Sex in Berlin: Liebe? Langweilig!
Ihr wollt hier den Partner fürs Leben finden, gar heiraten? Damit stört ihr nur den Rhythmus dieser schnellen Stadt. Warum nicht zu mehreren Menschen lustvolle Beziehungen pflegen? Ein Plädoyer für die Polyamorie.
Seit jeher zieht Berlin Glücksritter, Kreative und Versager aller Länder an. Eingebettet in ein Biotop anderer glücklicher, kreativer Versager (GKVs) erhofft man sich einen Push für die angestrebte, bis dato aber brachliegende Karriere. Unzählige Start-ups zeugen von dieser Entwicklung. Die Großstadt verspricht Fortkommen, Dynamik, Progression. Umso unverständlicher ist es, dass sich immer mehr GKVs, kaum hier angekommen, in monogame Beziehungen stürzen, im Folgenden RZBs (Romantische Zweierbeziehungen) genannt.
RZBs stehen für Stillstand, für Stagnation, für Provinz. Was soll das, mitten in der Metropole? Das ist in etwa so, als wolle man mit angezogener Handbremse ein Formel-Eins-Rennen gewinnen. Berlin ist die Hauptstadt der Singles? Diese dreiste Behauptung wird von der Realität zunehmend widerlegt. Jedenfalls von meiner persönlichen Realität. Meine Facebook-Timeline quillt über vor grinsenden Duos, die ihre Verlobung ankündigen oder Babyfotos posten. Natürlich nicht ohne dies als „Lebensereignis“ zu markieren. Manche von ihnen essen nicht mal mehr Fleisch.
Das Gegenteil vom Glücksversprechen
Man muss es sich mal vorstellen: Da bevölkern GKVs in RZBs ganze Straßenzüge in Kreuzkölln, nur um dann am Wochenende zu Hause zu bleiben und die Nachbarn um Ruhe zu bitten. Im fortgeschrittenen Stadium kommen noch fleischgewordene Spaßbremsen, sogenannte Kinder, hinzu. Dazu gibt’s die goldene Handschelle für den Ringfinger.
Aber nicht mit mir. In der Stadt der Sich-Hochschlafer ist die RZB das Gegenteil eines Glücksversprechens. Wer zum Beispiel DJs im Freundeskreis hat, weiß, wovon ich rede. Hier gilt der One-Night-Stand mit den richtigen Leuten weitaus mehr als eine eindrucksvolle Vita und das richtige Know-how. Genau darum setzt der Mensch von Welt heute auf die Segnungen der Polyamorie: Warum nicht zu mehreren Menschen zugleich lustvolle Beziehungen pflegen? So bleibt man flexibel, lernt interessante Leute kennen und hat nebenbei noch einen Heidenspaß. (Randnotiz: Für meinen Job beim Tagesspiegel habe ich mich ganz regulär beworben.)
Fußfesseln der Burgeoisie
Ich bin ein flexibler Mensch, in vielerlei Hinsicht. Ich trete nicht auf der Stelle. „Yolo“ heißt für mich nicht „You only love once“. Die Smartphone-Dating-App Tinder ist mein Tempel, mein gewinnendes Zahnpasta-Lächeln mein Kapital. Sex ist der Schmierstoff, der diese Stadt am Laufen hält. Beim Versuch, ihn zu bekommen, wächst so mancher über sich hinaus. Der Kollateralnutzen der dauernden Selbstoptimierung setzt wichtige Kreativ-Kräfte frei.
Es darf und es sollte experimentiert werden. Das Gegenteil von RZB muss ja nicht der Einsame-Wolf-Lifestyle sein. Man könnte das Ganze auch auf die Formel RXB bringen – wobei X eine beliebige Anzahl an temporären Partnern markiert. Da freut sich Mutti, weil man endlich mal jemand Nettes mit nach Hause bringt – und nach Kaffee und Kuchen macht wieder jeder, was er will.
Not in my backyard!
Man stelle sich ein Berlin vor, in dem alles in trauter Zweisamkeit vor sich hindümpelt. Eine unerträgliche Selbstzufriedenheit überzöge die Stadt. Händchengehalte allüberall. Keiner bewegt sich, jedenfalls nicht mehr, als er muss. Warum auch? Da draußen wäre nichts, was es zu entdecken gäbe. Berlin, ein Anti-Abenteuer. Familie und Hund sind die Fußfesseln der Bourgeoisie, RZB und Kinderwunsch die Daumenschrauben der GKVs. Im Grunde sollten da Warnhinweise draufkleben: „Monogamie kann zu Klinkerbutzen in Großburgwedel führen“. Und wer will ein Großburgwedel in Kreuzkölln?
Liebe GKVs, bleibt doch gleich in der Provinz. Dort könnt ihr es euch zwischen Kreissparkasse, Dorfkirche und Lieblingsfahrradweg gemütlich machen. Wenn ihr unbedingt Ringe tauschen, Kinder zeugen und Häuschen bauen wollt, bitte. But not in my backyard! Langweilig sein könnt ihr auch in Rott am Inn. Oder auf Sylt. Das Leben in Berlin wartet nicht auf euch und eure Gartenzwerg-Träume. Hört auf, mit eurem Familien-Van unsere Ferraris zuzuparken. An alle anderen, also die, die noch was vorhaben im Leben: Wir sehen uns auf Tinder!
Dieser Text erschien zunächst als Rant in unserer gedruckten Samstagsbeilage Mehr Berlin.