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Die Angst im Nacken: Jüdische Lehrer fühlen sich in manchen Berliner Klassen unwohl.
© Sebastian Kahnert/p-a

Antisemitismus in Berlin: „Du Jude!“

Nein, dies ist kein Zitat aus dem „Stürmer“, sondern eine verbreitete Beschimpfung auf Berliner Schulhöfen und Straßen. Unsere Autorin weiß, wovon sie redet: Sie ist Jüdin und Lehrerin in Charlottenburg-Wilmersdorf. Ein Brandbrief.

Ich bin gebürtige Jüdin, Lehrerin an einer Berliner Sekundarschule, ich lebe von Geburt an in diesem Land. Dies ist ein Frontbericht.

Jahrelang war ich die einzige Jüdin: die einzige Jüdin in meinen Seminaren an der Uni, die einzige Jüdin im Referendariat, die einzige Jüdin im Lehrerkollegium. Meist erfuhren die anderen eher durch Zufall, dass ich Jüdin bin. Ab da an glich ich eigentlich immer einem seltsamen Tier im Zoo, von dem Grauen und Faszination ausging. Von selbst habe ich mein Jüdischsein schon seit dem Gymnasium nicht mehr thematisiert. Zu lehrreich war mir der Geschichtsunterricht bei Herrn S., dessen Teil der Abiturvorbereitung darin bestand, uns einzutrichtern, Israel sei unrechtmäßig errichtet worden. Zu lehrreich auch die Kommentare: „Ach, du bist Jüdin? Das sieht man ja gar nicht so“ oder, genau entgegengesetzt: „Du bist Jüdin? Stimmt, das sieht man aber!“

Nun ist ein Wunder geschehen, und an meiner Schule arbeitet eine andere Jüdin. Zwei Juden! An einer Schule! Beide als Lehrer! Wir können unser Glück immer noch nicht fassen. In der simplen Tatsache, nicht mehr die Einzigen zu sein, erschöpft sich dann aber auch unser Glück.

Israel oder Judentum im Unterricht lieber aussparen

Für den Hintergrund muss ich kurz meine Schule schildern: extrem hoher Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund, hoher Anteil von Schülern aus sehr bildungsfernen Schichten, unter beiden Kategorien ein sehr hoher Anteil an arabischen Kindern.

Meine Kollegin vergaß eines Tages, dass sie noch ihren Davidsstern um den Hals trug. Fataler Fehler. Seither fallen permanent antijüdische und antiisraelische Sprüche im Unterricht. Auf der Straße wird ihr „Du Jude, verrecke“ hinterhergerufen.

Thema Israel oder Judentum im Ethik- oder Geschichtsunterricht? Besser nicht, da startet gleich eine kleine Intifada im Klassenraum. Da ist einer Christ? „Du Hund!“ Beliebtestes Schimpfwort auf dem Schulhof und im Unterricht? „Du Jude!“ Das ist ja inzwischen an vielen anderen Schulen auch so.

Ich frage mich: Hören nur meine Kollegin und ich das? Wo ist das Empfinden der „Anständigen“ (Zitat Angela Merkel), der anderen Lehrer, die auf die Verfassung der Bundesrepublik geschworen haben, wo das Empfinden der deutschen Schüler? Und was sagte die Schulleitung, der von diesen Vorgängen berichtet wurde? Sie sagte tatsächlich: „Nun seien Sie mal nicht so empfindlich!“

Wo ist hier die "immerwährende Verantwortung"?

Wo soll das Aufbegehren der Bevölkerung gegen Antisemitismus herkommen, wenn nicht einmal Staatsorgane dagegen vorgehen? Wo ist hier die „immerwährende Verantwortung“ (Zitat Angela Merkel)? Und selbst wenn diese Anfeindungen an höherer Stelle gemeldet würden, selbst wenn ein Antisemitismusbeauftragter vor Ort erschiene, selbst dann frage ich: Was würde schon passieren? Die arabischen Jugendlichen jedenfalls würden sich kringelig lachen.

Den Deutschen, das ist mein Eindruck nach einem 35-jährigen Leben in Deutschland, sind Juden egal. Hauptsache, wir erinnern sie nicht an diese schlimme Sache damals. Hauptsache, wir sind schön unsichtbar. Hassen, nein, hassen tun sie uns nicht. Das übernehmen in diesem Land und in Europa die Araber, oder jedenfalls eine bedrohliche Vielzahl von ihnen. Und das deutsche Volk schaut zu. Jüdische Schüler gibt es an meiner Schule schon lange nicht mehr. Die waren dann offenbar doch zu „empfindlich“.

In einer Stadt und einem Land, wo ich mich nicht mehr traue, meinen Schülern die israelischen Vornamen meiner Kinder zu verraten, in einem Land und einer EU, wo ich mich nicht mehr trauen kann, meinen Davidsstern sichtbar zu tragen, wo Juden auf offener Straße und vor der eigenen Haustür krankenhausreif geschlagen werden, warte ich eigentlich nur noch auf grölende Horden. Wie damals.

Brandbrief an Merkel und Graumann blieb unbeantwortet

Grundlage dieses Textes – den ich aus nachvollziehbaren Gründen nicht unter meinem echten Namen veröffentliche – ist übrigens ein Brandbrief, den ich im November 2014 an Bundeskanzlerin Angela Merkel, den Vorsitzenden des Zentralrats der Juden, Dieter Graumann, sowie mehrere Zeitungen schickte. Ich habe nie eine Reaktion erhalten.

Aber ach, was rege ich mich auf – ich Jude!

Dieser Text erschien zunächst als Rant in unserer gedruckten Samstagsbeilage Mehr Berlin. Lesen Sie hier ein Interview mit dem Islamexperten Ahmad Mansour zum Thema Antisemitismus im Klassenzimmer.

Hannah Kushnir

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