausgefeilter als Tinder. Nutzer müssen Fragen über ihre Einstellungen, Zukunftswünsche und Vorlieben beantworten, die App zeigt Partner mit möglichst vielen Übereinstimmungen an. Hannah lässt sich ihr „bestes Match“ anzeigen. Es ist Ben. Hannah kann es nicht glauben, schreibt ihn an, doch sie treffen sich nicht wieder.
Sie will sich ablenken, verabredet ein Date nach dem anderen. Etwa mit einem netten Typen in einer Weinbar – doch schon bei der Begrüßung merkt Hannah, dass er stinkt. Vielversprechender beginnt die Verabredung mit Marco, den sie im Prater im Prenzlauer Berg trifft. Fünf Stunden lang unterhalten sie sich, Marco will Hannah wiedersehen. Doch er ist ihr zu schmächtig, zu dünn, ist zwar schlau, hat aber nicht studiert. Per SMS sagt sie ihm ab. Im August folgt ein Nachrichtenwechsel mit einem Filmstudenten. Das Treffen im Kreuzberger Viktoriapark läuft auf Sex hinaus, danach fühlt sich Hannah benutzt, alles ging zu schnell, der andere schien sich kaum für sie zu interessieren. Nach dem Morgenkaffee folgt kein Wiedersehen. Noch im selben Monat trifft Hannah einen Mann, der seine Größe im Profil mit 1,80 Meter angegeben hat. Beim Treffen in einer Bar in Prenzlauer Berg stellt er sich als 1,65 Meter groß heraus, stottert, ist schüchtern. Hannah ist genervt.
„In Berlin strebt jeder nach dem besten Match“, sagt Hannah. Wenn jemand ein Basecap trägt oder kleiner als 1,80 Meter ist, bekommt er online keine Chance bei ihr. Sehr groß soll er sein, einen Bart haben, ein bisschen längere Haare. „Du suchst nach dem Perfekten, weil du sonst das Interesse verlierst.“ Unzulänglichkeiten akzeptieren, wenn sich hinter dem nächsten Profil, hinter der nächsten Ecke etwas Besseres verbergen könnte? Schwierig. Ist es die Auswahl, die so anspruchsvoll macht?
In einer kleineren Stadt, sagt Hannah, wäre vielleicht alles anders. Man lässt sich eher auf jemanden ein, wenn es weniger Alternativen gibt. Aber hier? Schon als Teenager träumte sie von einer Berliner Altbauwohnung mit Dielen und hohen Decken, von einem coolen Job in der Medienbranche. All das ist wahr geworden. Nur der Partner, der zu ihren Ansprüchen passt, fehlt. Sie hat Angst, Zeit zu verschwenden, wenn sie sich auf jemanden einlässt, der nicht perfekt für sie ist – Zeit, in der sie einen Besseren finden könnte. Dabei seien ihre Ansprüche an eine Beziehung nicht hochtrabend, findet sie. Sie möchte, dass jemand für sie da ist, sich um sie kümmert, sich für sie interessiert, mit ihr Zeit verbringt. Ganz einfach eigentlich – wenn es nicht so schwer wäre.
Online oder Offline?
2014 lernt Lars über „dbna“ einen Mann kennen, der in einer anderen Stadt wohnt. Er ist „bodenständig und gleichzeitig abenteuerlustig“, er sieht gut aus, und, wichtig, er riecht gut. Doch er will mit Lars keine Fernbeziehung führen. Lars überlegt, umzuziehen, in der Nähe zu studieren, der Sache eine Chance zu geben. Doch am Ende geht er das Risiko nicht ein. Er will Berlin, will seine Freundschaften hier nicht aufgeben. Auch nicht das queer-politische Engagement, das hier in Berlin, glaubt er, ein anderes Gewicht hat. Nach zwei Monaten ist Schluss, es folgen neue Dates.
Für Homosexuelle sei es in Berlin leicht, in Kontakt zu kommen, sagt Lars. Auf den Onlineplattformen sind, anders als in anderen Städten, nicht nur ein paar wenige angemeldet, Partys finden fast jeden Tag statt, geboten wird immer was, online wie offline. Und offline dreht Lars nun eine Zeit lang so richtig auf. Er ist unterwegs, organisiert Diskussionsveranstaltungen, für seine Partei und außerhalb. Er geht oft auf Partys, auf denen er andere Schwule treffen kann, er sucht, will unbedingt jemanden kennenlernen. Aber viel kommt nicht dabei heraus. Lars ist deprimiert. Er merkt, dass sich etwas ändern muss, will gelassener werden, die Dinge ruhiger angehen.
"Hast du Zeit?"
Gabriel sind solche Überlegungen fremd. In der Hotelbar scrollt er durch sein Telefon, es ist ein Logbuch seiner Unternehmungen. Unter dem Buchstaben J speichert er die Nummern seiner Joyclub-Bekanntschaften: „Julia, 25“, „Ariane, 42“, „Unbekannt“. 16 Namen stehen da, alle „reine Fuckdates“. Dazu kommen die Nummern der Frauen, die er bei Lovoo und Tinder kennengelernt hat, sauber eingeordnet unter L und T. „Wenn ich Lust auf die eine oder andere habe, rufe ich an und frage, ob sie Zeit hat.“ Anlagestrategie: Diversifikation.
Gabriel beschränkt sich nicht aufs Internet. Sieht er Frauen, die ihm gefallen, spricht er sie an, in der U-Bahn, auf der Straße, in Clubs. Bisschen quatschen, noch mal auf einen Kaffee? Ja, dann aber deine Nummer, bitte. Eine seiner Bekanntschaften wohnt im Nachbarhaus. Mit ihr trifft er sich spontan, eine kurze SMS reicht: „Hast du Zeit?“, „Bock auf Sex?“ Seine Mitbewohner sehen von der Frau meist nur die schwarzen Turnschuhe im Flur, 30 Minuten später ist sie wieder weg.
Gabriel ist gut im Bett. Das sagen ihm seine Affären. Manche, erzählt er, bedanken sich nach dem Sex sogar bei ihm. Dem Zufall überlässt er das nicht. Körper und Aussehen sind ihm wichtig, jeden Tag treibt er Sport: Situps, Pushups, Klimmzüge. „Wer fit ist, ist ausdauernder im Bett und hat mehr Kraft bei bestimmten Praktiken.“ Er mag seinen Körper, das wissen auch seine Mitbewohner. Oft läuft er nackt durch die Wohnung. Sein Oberkörper ist trainiert, flacher Bauch, definierte Arme. Auch seine Kleidung plant Gabriel bis ins Detail. In seinem begehbaren Kleiderschrank reihen sich Hemden und bunte Chinos, Anzüge und Sakkos hängen an der Wand. Qualität ist ihm wichtig, Hemden aus ägyptischer Baumwolle, auffällige Kalbslederschuhe, englische Anzüge. Er freut sich, wenn er wieder mal ein Schnäppchen bei einem besonders teuren Produkt gemacht hat – Asset-Management nennt man das in der Wirtschaft, Narzissmus nennt es Gabriel. Er meint das positiv.
Eines will Gabriel bei Affären unbedingt vermeiden. „Wenn ich merke, dass eine sich verliebt, ziehe ich schon mal die Notbremse für sie.“ Dann schreibt er ihr, er habe das Gefühl, dass da bei ihnen Gefühle hochkommen, und wiederholt, was er immer von Anfang an klarstellt: dass das nicht läuft. Für ihn gehört das zum verantwortungsvollen Umgang, sagt er – Notverkauf.
Was ist mit Liebe, mit Romantik? Kindlich naiv, sagt Gabriel. Aber wie war das denn mit seiner Exfreundin? Darüber will er nicht reden, das sei vorbei, Ende. War sie die große Liebe? Er überlegt. „Nein“, sagt er dann. „Eher der große Verlust.“ Er wird still, ganz kurz. „Aber das ist ja eigentlich das Gleiche.“
There is no one new around
Im Grunde ist Gabriel genau das, was Hannah nicht sucht. Unverbindlich etwas mit jemandem haben und sich dann nicht mehr melden – das hat sie während des Studiums gemacht. Jetzt will sie jemanden finden, auf den sie sich verlassen kann, der für sie da ist. Doch in Berlin ist es auf Dating-Apps verpönt, offenzulegen, dass man etwas Ernstes sucht. Viele, glaubt Hannah, fänden das eher bedrohlich, weil sie so unabhängig wie möglich sein wollten. „Die Stadt gibt einem eine unheimliche Freiheit, aber gleichzeitig macht sie einen ruhelos, man hat Angst, etwas zu verpassen.“
Hannahs Profil sieht nach perfektem Leben aus. Auf ihren Fotos scheint die Sonne, sie trägt dunkle Brillen, wirkt wie die Hauptfigur eines Films, von Godard vielleicht oder Woody Allen. Große Leinwand, große Liebe. Hannah will unabhängig, unverbindlich, nicht verzweifelt wirken. Verzweifelt ist sie auch nicht, sie fühlt sich nur manchmal allein. Bekommt Angst, alt zu werden, nicht mehr schön zu sein, nicht mehr dem Ideal zu entsprechen. Angst, dass da niemand mehr kommt.
Hannah hat mittlerweile über 15 Dates gehabt, aber keinen außer Ben hat sie mehr als einmal getroffen. Mit einem Mann – das Date war beim Italiener in Friedrichshain – hätte sie sich ein zweites Treffen gewünscht, doch diesmal wollte er nicht. Irgendwas läuft immer schief, offenbar. Mehr als einmal hat sich Hannah bei OkCupid an- und wieder abgemeldet. Inzwischen hat sie das Gefühl, dass ihr immer nur noch dieselben Männer angezeigt werden. Bei Tinder wischt sie manchmal so viele nach links weg, dass ein Fenster aufpoppt: „There is no one new around.“
Mehr als nur Alltag
Ende 2014 fängt Lars eine neue Beziehung an, die sechste in einer Reihe von zweimonatigen. Sein neuer Freund ist politisch engagiert, sie haben ähnliche Interessen, besuchen gemeinsam Veranstaltungen. Doch Lars langweilt sich bald. Nach zwei Monaten macht er reinen Tisch. Die beiden gehen spazieren, Lars erklärt, wie er sich fühlt, er will transparent sein, möglichst ehrlich. Es reiche ihm nicht, sagt er, sich mit jemandem nur wohlzufühlen. Der andere ist traurig, akzeptiert es aber. Sie treffen sich nicht wieder. Lars war schon vor dem Gespräch darüber hinweg.
Er will, dass eine Beziehung mehr als Alltag ist, mehr ist als zusammen kochen und auf die Geburtstagsfeiern gemeinsamer Freunde gehen. „Ich will mich nicht mit etwas zufriedengeben, das nur routiniert ist.“ Eine Beziehung, sagt Lars, soll sein Leben reicher machen, in allen Belangen. Was genau das heißen soll, kann er nicht sagen. Es ist ein diffuses Gefühl, schwer in Worte zu fassen – aber wenn es fehlt, funktioniert die Beziehung nicht.
Zu Anfang ist Lars meist euphorisch. Aber bald geht die Kurve steil nach unten. Er merkt dann, dass der andere ihn nicht mitreißt, er braucht Abwechslung und weiß, dass er sie in Berlin bekommen kann. Auch bei seinen Hobbys entdeckt er häufig Neues: ein Instrument spielen, für ein Theaterstück proben, mit eigenen Ideen auf der Bühne stehen. Auch diese Dinge macht er intensiv – und verliert dann die Lust. Das war nett, denkt er, es hat Spaß gemacht – aber kommt da noch mehr?
Keine Eile
Auch wenn er im Moment lieber tanzt, als nach der Liebe zu suchen, hätte Matze später gerne ein Haus, in Dahlem vielleicht, einen Hund, auch Kinder. Mit einer Frau, die sich wie er für Politik und Literatur interessiert, die ihm aber auch Raum für Eigenes gibt. Wann das sein soll? „Ich lasse es auf mich zukommen. Ich habe keine Eile.“ Die Zukunft seines Liebeslebens überlässt er dem Zufall. Nur eins ist eigentlich klar: Aus Berlin weggehen, das kann er sich nicht vorstellen.
"Ich muss da jetzt mal hin"
Der Abend neigt sich dem Ende zu, als Gabriel am anderen Ende der Hotelbar eine Gruppe junger Frauen an einem Ecktisch erspäht. Schon den ganzen Abend ist sein Blick immer wieder suchend durch den Raum gedriftet. Kurze Entschuldigung: „Ich muss da jetzt mal hin.“ Er tritt von hinten an das niedrige Sofa, spricht kurz mit den Frauen, eine Minute später sind sie alle an der Bar. Gabriel sitzt lässig, halb eingedreht, auf dem Barhocker. Mit einem Arm stützt er sich ab, in der anderen hält er ein Pils. Kurzes Winken zum Barkeeper, eine Runde Schnaps für ihn und die vier Damen. Sein Oberkörper schiebt sich leicht nach vorn. Er erzählt ihnen von seinem Job im Start-up, davon, dass er Narzisst ist, und wieder meint er das positiv. Die Frauen kichern, tuscheln kurz. Er lässt sie von sich erzählen, geht auf sie ein, macht Komplimente, wartet ab, taxiert. Shots, Shots, Shots! Die Frauen lachen, Gabriel lacht. Es klingt ein bisschen wie bei einer Hyäne.
Er wird später alleine nach Hause gehen.
Nein, Nein, Ja
Im Sushi-Restaurant, ein paar U-Bahn-Stationen von Gabriel und den Frauen entfernt, sind mittlerweile Miso-Suppe und Lachs-Maki vertilgt. Der zweite Wein steht auf dem Tisch, Hannah schaut wieder auf ihr Smartphone, neue mögliche Dates poppen auf dem Bildschirm auf. Yaya, 28, sitzt auf einem roten Motorrad. Zu prollig, Wisch nach links. Philip, 26, trägt ein Outfit wie bei den drei Musketieren. Witzig. Hannah zögert. Lässt sich das zweite Bild anzeigen. Da isst Philip ein Baguette und grinst schief in die Kamera. Wisch nach links. „Es ist wie eine Sucht, man muss immer weitergucken“, sagt sie. Maximilian, 28, hat eine gefaltete Zeitung auf dem Kopf. Nein. Wisch nach links. Nein. Nein. Nein. Dann Klaus, 28, cooler Typ, liest, mag das Appletree Garden Festival, schaut Netflix, mag Sonntagsdates und Spaziergänge. Hannah zögert. Wisch nach rechts. Die App frohlockt: „It’s a match!“ Und da ist sie wieder, die Hoffnung, dass das nächste Match das richtige sein könnte.
Dieser Beitrag ist gedruckt in der Tagesspiegel-Samstagsbeilage Mehr Berlin erschienen.