Islamismus-Experte über Antisemitismus in Berlin: "Wir sprechen viel zu wenig über politische Themen"
An Schulen fallen oft antisemitische Sprüche. Islamexperte Ahmad Mansour spricht im Interview über Ursachen und Lösungen. Er fordert neue pädagogische Konzepte und offene Debatten im Klassenraum.
Herr Mansour, eine Berliner Lehrerin hatte am Sonnabend in einem Brandbrief im Tagesspiegel beklagt, dass sie als Jüdin immer wieder antisemitisch beschimpft werde – und zwar von ihren arabischen Schülern. Überrascht Sie diese Aussage?
Nein, das überrascht mich überhaupt nicht. Es macht mich traurig. Ich bin fast täglich mit Lehrern konfrontiert, die Ähnliches berichten. Viele Lehrer, die versuchen, das Thema Antisemitismus zu bearbeiten, sind überfordert. Aber die Schüler treibt das um. Wissen Sie noch, als Angela Merkel vor Kurzem eine Neuköllner Schule besuchte?
Ja. Die Kanzlerin wollte mit den Schülern über Europa reden.
Aber die Schüler wollten nicht! Sie wollten über ihre eigenen Rassismus-Erfahrungen sprechen und darüber, warum Deutschland Waffen an Israel verkauft. Der Nahostkonflikt beschäftigt diese Jugendlichen sehr, aber sie kennen das Thema nur sehr eindimensional – und dann schlägt es schnell in Antisemitismus um.
Woher kommt dieser Antisemitismus?
Das liegt zum einen am Nahostkonflikt. Zum anderen sind Verschwörungstheorien unter Jugendlichen sehr präsent. Da heißt es schnell, die Juden stecken hinter allem. Der Antisemitismus ist aber auch religiös motiviert. Die Jugendlichen beziehen sich auf einige Stellen im Koran, herausgerissen aus dem historischen und lokalen Kontext, und verallgemeinern das.
Was können die Schulen dagegen tun?
Wir sprechen viel zu wenig über politische Themen wie den Nahostkonflikt. Aber wenn wir es nicht tun, dann tun es die Radikalen. Wir haben es mit Jugendlichen zu tun, die oftmals durch ihre Eltern, die Flucht und Krieg erlebt haben, traumatisiert sind. Auch die Propaganda-Bilder von radikalen Fernsehsendern oder im Internet, denen die Kinder oft ausgesetzt sind, können eine verstörende Wirkung haben.
Was schlagen Sie konkret vor?
Zunächst einmal muss es Räume geben, in denen die Schüler sich äußern können, ohne dass gleich die Polizei geholt wird. Es ist wichtig, dass sie über ihre Ansichten reden. Natürlich sollen Lehrer antisemitische Äußerungen nicht bestätigen, sondern dagegenhalten. Aber sie müssen es erst einmal aushalten, sich das anzuhören.
Und dann beginnt die Arbeit. Dann geht es darum, die Jugendlichen mit anderen Perspektiven bekannt zu machen, sie zu verunsichern, Wissen zu vermitteln. Biografie-Arbeit ist wichtig: dass die Schüler erzählen, was sie und ihre Eltern erlebt haben. Die Pädagogen müssen gut ausgebildet werden, um mit solchen Themen umzugehen. Und es müssen neue pädagogische Konzepte entwickelt werden, um die Jugendlichen zu erreichen.
Es gibt ja schon sehr viele Angebote und Projekte gegen Antisemitismus.
Ja, da sind auch gute Sachen dabei. Manche bringen aber auch gar nichts. Wenn ein Jude und ein Palästinenser in eine Klasse gehen und erzählen, wie gut sie sich verstehen, erreicht das die Schüler nicht. Wir brauchen flächendeckende Angebote und eine Verankerung im Lehrplan. Wir müssen diesen Schülern kritisches Denken beibringen.
Die Verfasserin des Brandbriefes macht aber auch den Deutschen Vorwürfe: Ob Juden beschimpft würden, sei ihnen egal. Als sie sich an ihren Direktor mit der Bitte um Hilfe wandte, habe dieser gesagt, dass sie zu empfindlich sei.
Natürlich gibt es auch in der Mehrheitsgesellschaft Antisemitismus. Es gibt auch Lehrer, die selbst Antisemiten sind und die Jugendliche in ihrer Haltung bestätigen. Und dann gibt es ja auch solche, die die muslimischen Schüler ausgrenzen. Wie jetzt in der Debatte, ob muslimische Schüler KZ-Gedenkstätten besuchen sollen.
Da wurde ja gar nicht begriffen, worum es geht! Diese Jugendlichen sind ein Teil dieser Gesellschaft. Wir reden hier von deutschen Zuständen. Von deutschen Jugendlichen, egal ob mit oder ohne Migrationshintergrund.
Ahmad Mansour, 39, ist Psychologe und Islamismus-Experte. Sein Buch „Generation Allah. Warum wir im Kampf gegen religiösen Extremismus umdenken müssen“ erscheint im Oktober.